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Wie weit soll direkte Demokratie gehen? Befürworter und Gegner der direkten Demokratie orientieren sich in Deutschland beide am Modell einer Volksgesetzgebung. Dies blockiert eine zielführende Debatte um die Einführung von Plebisziten auf Bundesebene. Brauchen wir mehr Demokratie? Und falls ja, in welcher Form? In allen Bundesländern sind heute Verfahren einer Volksgesetzgebung vorgesehen. Die Befürworter wollen sie ins Grundgesetz einführen. Doch taugt das Modell, um die Krise der repräsentativen Institutionen zu beheben? Nein, schreibt der Politikwissenschaftler Frank Decker: Im Bund kommen…mehr

Produktbeschreibung
Wie weit soll direkte Demokratie gehen? Befürworter und Gegner der direkten Demokratie orientieren sich in Deutschland beide am Modell einer Volksgesetzgebung. Dies blockiert eine zielführende Debatte um die Einführung von Plebisziten auf Bundesebene. Brauchen wir mehr Demokratie? Und falls ja, in welcher Form? In allen Bundesländern sind heute Verfahren einer Volksgesetzgebung vorgesehen. Die Befürworter wollen sie ins Grundgesetz einführen. Doch taugt das Modell, um die Krise der repräsentativen Institutionen zu beheben? Nein, schreibt der Politikwissenschaftler Frank Decker: Im Bund kommen nur solche Formen direkter Demokratie in Frage, die den Vorrang des Bundestags als Gesetzgeber unangetastet lassen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Decker, FrankFrank Decker, geb. 1964, Dr. rer. pol., Dipl.-Pol., Professor für Politische Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2016

„Ich bin dafür, dass wir dagegen sind“
Die Frage, was ein Volk entscheiden darf und soll, ist nicht erst seit dem Brexit brennender denn je.
Für Frank Decker sind Referenden ein Irrweg – hätte er über Deutschland hinausgeblickt, sähe er die Sache vielleicht anders
VON WOLFGANG FREUND
Volksgesetzgebung – über totales Denken zu totaler Aktion? Solcherart scheint Frank Deckers totale Sorge zu sein. Das ehrt ihn und seine gelehrte Fleißarbeit. Wir verdanken dem Politologen der Universität Bonn zutreffende Einsichten in die „Volksgesetzgebungsproblematik“ aus deutsch-bundesrepublikanischer Sicht. Natürlich steht die Plebiszit- oder Referendumsfrage in Deutschland nach wie vor im Schatten dessen, was Weimarer Republik und das aus ihr hervorgegangene „Dritte Reich“ aus der „Volksgesetzgebung“ gemacht hatten: Ebnung der Wege in eine der schlimmsten Diktaturen, die die Menschheit je gekannt hat. Leider greift der Autor kaum über das deutsche Kultur- und Politikfeld hinaus, vom schweizerischen Beispiel, das ebenfalls ständig bemüht wird, abgesehen.
  Und bingo! Da sind wir schon bei Gustave Le Bon (1841–1931), dem französischen Säulenheiligen der Massenpsychologie, dessen „Psychologie des foules“ (1895) in Deckers Literaturverzeichnis nicht erscheint. Und wäre es nur, um an den darin enthaltenen Satz zu erinnern: „Wenig fähig zum Denken sind Massen, aber jederzeit bereit zum Losschlagen.“ Oder um den Problemkreis mit einer schwarz-weiß ausgerichteten rhetorischen Frage aus der eidgenössischen politischen Landschaft einzugrenzen: „Wäär isch d’rfüür, wäär isch d’rgägge? “ (= wer ist dafür, wer ist dagegen?). Bei den Elsässern wiederum hörte sich das, vor allem während der ersten Jahre nach 1945 unter dem Banner der adenauerisch-gaullistischen deutsch-französischen Freundschaft, wie folgt an: „Ich bin dafür, dass wir dagegen sind, und wenn dann allesamt dagegen sind, dann mein Freund, sind wir dafür!“
  Immer geht es um die Beeinflussung von Massen, sie möchten doch bitte in Richtung „hü!“ oder „hott!“ aufjubeln. Es kam natürlich auch vor, dass „Massen“ sich auf ganz besonderer Ebene hatten einspannen lassen, wie damals am 18. Februar 1943, zwei Wochen nach der Stalingrad-Niederlage, als Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast die plebiszitähnliche Frage gestellt hatte: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Die anwesenden Massen wollten ihn, und, man stelle sich vor, sie bekamen ihn sogar!
  Damit ist die Kernproblematik dessen, was Frank Decker im Einzelnen beunruhigt, umrissen. Aber man würde diesem Sozialwissenschaftler großes Unrecht tun, beließe man die Diskussion zum Thema auf der rein polemischen Ebene. Kritikwürdig erscheint indessen auch ein von Decker intensiv gepflegter Wisenschafts-Slang, der Nichtmitgliedern dieses akademischen Klubs da und dort Verstehensprobleme bereiten könnte. Die Dekodierung einiger spontan nicht verständlicher Tabellen mögen dem potentiellen Leser eine nachrichtendienstliche Grundausbildung nahelegen nach dem Motto: „Mein Forschungsbereich ist so geheim, dass ich selbst nicht genau weiß, was ich da erforsche.“
  Immerhin, ein Epizentrum der Plebiszit- oder Referendumsfrage ist angesprochen. Gerade was Anfang Oktober 2016 in Ungarn oder in Kolumbien ablief – ja auch die Brexit-Show – gehört dazu. Das Votum der Massen, auf den „schwarz-weißen“ Punkt gebracht, kann eine auf höherer, mehr oder minder „demokratischer“ Ebene erfolgte „politische“ Entscheidung erschüttern oder gar in sich zusammenfallen lassen. Die Dinge treiben danach in die gute oder schlechte Richtung, je nach Ereignis, pardon: „Event“, wie es heute heißt. Es ist wie beim Roulette, wenn ein Spieler sein ganzes Kapital auf Schwarz oder Rot setzt. Er gewinnt oder verliert alles, unwiderruflich. Die Ausgangslage ist, so „das gesunde Volksempfinden“, fifty-fifty, doch „Spielbankmathematiker“ wissen es besser. Die Bank hat einen strukturellen Vorteil und gewinnt letztlich immer, vergleichbar dem Anstifter eines Referendums.
  Frank Decker zitiert gerne – Frank Decker. Im umfangreichen Literaturverzeichnis findet er sich neunfach wieder. Das ist beachtlich. Sein französischer Kollege, Altersgenosse und spezifischer Fachmann in Sachen Referendum, Yves Sintomer von der Université Paris-VIII, Jünger von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, Spezialgebiet Démocratie participative, von dem auch Einiges zum Thema in deutscher Übersetzung vorliegt, wird von Decker nicht erwähnt. Auch kein anderer Franzose zur Sache, obwohl das Thema „Referendum“ linksrheinisch ein politischer Dauerbrenner ist. Doch den deutsch-französischen wechselseitigen Durchdringungen geht es auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften seit Jahrzehnten schon nicht besonders gut. Das erklärt aber nicht alles; denn Decker und Sintomer stehen sich inhaltlich-konzeptuell diametral gegenüber.
  „Volksgesetzgebung“ ist für Frank Decker eine gefährliche Tendenz, ein „Irrweg“, wie schon der Titel des Buches suggeriert, während diese bei Yves Sintomer in den Werkzeugkasten funktionstüchtiger Demokratien gehört. Ist es vielleicht so, dass die Linksrheinischen damit umgehen können, das heißt avec modération wie beim Weingenuss, während die Rechtsrheinischen „volksgesetzgebend“ eher in den Le Bon’schen Exzess verfallen, um „Aktion“ statt Nachdenken zu rechtfertigen?
  Resümieren wir eidgenössisch: In der Schweiz wurde in einem viel beachteten und diskutierten Referendum am 29. November 2009 entschieden, dass keine neuen Minarette für bestehende oder zu errichtende Moscheen gebaut werden dürfen. Kurz danach erschien eine Karikatur in der linksliberalen israelischen Tageszeitung Haaretz: Jodler A fragt Jodler B (eine Moschee im Vorder-, weidende Kühe und Alpen im Hintergrund): „Darf man bei uns Minarette bauen?“ Darauf B zu A: „Ja, unter der Voraussetzung, dass sie ganz aus Schokolade gemacht sind!“
  Frank Deckers „Irrweg der Volksgesetzgebung“ gehört in jede gut geführte politikwissenschaftliche Bibliothek. Das Buch ist nicht aus Kakao, sondern aus Papier gemacht.
Wolfgang Freund ist deutsch-französischer Sozialwissenschaftler (Schwerpunkt „Mittelmeerkulturen“). Zahlreiche Publikationen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Er lebt heute in Südfrankreich.
Die Reduktion der
Komplexität auf „Ja“ oder „Nein“
kann sehr problematisch sein
Anderswo gehören Referenden
in den Werkzeugkasten
funktionstüchtiger Demokratien
  
  
  
  
Frank Decker:
Der Irrweg der Volksgesetzgebung. Eine Streitschrift. Verlag J. H. W. Dietz Nachf. Bonn 2016. 184 Seiten. 16,90 Euro.
Das Volk als treue Armee: Anhänger von Ukip jubeln auf einer Versammlung ihrem Anführer Nigel Farage zu. Im Juni votierte eine Mehrheit der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union. Dabei wollte Premier David Cameron nur eine Bestätigung für seinen Brüssel-kritischen Kurs.
Foto: OLI SCARFF / AFP
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2017

Bittre Pille Volkes Wille
Frank Decker analysiert die direkte Demokratie

Seit den späten achtziger Jahren steht die direkte Demokratie auf der Tagesordnung der verfassungspolitischen Diskussion in Deutschland. Auf der einen Seite gewann sie an Bedeutung und wurde auf den Kommunal- und Länderebenen häufiger praktiziert. Auf der anderen Seite begegnen Volksentscheidungen wachsender Skepsis, da die Rechtspopulisten in der Gewissheit, besser als die politische Elite den Willen des Volkes zu kennen, lautstark die direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild fordern. Ermutigt werden die Skeptiker durch jene Volksabstimmungen im Nachbarland, die sich gegen Muslime und Ausländer richten.

Die Analyse der direkten Demokratie ist also höchst aktuell und umso dringender, als derzeit durchaus ein Repräsentationsdefizit angesichts der Konsenskultur der etablierten Parteien konstatiert wird. Der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker zieht in seiner "Streitschrift" das Resümee aus seiner jahrelangen Beschäftigung mit der direkten Demokratie. Ein Verdienst liegt in der akribischen Differenzierung der unterschiedlichen Ausprägungen der "Volksrechte", die manchmal allerdings so weit geht, dass sich der Verfasser selbst in der Begrifflichkeit zu verheddern scheint. Demokratietheoretisch werden die plebiszitären Entscheidungsrechte zwischen Konstitutionalismus und Volkssouveränität verortet. Da direktdemokratisch entscheidende Bürger immer auch stellvertretend für andere wie Kinder und zukünftige Generationen abstimmen, unterscheidet Decker nicht zwischen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie, sondern zwischen parlamentarischer und plebiszitärer Repräsentation.

Die zentrale Frage gilt der Verträglichkeit plebiszitärer Beteiligungsformen mit dem parlamentarischen System. Dabei konzentriert sich der Verfasser auf die Volksgesetzgebung, also auf Verfahren, die vom Bürger selbst, nicht von der Regierung oder vom Parlament in Gang gesetzt werden. Die zentrale und überzeugende These des Buches lautet, dass "von unten" ausgelöste Verfahren "mit der gewaltenfusionierenden Funktionslogik der parlamentarischen Demokratie kollidieren". Die Wurzeln der vom Verfasser als Glaubenskrieg etikettierten Volksgesetzgebung werden ideen- und verfassungsgeschichtlich etwas kursorisch bei dem frühsozialistischen Paulskirchen-Abgeordneten Moritz Rittinghaus und beim südwestdeutschen Liberalismus aufgespürt. Informativ ist die Übersicht über die direktdemokratischen Regelungen und Erfahrungen in den Verfassungen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland auf Länderebene.

Die Anpreisung des Buches könnte den Eindruck erwecken, dass der Verfasser überhaupt gegen die direkte Demokratie sei. Doch weit gefehlt! Auch bei einem Verzicht auf die Volksgesetzgebung kann er sich vorstellen, das Grundgesetz um plebiszitäre Verfahren zu ergänzen: etwa durch ein obligatorisches Referendum über Kernfragen der Verfassung, durch ein vom Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit beschlossenes Entscheidungsreferendum oder durch eine Vetoinitiative im Hinblick auf von der Legislative beschlossene Gesetze. Auf Länderebene könnten die Friktionen zwischen Parlamentarismus und Volksgesetzgebung durch die Einführung präsidentieller Regierungssysteme, nach dem Modell der Kommunalverfassungen behoben werden. In ein System der Gewaltentrennung fügten sich nämlich plebiszitäre Initiativen "von unten" besser ein als in das gewaltenfusionierende System des Parlamentarismus. Den Länderparlamenten komme ohnehin im Wesentlichen nur die Kontrolle der Verwaltung zu, die durch das Gegenüber von Regierung und Opposition eher erschwert werde.

Das lesenswerte Buch breitet die zahlreichen Facetten der direkten Demokratie aus, regt zur theoretischen Reflexion, aber auch zur empirischen Forschung an. Die praktischen Vorschläge sind eher im Bereich der wissenschaftlichen Spielerei anzusiedeln.

WOLFGANG JÄGER

Frank Decker: Der Irrweg der Volksgesetzgebung. Eine Streitschrift. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2016. 184 S., 16,90 [Euro].

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