Ijoma Mangold führt ein politisches Tagebuch und notiert darin die Ereignisse unserer Gegenwart. Er beschreibt, was er auf der Weihnachtsfeier der «Zeit» und am Rande der Berlinale erlebt, dass sein Sportlehrer sich nie angeschnallt hat und warum Greta ihn triggert. Im Januar erklärt Helena, eine russlanddeutsche Bekannte, ihm ihren Feminismus, im Februar denkt er über das Wahlergebnis in Hamburg nach, im März stellt er fest, dass der «Decamerone» bei Dussmann ausverkauft ist. Wegen Corona. Verwundert blickt er auf die, denen einerseits «Tugendterror» oder «Multikulti-Romantik», andererseits «Agism» oder «Faschismus» leicht von den Lippen gehen. Deutlich wird bei seinen Begegnungen, dass die Basis, auf der wir jeden Tag Urteile fällen und Entscheidungen treffen, schmal und schwankend ist. Und doch ist sie alles, was wir haben.
Die alte Eindeutigkeit ist aus der Politik verschwunden. Sie wurde ersetzt durch Reflexe und Schnappatmung, durch Wut und Widersprüchlichkeit. Doch gerade dieses Unreflektierte, die Affekte, der Stammtisch, der permanent nur für uns selbst in uns zu hören ist, ist das, so Mangold, was das Politische im Tiefsten ausmacht. Wie wir zu Meinungen kommen, wie wir es uns gemütlich einrichten mit ihnen und wie wir sie im besten Fall auch mal wieder loswerden - darum geht es in diesem Buch der Selbstbeobachtung. Es ist ein Text der Zeitdiagnostik entstanden, der eine Darstellung des politischen Gegenwartstheaters durch einen aufmerksamen Insider ist und gleichzeitig eine politische Anthropologie.
Die alte Eindeutigkeit ist aus der Politik verschwunden. Sie wurde ersetzt durch Reflexe und Schnappatmung, durch Wut und Widersprüchlichkeit. Doch gerade dieses Unreflektierte, die Affekte, der Stammtisch, der permanent nur für uns selbst in uns zu hören ist, ist das, so Mangold, was das Politische im Tiefsten ausmacht. Wie wir zu Meinungen kommen, wie wir es uns gemütlich einrichten mit ihnen und wie wir sie im besten Fall auch mal wieder loswerden - darum geht es in diesem Buch der Selbstbeobachtung. Es ist ein Text der Zeitdiagnostik entstanden, der eine Darstellung des politischen Gegenwartstheaters durch einen aufmerksamen Insider ist und gleichzeitig eine politische Anthropologie.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2020Abweichung am Stammtisch
Ijoma Mangold zelebriert in einem Tagebuch die Freude des Andersseins
Ijoma Mangold leidet. Aber nur ein bisschen. Der Literaturkritiker der Zeit scheut den Mainstream wie der Teufel das Weihwasser und wie Trump den Anstand. Er will anders sein und anders denken, denn wie sonst lässt sich überhaupt noch intellektuelle Unabhängigkeit manifestieren?
Mangolds Tagebuch ist ein lässiges Zeitdokument, klug und witzig und ein bisschen melancholisch. Den geistigen Rahmen bilden die pietistischen Tagebücher, in denen Frauen und Männer vergangener Zeiten in sich gingen, um ihrer Sünden habhaft zu werden, zur Selbstzerknirschung und zur Hoffnung auf Gnade. Der Autor distanziert sich davon – ironically. Denn er bleibt im Selbstergründungsmodus und geizt nicht mit Sündenbekenntnissen und Reflexionsspiralen.
Und doch: Die Leiden des Ijoma Mangold, sie halten sich in Grenzen. Am meisten ärgern ihn die Selbstgerechten, dieses Überangebot an Empörung und Moral. Mangold ist eben ein moderner Pietist, der eines nicht will: zur Schar der Gerechten zählen. Seine Reflexion führt in den konstanten Selbstzweifel. Heilsgewissheit und andere Wahrheiten gibt es nicht. Ihn nerven die Twitterempörungskaskaden gegen Nuhr, gegen Handke, gegen den Brexit. Mangold fragt sich, woher alle so sicher wissen, dass die anderen schuld seien, sie selbst aber zu den Gerechtfertigten zählen. Besonders eindrücklich sei der Umgang mit der Geschichte. Beim Blick auf die „Vergangenheit sehen wir durchgehend rot, ein riesiger angehäufter Berg von Schuld, für die wir keine Vergebung erteilen. Als hätten wir unser Sündenbewusstsein externalisiert“.
Ijoma Mangold stellt seinen Trotz gegen die ideologischen Must-Haves und gegen den moralischen Lifestyle. Er versucht, eine andere Lebensform dagegenzusetzen: mal ein bisschen Kirchgang, mal eine Vorlesung über den bewunderten Carl Schmitt; Steven Pinkers optimistische Empirie ernst nehmen. Fleisch essen. Seinen Text schmückt Mangold wohlwollend mit Namen, bei denen er mit Sicherheit weiß, dass sie seine Freunde triggern: Ernst Jünger, Botho Strauß, Martin Walser. Es ist eine kindliche Freude am Anders- und Originellsein. Vor allem aber ist da die schöne Helena. Sie steht für diese Gegenwelt und bekennt sich dazu, mächtige Männer zu lieben und sexpositivem Feminismus anzuhängen. Gewiss, der gewitzte Autor muss es ja selber ahnen, wie bedingt originell auch das ist. Und wenn er die Moral einer klugen Publizistin mit dem Geist in einem „Nonnenkloster des 19. Jahrhunderts“ vergleicht, unterläuft ihm selbst einer dieser Plastik-Sätze, die ihn anöden.
Aber schlimm ist das nicht. Menschen sind nun mal aus krummem Holz geschnitzt. Und das meiste ist Mangold sowieso wurscht, behauptet er. Mit seiner Lässigkeit bietet Mangold (neben der besten Interpretation für den Untergang der SPD) eine Theorie der real existierenden Demokratie. Es ist eine Theorie des Stammtischs. In der Politik gehe es nicht um Wahrheit und Purifizierung, sondern ums Diskutieren und um Intuition; um kluge Verfahren und stabile Institutionen, die für Fairness, geordneten Machtwechsel und ein bisschen Gerechtigkeit sorgen. Mit Erstaunen stellt der Autor fest, wie sehr er und seine Mitmenschen ihr politisches Urteil vor allem durch Gefühle treffen. In der demokratischen Politik soll halt jeder mitreden können und nicht ganz zu unrecht im Glauben leben, eine gewisse Bedeutung zu haben. Nicht mit moralischen Gesängen lassen sich Probleme lösen. Besser ist es, Kompromisse zu machen und die CO2-Preise zu erhöhen, als eine weitere Ideologie auszurufen. Überhaupt: Beständig die Apokalypse anzukündigen – muss das sein? Schon rein ästhetisch missfällt das dem Autor.
Doch wenn Ijoma Mangold aus einem düsteren Traum erwacht, in dem Gericht über ihn gehalten wird, weil er politisch so wenig korrekt sei – dann liegt der Verdacht nahe, dass es sich weniger um einen Alb als vielmehr um einen Wunschtraum handelt: tatsächlich Aufsehen zu erregen und das Denken anzuregen, ohne dumme Provokationen und ohne sich mit Nazi-Demagogen gemein zu machen. Das Gemeinmachen übrigens würde Mangold niemals passieren, dafür ist er viel zu lässig, aber eben auch schlicht zu moralisch. Denn in den letzten aller Reflexionskurven gehört Mangold zur politisch korrekten Crowd, die er in seinem Buch genervt, aber doch nicht ohne Sympathie beschreibt. Und mit Corona, das am Ende des Tagebuchs in die Realität tritt, wird er nach den obligatorischen Tagen des Zweifels und des Spottes ein Drosten-Fan. Mehr soziale Inklusion geht nicht.
Mangold, der liberale Geist, ist ein Zeuge der Merkel-Ära, in der es den Menschen so gut ging wie nie, in der nach allen Umfragen eine so große Mehrheit wie nie höchst zufrieden mit ihrem Leben und mit der Regierung ist. Und über alles, was falsch läuft, ist sich die Welt ohnehin einig: Erschütterung über Trump, die notwendige Beschränkung der Umweltzerstörung, das Entsetzen über rechten Terror. Im Grunde also: Konsens. Doch zugleich muss ein Intellektueller ja auch irgendwie denken – möglichst: querdenken. Der Kirchgang als ultimativer Akt des intellektuellen Widerstands? Das ist die Krux in diesen pazifizierten Wohlstandszeiten. Man kann auch anfangen zu vibrieren, die Abgründe der westlichen Gesellschaften anklagen, die Verblendung der Menschen behaupten: denn eigentlich versänken sie in Not und Elend. Dies Irae, Ihr Kapitalisten! Oder man wird, wie Ijoma Mangold, melancholisch, wurschtelt weiter, spottet laut und stichelt leise; und schreibt einen Besteller über die Ödnis (und herbe Schönheit) der Konsens-Gesellschaft.
HEDWIG RICHTER
Ijoma Mangold:
Der innere Stammtisch.
Ein politisches Tagebuch. Rowohlt Verlag,
Hamburg 2020.
272 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ijoma Mangold zelebriert in einem Tagebuch die Freude des Andersseins
Ijoma Mangold leidet. Aber nur ein bisschen. Der Literaturkritiker der Zeit scheut den Mainstream wie der Teufel das Weihwasser und wie Trump den Anstand. Er will anders sein und anders denken, denn wie sonst lässt sich überhaupt noch intellektuelle Unabhängigkeit manifestieren?
Mangolds Tagebuch ist ein lässiges Zeitdokument, klug und witzig und ein bisschen melancholisch. Den geistigen Rahmen bilden die pietistischen Tagebücher, in denen Frauen und Männer vergangener Zeiten in sich gingen, um ihrer Sünden habhaft zu werden, zur Selbstzerknirschung und zur Hoffnung auf Gnade. Der Autor distanziert sich davon – ironically. Denn er bleibt im Selbstergründungsmodus und geizt nicht mit Sündenbekenntnissen und Reflexionsspiralen.
Und doch: Die Leiden des Ijoma Mangold, sie halten sich in Grenzen. Am meisten ärgern ihn die Selbstgerechten, dieses Überangebot an Empörung und Moral. Mangold ist eben ein moderner Pietist, der eines nicht will: zur Schar der Gerechten zählen. Seine Reflexion führt in den konstanten Selbstzweifel. Heilsgewissheit und andere Wahrheiten gibt es nicht. Ihn nerven die Twitterempörungskaskaden gegen Nuhr, gegen Handke, gegen den Brexit. Mangold fragt sich, woher alle so sicher wissen, dass die anderen schuld seien, sie selbst aber zu den Gerechtfertigten zählen. Besonders eindrücklich sei der Umgang mit der Geschichte. Beim Blick auf die „Vergangenheit sehen wir durchgehend rot, ein riesiger angehäufter Berg von Schuld, für die wir keine Vergebung erteilen. Als hätten wir unser Sündenbewusstsein externalisiert“.
Ijoma Mangold stellt seinen Trotz gegen die ideologischen Must-Haves und gegen den moralischen Lifestyle. Er versucht, eine andere Lebensform dagegenzusetzen: mal ein bisschen Kirchgang, mal eine Vorlesung über den bewunderten Carl Schmitt; Steven Pinkers optimistische Empirie ernst nehmen. Fleisch essen. Seinen Text schmückt Mangold wohlwollend mit Namen, bei denen er mit Sicherheit weiß, dass sie seine Freunde triggern: Ernst Jünger, Botho Strauß, Martin Walser. Es ist eine kindliche Freude am Anders- und Originellsein. Vor allem aber ist da die schöne Helena. Sie steht für diese Gegenwelt und bekennt sich dazu, mächtige Männer zu lieben und sexpositivem Feminismus anzuhängen. Gewiss, der gewitzte Autor muss es ja selber ahnen, wie bedingt originell auch das ist. Und wenn er die Moral einer klugen Publizistin mit dem Geist in einem „Nonnenkloster des 19. Jahrhunderts“ vergleicht, unterläuft ihm selbst einer dieser Plastik-Sätze, die ihn anöden.
Aber schlimm ist das nicht. Menschen sind nun mal aus krummem Holz geschnitzt. Und das meiste ist Mangold sowieso wurscht, behauptet er. Mit seiner Lässigkeit bietet Mangold (neben der besten Interpretation für den Untergang der SPD) eine Theorie der real existierenden Demokratie. Es ist eine Theorie des Stammtischs. In der Politik gehe es nicht um Wahrheit und Purifizierung, sondern ums Diskutieren und um Intuition; um kluge Verfahren und stabile Institutionen, die für Fairness, geordneten Machtwechsel und ein bisschen Gerechtigkeit sorgen. Mit Erstaunen stellt der Autor fest, wie sehr er und seine Mitmenschen ihr politisches Urteil vor allem durch Gefühle treffen. In der demokratischen Politik soll halt jeder mitreden können und nicht ganz zu unrecht im Glauben leben, eine gewisse Bedeutung zu haben. Nicht mit moralischen Gesängen lassen sich Probleme lösen. Besser ist es, Kompromisse zu machen und die CO2-Preise zu erhöhen, als eine weitere Ideologie auszurufen. Überhaupt: Beständig die Apokalypse anzukündigen – muss das sein? Schon rein ästhetisch missfällt das dem Autor.
Doch wenn Ijoma Mangold aus einem düsteren Traum erwacht, in dem Gericht über ihn gehalten wird, weil er politisch so wenig korrekt sei – dann liegt der Verdacht nahe, dass es sich weniger um einen Alb als vielmehr um einen Wunschtraum handelt: tatsächlich Aufsehen zu erregen und das Denken anzuregen, ohne dumme Provokationen und ohne sich mit Nazi-Demagogen gemein zu machen. Das Gemeinmachen übrigens würde Mangold niemals passieren, dafür ist er viel zu lässig, aber eben auch schlicht zu moralisch. Denn in den letzten aller Reflexionskurven gehört Mangold zur politisch korrekten Crowd, die er in seinem Buch genervt, aber doch nicht ohne Sympathie beschreibt. Und mit Corona, das am Ende des Tagebuchs in die Realität tritt, wird er nach den obligatorischen Tagen des Zweifels und des Spottes ein Drosten-Fan. Mehr soziale Inklusion geht nicht.
Mangold, der liberale Geist, ist ein Zeuge der Merkel-Ära, in der es den Menschen so gut ging wie nie, in der nach allen Umfragen eine so große Mehrheit wie nie höchst zufrieden mit ihrem Leben und mit der Regierung ist. Und über alles, was falsch läuft, ist sich die Welt ohnehin einig: Erschütterung über Trump, die notwendige Beschränkung der Umweltzerstörung, das Entsetzen über rechten Terror. Im Grunde also: Konsens. Doch zugleich muss ein Intellektueller ja auch irgendwie denken – möglichst: querdenken. Der Kirchgang als ultimativer Akt des intellektuellen Widerstands? Das ist die Krux in diesen pazifizierten Wohlstandszeiten. Man kann auch anfangen zu vibrieren, die Abgründe der westlichen Gesellschaften anklagen, die Verblendung der Menschen behaupten: denn eigentlich versänken sie in Not und Elend. Dies Irae, Ihr Kapitalisten! Oder man wird, wie Ijoma Mangold, melancholisch, wurschtelt weiter, spottet laut und stichelt leise; und schreibt einen Besteller über die Ödnis (und herbe Schönheit) der Konsens-Gesellschaft.
HEDWIG RICHTER
Ijoma Mangold:
Der innere Stammtisch.
Ein politisches Tagebuch. Rowohlt Verlag,
Hamburg 2020.
272 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Tom Wohlfahrt hat gern gelesen, wie Ijoma Mangold seine eigenen affektiven Reaktionen auf das Zeitgeschehen analysiert. Der Kritiker hält das Resultat für erfrischend konsequent darin, alles und vor allem sich selbst infrage zu stellen, und lobt seine Treffsicherheit. Genossen hat er außerdem, dass Mangold "seiner linksliberalen Blase liebevoll und selbstironisch den Zerrspiegel vorhält und sie zur Ambiguitätstoleranz ermuntert", wie Wohlfahrt meint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"stets wird man aufs Anregendste und Unterhaltsamste gedanklich herausgefordert" Tom Wohlfarth taz 20201017