Die Erzählungen schlagen einen Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre: Jahrhundertelang Teil des Osmanischen Reiches, gehörte Bosnien nun zur Föderativen Volksrepublik Jugoslawien.Samokovlija wirft Schlaglichter auf die wechselvollen Machtverhältnisse, denen eines gemeinsam ist: die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden. Anrührend und voller Empathie lässt er die jüdische Enklave Bosniens, die überwiegend aus Sepharden besteht, auferstehen. Die ärmlichen Lebensumstände seiner Figuren beschreibt er höchst realistisch, sein besonderes Interesse gilt jedoch ihrem Denken und Fühlen: Samokovlija schlüpft gleichsam in ihre Haut. Der arme Händler Juso, der schwermütige Schuster Rafael Macoro und die leidenschaftliche Zigeunerin Hanka erscheinen vor dem Leser plastisch wie auf einer Bühne. Mit all ihren Sehnsüchten und kleinen Freuden, die dem mühseligen Alltag abgetrotzt sind. Menschen, die ihre Würde bewahren, sich den beengten Verhältnissen widersetzen, die eines fordern: das "Recht auf Freude im Leben".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2018Geht zu den Partisanen!
Der bosnische Autor Isak Samokovlija ist hierzulande nahezu unbekannt. Jetzt sind seine Erzählungen zu entdecken, die ein halbes Jahrhundert ängstlicher Auflehnung beschreiben.
Das wahre und interessante Leben eines menschlichen Wesens spielt sich im Verborgenen ab, wie unter dem Schleier der Nacht", schrieb Anton Tschechow im Brief an eine Vertraute. Er konnte nicht ahnen, dass 1889 im bosnischen Goradze mit Isak Samokovlija ein Seelenverwandter von ihm geboren würde, der seine Figuren auf genau diese Art betrachtete - eine ideale Erzählweise, um die Welt der scheuen sephardischen Juden Sarajevos einzufangen und zu bewahren.
Der Grandseigneur der bosnischen Literatur, Ivo Andric, hatte als Erster auf diese Ähnlichkeit hingewiesen. Er nannte Samokovlija "unseren Tschechow", zu Recht, denn sie haben vieles gemeinsam: Beide waren Ärzte, beide schrieben über Kleinbürger auf eine anteilnehmende, dabei äußerst objektive Weise, und beide waren hellsichtige Gesellschaftskritiker mit hohem moralischen Anspruch.
Samokovlijas Händler und Heiratsvermittler, die Töchter und Ehefrauen erscheinen in einem präzise umrissenen, emotionalen Geflecht, in dem alle Kräfte deutlich werden, die auf sie einwirken. Fast beiläufig liest der Erzähler in der eigenartigen Haltung der Arme, einem einzigen Aufblitzen der Augen oder Beiseitetreten die geheimen Gedanken und den verdrängten Schmerz eines Menschen - in diesen leicht erzählten, aber äußerst scharfen Analysen kann sich der hierzulande fast Unbekannte aus Sarajevo mit Tschechow messen.
Isak Samokovlija studierte in Wien Medizin und arbeitete fast sein ganzes Leben in Hospitälern in Sarajevo, nur die zehn Jahre zwischen Kriegsende und seinem Tod 1955 widmete er sich ganz dem Schreiben. Er entstammte einer Familie sephardischer Juden, und seine Figuren sind gläubige und gehorsame Mitglieder der sephardischen Gemeinde, wie Dzevad Karahasan in seinem begeisterten Nachwort anmerkt.
Jeder Sabbat ist ein Fest, das ihren kargen Alltag aufbricht und adelt, jeder Gegenstand wird poliert, und "wenn ich aus der Synagoge zurückkehre, wage ich kaum einzutreten", vertraut der Hausierer Juso dem Erzähler an. Er ist die tief melancholische und eindrucksvolle Hauptfigur der Titelgeschichte "Der Jude, der am Sabbat nicht betet." Er tut das nicht etwa aus Ungläubigkeit, sondern ganz im Gegenteil aus allertiefstem Glauben: Die ganze Woche dankt er dem Herrn für alles, was ihm im Leben begegnet, für all den Tand, den er verkauft, für die gute Frau und die schönen Töchter, die so elegant sind, dass er sich, unrasiert und zerlumpt, auf der Straße versteckt, wenn er ihnen begegnet. Aber am Sabbat ruht er sich aus, wie der Herr selbst.
Querköpfiger Eigensinn ist typisch für die bedrückten und in sich gekehrten Figuren dieser berührenden Geschichten. Samokovlijas tiefgläubige Sonderlinge sind dünnhäutiger, leidenschaftlicher und sehnsüchtiger als die anderen Gemeindemitglieder, und damit sind Konflikte programmiert. In einer der schönsten Geschichten wagt es Jahijel, gegen den ehrwürdigen Rabbi aufzubegehren, der sein Leben lenken will - oder kämpft er nur gegen die Dämonen im eigenen Kopf? "Jahijels Aufbegehren" ist ein raffiniert gebautes und rasantes inneres Drama, dessen Stürme nur als Händezittern nach außen dringen. Buchstäblich um Sein oder Nichtsein geht es in Samokovlijas zutiefst menschlichen Geschichten, die der kluge Erzähler den verzweifelt Stammelnden geduldig und hartnäckig entlockt. Und es geht um ein halbes Jahrhundert ängstlicher Auflehnung: die erzählte Zeit reicht vom Bosnischen Aufstand 1875 bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg.
So bescheiden die Wunschträume des Lastenträgers Samuel oder des Fuhrmanns Idriz auch sind, die sich nach einem winzigen Glück sehnen - im entscheidenden Moment wagen sie alles: der bitterarme Samuel schlägt eine erhebliche Mitgift aus, um seine künftige Ehefrau nicht zu kompromittieren, und Idriz entführt seine Liebe aus einem Totenhaus - "Die rote Dahlie" gehört zu den eindringlichsten, traurigsten und hoffnungsvollsten Liebegeschichten, die man seit langem lesen konnte. Voller kleiner Wunder stecken diese Geschichten, deren unscheinbare Details verschwörerisch zu leuchten beginnen - wie die in einem Sonnenstrahl tanzenden Staubpartikel oder ein kühler Wasserstrahl. In solch verklärten Momenten hören Samuel und Jahijel das Rauschen und Klopfen der Zeit, und sie spüren ihre Vergänglichkeit - auch das eine Gemeinsamkeit mit Tscheechow.
Deshalb bittet Davoka den Erzähler, ein Alter Ego des Autors, es solle "von alldem eine Spur bleiben". Er hat sich Notizen über die 1941 erfolgte Deportation einer Nachbarfamilie gemacht, an die er ständig denkt, und der Erzähler schildert präzise und unendlich zart sein offensichtliches Trauma. Davokas Jubel über die jüngste Tochter, die floh, sich den Partisanen anschloss und als Kriegerin starb, kann seine Trauer über die vielen, die sich "gesenkten Kopfes" wegführen ließen, nur schwer übertönen.
"Davokas Geschichte von der reinen Wahrheit" schließt an Jahijels Rebellion an - eine gewagte und wuchtige Verknüpfung: "Wenn er [Jahijel] noch lebte, würde er sicher die Faust ballen, auf den Tisch schlagen und sagen: Was wollt ihr? Ein Jude - gibt es denn für ihn nichts als Verachtung, Hass, Verdammung und Tod?" Es ist bezeichnend für Isak Samokovlijas kritischen Blick, dass an dieser Stelle neben den Faschisten auch die bosnische Vorkriegsgesellschaft und die autoritäre Gemeinde gemeint sind.
NICOLE HENNEBERG
Isak Samokovlija: "Der Jude, der am Sabbat nicht betet".
Hrsg. von Ilija Trojanow. Aus dem Serbokroatischen von Werner Creutzinger, Waltraud und Manfred Jähnichen. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 2018. 320 S., geb., 25,- [Euro].
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Der bosnische Autor Isak Samokovlija ist hierzulande nahezu unbekannt. Jetzt sind seine Erzählungen zu entdecken, die ein halbes Jahrhundert ängstlicher Auflehnung beschreiben.
Das wahre und interessante Leben eines menschlichen Wesens spielt sich im Verborgenen ab, wie unter dem Schleier der Nacht", schrieb Anton Tschechow im Brief an eine Vertraute. Er konnte nicht ahnen, dass 1889 im bosnischen Goradze mit Isak Samokovlija ein Seelenverwandter von ihm geboren würde, der seine Figuren auf genau diese Art betrachtete - eine ideale Erzählweise, um die Welt der scheuen sephardischen Juden Sarajevos einzufangen und zu bewahren.
Der Grandseigneur der bosnischen Literatur, Ivo Andric, hatte als Erster auf diese Ähnlichkeit hingewiesen. Er nannte Samokovlija "unseren Tschechow", zu Recht, denn sie haben vieles gemeinsam: Beide waren Ärzte, beide schrieben über Kleinbürger auf eine anteilnehmende, dabei äußerst objektive Weise, und beide waren hellsichtige Gesellschaftskritiker mit hohem moralischen Anspruch.
Samokovlijas Händler und Heiratsvermittler, die Töchter und Ehefrauen erscheinen in einem präzise umrissenen, emotionalen Geflecht, in dem alle Kräfte deutlich werden, die auf sie einwirken. Fast beiläufig liest der Erzähler in der eigenartigen Haltung der Arme, einem einzigen Aufblitzen der Augen oder Beiseitetreten die geheimen Gedanken und den verdrängten Schmerz eines Menschen - in diesen leicht erzählten, aber äußerst scharfen Analysen kann sich der hierzulande fast Unbekannte aus Sarajevo mit Tschechow messen.
Isak Samokovlija studierte in Wien Medizin und arbeitete fast sein ganzes Leben in Hospitälern in Sarajevo, nur die zehn Jahre zwischen Kriegsende und seinem Tod 1955 widmete er sich ganz dem Schreiben. Er entstammte einer Familie sephardischer Juden, und seine Figuren sind gläubige und gehorsame Mitglieder der sephardischen Gemeinde, wie Dzevad Karahasan in seinem begeisterten Nachwort anmerkt.
Jeder Sabbat ist ein Fest, das ihren kargen Alltag aufbricht und adelt, jeder Gegenstand wird poliert, und "wenn ich aus der Synagoge zurückkehre, wage ich kaum einzutreten", vertraut der Hausierer Juso dem Erzähler an. Er ist die tief melancholische und eindrucksvolle Hauptfigur der Titelgeschichte "Der Jude, der am Sabbat nicht betet." Er tut das nicht etwa aus Ungläubigkeit, sondern ganz im Gegenteil aus allertiefstem Glauben: Die ganze Woche dankt er dem Herrn für alles, was ihm im Leben begegnet, für all den Tand, den er verkauft, für die gute Frau und die schönen Töchter, die so elegant sind, dass er sich, unrasiert und zerlumpt, auf der Straße versteckt, wenn er ihnen begegnet. Aber am Sabbat ruht er sich aus, wie der Herr selbst.
Querköpfiger Eigensinn ist typisch für die bedrückten und in sich gekehrten Figuren dieser berührenden Geschichten. Samokovlijas tiefgläubige Sonderlinge sind dünnhäutiger, leidenschaftlicher und sehnsüchtiger als die anderen Gemeindemitglieder, und damit sind Konflikte programmiert. In einer der schönsten Geschichten wagt es Jahijel, gegen den ehrwürdigen Rabbi aufzubegehren, der sein Leben lenken will - oder kämpft er nur gegen die Dämonen im eigenen Kopf? "Jahijels Aufbegehren" ist ein raffiniert gebautes und rasantes inneres Drama, dessen Stürme nur als Händezittern nach außen dringen. Buchstäblich um Sein oder Nichtsein geht es in Samokovlijas zutiefst menschlichen Geschichten, die der kluge Erzähler den verzweifelt Stammelnden geduldig und hartnäckig entlockt. Und es geht um ein halbes Jahrhundert ängstlicher Auflehnung: die erzählte Zeit reicht vom Bosnischen Aufstand 1875 bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg.
So bescheiden die Wunschträume des Lastenträgers Samuel oder des Fuhrmanns Idriz auch sind, die sich nach einem winzigen Glück sehnen - im entscheidenden Moment wagen sie alles: der bitterarme Samuel schlägt eine erhebliche Mitgift aus, um seine künftige Ehefrau nicht zu kompromittieren, und Idriz entführt seine Liebe aus einem Totenhaus - "Die rote Dahlie" gehört zu den eindringlichsten, traurigsten und hoffnungsvollsten Liebegeschichten, die man seit langem lesen konnte. Voller kleiner Wunder stecken diese Geschichten, deren unscheinbare Details verschwörerisch zu leuchten beginnen - wie die in einem Sonnenstrahl tanzenden Staubpartikel oder ein kühler Wasserstrahl. In solch verklärten Momenten hören Samuel und Jahijel das Rauschen und Klopfen der Zeit, und sie spüren ihre Vergänglichkeit - auch das eine Gemeinsamkeit mit Tscheechow.
Deshalb bittet Davoka den Erzähler, ein Alter Ego des Autors, es solle "von alldem eine Spur bleiben". Er hat sich Notizen über die 1941 erfolgte Deportation einer Nachbarfamilie gemacht, an die er ständig denkt, und der Erzähler schildert präzise und unendlich zart sein offensichtliches Trauma. Davokas Jubel über die jüngste Tochter, die floh, sich den Partisanen anschloss und als Kriegerin starb, kann seine Trauer über die vielen, die sich "gesenkten Kopfes" wegführen ließen, nur schwer übertönen.
"Davokas Geschichte von der reinen Wahrheit" schließt an Jahijels Rebellion an - eine gewagte und wuchtige Verknüpfung: "Wenn er [Jahijel] noch lebte, würde er sicher die Faust ballen, auf den Tisch schlagen und sagen: Was wollt ihr? Ein Jude - gibt es denn für ihn nichts als Verachtung, Hass, Verdammung und Tod?" Es ist bezeichnend für Isak Samokovlijas kritischen Blick, dass an dieser Stelle neben den Faschisten auch die bosnische Vorkriegsgesellschaft und die autoritäre Gemeinde gemeint sind.
NICOLE HENNEBERG
Isak Samokovlija: "Der Jude, der am Sabbat nicht betet".
Hrsg. von Ilija Trojanow. Aus dem Serbokroatischen von Werner Creutzinger, Waltraud und Manfred Jähnichen. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 2018. 320 S., geb., 25,- [Euro].
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