Es ist 'das Jahr neunzehn des zwanzigsten Jahrhunderts', kurz nach der Revolution. Ein Landschloss in einem russischen Provinzstädtchen, dessen erster Stock zu einem 'Museum des Gutslebens' umfunktioniert wurde. Bevölkert wird das Schloss von sonderlichen Gestalten, die sich dort eingerichtet haben. Machtbesessene Emporkömmlinge, die die Gunst der Stunde nutzen, überlebensschlaue Bauern, eine betagte Kinderfrau, nun Hüterin zweier übriggebliebener Pfauen, und ein Gärtner, der unverdrossen den Garten bestellt, aus dem längst alle Bäume verschwunden sind. In dieser Gesellschaft soll der Dorfschullehrer Alpatow das Licht der Bildung verbreiten - eine aussichtslos erscheinende Aufgabe inmitten von Hunger, Bürgerkrieg und Aberglauben.Michail Prischwin galt Zeit seines Lebens, ja bis zu Perestrojka und Mauerfall als ein apolitischer Autor, der als 'Sänger der russischen Natur' (Paustowski) Bekanntheit erlangte. Prischwin führte allerdings auch jahrzehntelang ein von jeder äußeren und inneren Zensur freigehaltenes, gesellschaftlichmentale Verschiebungen minutiös festhaltendes Tagebuch, von dem nicht einmal seine Frau wusste. Und er schrieb in den Anfangsjahren seines literarischen Schaffens politisch gefärbte Texte wie 'Der Irdische Kelch', die zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht werden konnten. Die vielstimmige Erzählung mit ihrem Mischcharakter von Groteske und Legende ist der erste längere künstlerische Text, den Prischwin nach der Oktoberrevolution verfasst hat. Darin führt er eindrucksvoll sein ganzes Können vor: treffend gezeichnetes Personal und formale Kunstfertigkeit, stilistischer Reichtum und erzählerische Fülle.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Sabine Berking berichtet von der Liebe der Russen für Michail Prischwin und seine einfühlsamen Landschaftsbeschreibungen. Ihr selbst gefällt der Autor wegen seiner ethnografischen Genauigkeit bei der Schilderung des Bauernalltags. Eine Entdeckung, meint sie, ist der Autor allemal bei uns. Seinem Roman aus dem Jahr 1922 attestiert Berking anhaltende politische wie philosophische Sprengkraft, bitter, desillusioniert und sarkastisch, wie der Held des Buches, ein Alter Ego Prischwins, auf die verdorrten Früchte der Revolution blickt. Die Übersetzung und die Anhang zu findenden Informationen zu Autor und Werk machen den Band für sie zur Kostbarkeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.04.2016Unglücksjahr-Glücksbücher
Gibt es ein närrischeres Land als Russland? Zwei großartige Wiederentdeckungen von Michail Prischwin und Lydia Tschukowskaja
Trotzki hängt schief am Nagel, aus den Treppen sprießen Schimmelpilze, Schmeißfliegen überall. 1919 hatte das Empireschloss in der russischen Provinz wahrlich bessere Zeiten gesehen, und den Menschen ging es nicht anders. Mit den Jahren scheint es wie mit den Ehen, um die glücklichen muss man sich nicht kümmern, und die unglücklichen sind unglücklich jedes auf seine Weise. Unglücksjahre gehören zur traurigen Konstante in der russischen Geschichte, wovon zwei wiederentdeckte Bücher zeugen.
Gibt es ein närrischeres Land als Russland? Kaum, antwortet der Dorfschullehrer Alpatow, den die neuen Machthaber dazu verdonnert haben, das Schloss in ein "Museum des Gutslebens" umzuwandeln. Nur ist von diesem Leben kaum etwas übrig. Das Inventar von einstigen Knechten und neuen Machthabern schadlos geplündert, die Räume für diverse Ispol-, Raj- oder sonstige "Koms" - Komitees der wuchernden kommunistischen Bürokratie - zweckentfremdet und der angeheuerte Kurator hirnlosen Apparatschiks und besoffenen Muschiks ausgeliefert. Das Bauernvolk will Französisch lernen wie die einstigen Herren und beherrscht doch die Muttersprache nicht richtig. Alpatow versucht sein Bestes, schon um mit dem Speck der Schüler zu überleben, denn ein Gehalt zahlt ihm der neue Staat nicht. Der Russe, jener Iwan Petrowitsch, aus unzähligen Völkerwanderungen hervorgegangen, ist irgendwie immer zur falschen Zeit am falschen, ewig kalten Ort, ein sich in den Schneestürmen Skythiens verlierender Hellene.
Als Sohn eines Kaufmanns 1873 in der Gegend von Orjol geboren, war der auch in Jena und Leipzig ausgebildete Agronom Michail Prischwin zeitlebens ein mit ethnographischer Genauigkeit ausgestatteter Beobachter des Bauernalltags. Die Russen lieben ihn vor allem als einfühlsamen, wortgewaltigen Landschaftsimpressionisten. In den achtziger Jahren wurden seine Erzählungen sowie sein autobiographischer Roman "Die Kette des Kastschej" auf Deutsch herausgebracht, dennoch dürfte der Autor für die meisten hierzulande eine Entdeckung sein.
Seine im Guggolz Verlag erschienene Gogoliade "Der irdische Kelch" aus dem Jahr 1922 besitzt bis heute politische und philosophische Sprengkraft. In Russland konnte sie erst 2004 unzensiert gedruckt werden, allzu bitter, desillusioniert und sarkastisch blickt ihr Held Alpatow, ein Alter Ego des 1954 verstorbenen Autors, auf die fragwürdigen Errungenschaften der bolschewistischen Revolution und die leere Hülle einer proklamierten Solidarität zwischen Intelligenz und Volk. Für die listigen Bauern sind die "Anti-Intelligenzler", die intellektuellen Revolutionäre, an allem Übel schuld. Klammheimlich versorgen die Muschiks den in den Wald geflohenen Baron mit Nahrung, während die halbgebildeten Parteikader aus den Bauern die letzte Kopeke herauspressen und sie, falls sie ihre "Kontribution", die Zwangsabgabe, nicht zahlen, in einem Verschlag elend erfrieren lassen. Übersetzung und Nachworte zur Entstehungsgeschichte und dem Leben des Autors machen den bibliophil gestalteten Band zu einer kleinen Kostbarkeit.
Ein regelrechter Schauder überkommt einen bei der Lektüre des im Züricher Dörlemann Verlag erschienenen Romans "Untertauchen" von Lydia Tschukowskaja, zeigt er doch, wie sich die Krebsgeschwüre des Opportunismus und perfider Verleumdungskampagnen immer wieder im russischen Leben festsetzen. Wie Prischwin, so verarbeitete auch die 1907 als Tochter des bekannten Kinderbuchautors Kornej Tschukowski geborene Schriftstellerin im Roman das eigene Schicksal. Ihr zweiter Mann, der Physiker Matwej Bronstein, wurde im Jahr des Großen Terrors verhaftet und kurze Zeit später erschossen. Tschukowskaja selbst konnte der Verhaftung nur durch einen Zufall entkommen. Unerschrocken setzte sie sich später für Anna Achmatowa, Daniil Charms und schließlich auch für Alexander Solschenizyn ein. Anfang der siebziger Jahre erschien "Untertauchen" in England, was prompt zum Ausschluss aus dem sowjetischen Schriftstellerverband und damit zu einem faktischen Berufsverbot führte.
Im Roman schickt Lydia Tschukowskaja ihr Alter Ego Nina Sergejewna im Jahr 1949 auf eine Art bildungsbürgerlichen Zauberberg stalinistischer Prägung, ein Sanatorium ebenjenes Schriftstellerverbandes. Hier hofft die Heldin fern der Enge einer Kommunalwohnung mit den ewig lauernden, keifenden Nachbarn auf Ruhe zum Schreiben und taucht zugleich ein in schmerzhaftes Erinnern. Nie wieder hat sie von ihrem 1937 verschleppten Ehemann gehört, der angeblich zu zehn Jahren Lager ohne Recht auf Briefverkehr verurteilt worden ist. Sie erinnert sich an das elende, demütigende Warten vor den Gefängnistoren, zusammen mit Hunderten von Frauen, von denen eine ihr totes Kind im Arm hielt, nur um den Platz in der Schlange nicht zu verlieren.
In ihrem Tischnachbarn Bilibin findet Nina einen klugen, charmanten Gesprächspartner, der selbst in einem Arbeitslager war, und hofft, von ihm etwas über ihren Mann zu erfahren. Was sie erfährt, erschüttert: Das Urteil von 1937 war eine infame Umschreibung für sofortigen Tod durch Erschießen. Fast noch schwerer als diese Gewissheit wiegt ein Blick in Bilibins neuestes Manuskript. Während sie selbst an ihrer Geschichte des "Untertauchens" arbeitet, ist der Roman des einstigen Gulag-Häftlings billigste Anbiederung an die stalinistische Kulturpolitik.
Die mutige, aufrechte Stimme von Nina hat die 2010 verstorbene Swetlana Geier in ein klares, elegantes Deutsch gebracht. Als Zeitzeugnis ist dem Roman die Rede von Lydia Tschukowskaja anlässlich ihres Ausschlusses aus dem Schriftstellerverband beigefügt. Darin sagte sie 1974, dass in Russland nicht nur ausgeschlossene, sondern sogar inhaftierte Autoren Bücher geschrieben haben - und immer schreiben werden. Auch das gehört zu den traurigen Konstanten der russischen Geschichte.
SABINE BERKING
Michail Prischwin:
"Der irdische Kelch".
Aus dem Russischen von Eveline Passet. Mit Nachworten von Eveline Passet und Ilma Rakusa. Guggolz Verlag, Berlin 2015. 171 S., geb., 20,- [Euro].
Lydia Tschukowskaja:
"Untertauchen". Roman.
Aus dem Russischen von von Swetlana Geier. Mit einem Nachwort von Hans Jürgen Balmes. Dörlemann Verlag, Zürich 2015. 256 S., geb., 18,90 [Euro].
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Gibt es ein närrischeres Land als Russland? Zwei großartige Wiederentdeckungen von Michail Prischwin und Lydia Tschukowskaja
Trotzki hängt schief am Nagel, aus den Treppen sprießen Schimmelpilze, Schmeißfliegen überall. 1919 hatte das Empireschloss in der russischen Provinz wahrlich bessere Zeiten gesehen, und den Menschen ging es nicht anders. Mit den Jahren scheint es wie mit den Ehen, um die glücklichen muss man sich nicht kümmern, und die unglücklichen sind unglücklich jedes auf seine Weise. Unglücksjahre gehören zur traurigen Konstante in der russischen Geschichte, wovon zwei wiederentdeckte Bücher zeugen.
Gibt es ein närrischeres Land als Russland? Kaum, antwortet der Dorfschullehrer Alpatow, den die neuen Machthaber dazu verdonnert haben, das Schloss in ein "Museum des Gutslebens" umzuwandeln. Nur ist von diesem Leben kaum etwas übrig. Das Inventar von einstigen Knechten und neuen Machthabern schadlos geplündert, die Räume für diverse Ispol-, Raj- oder sonstige "Koms" - Komitees der wuchernden kommunistischen Bürokratie - zweckentfremdet und der angeheuerte Kurator hirnlosen Apparatschiks und besoffenen Muschiks ausgeliefert. Das Bauernvolk will Französisch lernen wie die einstigen Herren und beherrscht doch die Muttersprache nicht richtig. Alpatow versucht sein Bestes, schon um mit dem Speck der Schüler zu überleben, denn ein Gehalt zahlt ihm der neue Staat nicht. Der Russe, jener Iwan Petrowitsch, aus unzähligen Völkerwanderungen hervorgegangen, ist irgendwie immer zur falschen Zeit am falschen, ewig kalten Ort, ein sich in den Schneestürmen Skythiens verlierender Hellene.
Als Sohn eines Kaufmanns 1873 in der Gegend von Orjol geboren, war der auch in Jena und Leipzig ausgebildete Agronom Michail Prischwin zeitlebens ein mit ethnographischer Genauigkeit ausgestatteter Beobachter des Bauernalltags. Die Russen lieben ihn vor allem als einfühlsamen, wortgewaltigen Landschaftsimpressionisten. In den achtziger Jahren wurden seine Erzählungen sowie sein autobiographischer Roman "Die Kette des Kastschej" auf Deutsch herausgebracht, dennoch dürfte der Autor für die meisten hierzulande eine Entdeckung sein.
Seine im Guggolz Verlag erschienene Gogoliade "Der irdische Kelch" aus dem Jahr 1922 besitzt bis heute politische und philosophische Sprengkraft. In Russland konnte sie erst 2004 unzensiert gedruckt werden, allzu bitter, desillusioniert und sarkastisch blickt ihr Held Alpatow, ein Alter Ego des 1954 verstorbenen Autors, auf die fragwürdigen Errungenschaften der bolschewistischen Revolution und die leere Hülle einer proklamierten Solidarität zwischen Intelligenz und Volk. Für die listigen Bauern sind die "Anti-Intelligenzler", die intellektuellen Revolutionäre, an allem Übel schuld. Klammheimlich versorgen die Muschiks den in den Wald geflohenen Baron mit Nahrung, während die halbgebildeten Parteikader aus den Bauern die letzte Kopeke herauspressen und sie, falls sie ihre "Kontribution", die Zwangsabgabe, nicht zahlen, in einem Verschlag elend erfrieren lassen. Übersetzung und Nachworte zur Entstehungsgeschichte und dem Leben des Autors machen den bibliophil gestalteten Band zu einer kleinen Kostbarkeit.
Ein regelrechter Schauder überkommt einen bei der Lektüre des im Züricher Dörlemann Verlag erschienenen Romans "Untertauchen" von Lydia Tschukowskaja, zeigt er doch, wie sich die Krebsgeschwüre des Opportunismus und perfider Verleumdungskampagnen immer wieder im russischen Leben festsetzen. Wie Prischwin, so verarbeitete auch die 1907 als Tochter des bekannten Kinderbuchautors Kornej Tschukowski geborene Schriftstellerin im Roman das eigene Schicksal. Ihr zweiter Mann, der Physiker Matwej Bronstein, wurde im Jahr des Großen Terrors verhaftet und kurze Zeit später erschossen. Tschukowskaja selbst konnte der Verhaftung nur durch einen Zufall entkommen. Unerschrocken setzte sie sich später für Anna Achmatowa, Daniil Charms und schließlich auch für Alexander Solschenizyn ein. Anfang der siebziger Jahre erschien "Untertauchen" in England, was prompt zum Ausschluss aus dem sowjetischen Schriftstellerverband und damit zu einem faktischen Berufsverbot führte.
Im Roman schickt Lydia Tschukowskaja ihr Alter Ego Nina Sergejewna im Jahr 1949 auf eine Art bildungsbürgerlichen Zauberberg stalinistischer Prägung, ein Sanatorium ebenjenes Schriftstellerverbandes. Hier hofft die Heldin fern der Enge einer Kommunalwohnung mit den ewig lauernden, keifenden Nachbarn auf Ruhe zum Schreiben und taucht zugleich ein in schmerzhaftes Erinnern. Nie wieder hat sie von ihrem 1937 verschleppten Ehemann gehört, der angeblich zu zehn Jahren Lager ohne Recht auf Briefverkehr verurteilt worden ist. Sie erinnert sich an das elende, demütigende Warten vor den Gefängnistoren, zusammen mit Hunderten von Frauen, von denen eine ihr totes Kind im Arm hielt, nur um den Platz in der Schlange nicht zu verlieren.
In ihrem Tischnachbarn Bilibin findet Nina einen klugen, charmanten Gesprächspartner, der selbst in einem Arbeitslager war, und hofft, von ihm etwas über ihren Mann zu erfahren. Was sie erfährt, erschüttert: Das Urteil von 1937 war eine infame Umschreibung für sofortigen Tod durch Erschießen. Fast noch schwerer als diese Gewissheit wiegt ein Blick in Bilibins neuestes Manuskript. Während sie selbst an ihrer Geschichte des "Untertauchens" arbeitet, ist der Roman des einstigen Gulag-Häftlings billigste Anbiederung an die stalinistische Kulturpolitik.
Die mutige, aufrechte Stimme von Nina hat die 2010 verstorbene Swetlana Geier in ein klares, elegantes Deutsch gebracht. Als Zeitzeugnis ist dem Roman die Rede von Lydia Tschukowskaja anlässlich ihres Ausschlusses aus dem Schriftstellerverband beigefügt. Darin sagte sie 1974, dass in Russland nicht nur ausgeschlossene, sondern sogar inhaftierte Autoren Bücher geschrieben haben - und immer schreiben werden. Auch das gehört zu den traurigen Konstanten der russischen Geschichte.
SABINE BERKING
Michail Prischwin:
"Der irdische Kelch".
Aus dem Russischen von Eveline Passet. Mit Nachworten von Eveline Passet und Ilma Rakusa. Guggolz Verlag, Berlin 2015. 171 S., geb., 20,- [Euro].
Lydia Tschukowskaja:
"Untertauchen". Roman.
Aus dem Russischen von von Swetlana Geier. Mit einem Nachwort von Hans Jürgen Balmes. Dörlemann Verlag, Zürich 2015. 256 S., geb., 18,90 [Euro].
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