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Die Erzählungen schlagen einen Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre: Jahrhundertelang Teil des Osmanischen Reiches, gehörte Bosnien nun zur Föderativen Volksrepublik Jugoslawien.Samokovlija wirft Schlaglichter auf die wechselvollen Machtverhältnisse, denen eines gemeinsam ist: die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden. Anrührend und voller Empathie lässt er die jüdische Enklave Bosniens, die überwiegend aus Sepharden besteht, auferstehen. Die ärmlichen Lebensumstände seiner Figuren beschreibt er höchst realistisch, sein besonderes Interesse gilt jedoch ihrem Denken und…mehr

Produktbeschreibung
Die Erzählungen schlagen einen Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre: Jahrhundertelang Teil des Osmanischen Reiches, gehörte Bosnien nun zur Föderativen Volksrepublik Jugoslawien.Samokovlija wirft Schlaglichter auf die wechselvollen Machtverhältnisse, denen eines gemeinsam ist: die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden. Anrührend und voller Empathie lässt er die jüdische Enklave Bosniens, die überwiegend aus Sepharden besteht, auferstehen. Die ärmlichen Lebensumstände seiner Figuren beschreibt er höchst realistisch, sein besonderes Interesse gilt jedoch ihrem Denken und Fühlen: Samokovlija schlüpft gleichsam in ihre Haut. Der arme Händler Juso, der schwermütige Schuster Rafael Macoro und die leidenschaftliche Zigeunerin Hanka erscheinen vor dem Leser plastisch wie auf einer Bühne. Mit all ihren Sehnsüchten und kleinen Freuden, die dem mühseligen Alltag abgetrotzt sind. Menschen, die ihre Würde bewahren, sich den beengten Verhältnissen widersetzen, die eines fordern: das "Recht auf Freude im Leben".
Autorenporträt
Isak Samokovlija, geboren 1889 in Gorazde, entstammte einer aus Bulgarien zugewanderten sephardischen Familie. Nach dem Medizinstudium in Wien arbeitete er in einem Militärhospital in Sarajevo. Daneben veröffentlichte er Gedichte, Artikel zu jüdischen Themen und ab 1927 Erzählungen, die meist im Milieu der sephardischen Juden angesiedelt sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg engagierte er sich im Jugoslawischen Schriftstellerkongress und wurde Präsident der Schriftstellervereinigung Bosnien-Herzegowinas. Samokovlija starb 1955 in Sarajevo.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2018

Geht zu den Partisanen!

Der bosnische Autor Isak Samokovlija ist hierzulande nahezu unbekannt. Jetzt sind seine Erzählungen zu entdecken, die ein halbes Jahrhundert ängstlicher Auflehnung beschreiben.

Das wahre und interessante Leben eines menschlichen Wesens spielt sich im Verborgenen ab, wie unter dem Schleier der Nacht", schrieb Anton Tschechow im Brief an eine Vertraute. Er konnte nicht ahnen, dass 1889 im bosnischen Goradze mit Isak Samokovlija ein Seelenverwandter von ihm geboren würde, der seine Figuren auf genau diese Art betrachtete - eine ideale Erzählweise, um die Welt der scheuen sephardischen Juden Sarajevos einzufangen und zu bewahren.

Der Grandseigneur der bosnischen Literatur, Ivo Andric, hatte als Erster auf diese Ähnlichkeit hingewiesen. Er nannte Samokovlija "unseren Tschechow", zu Recht, denn sie haben vieles gemeinsam: Beide waren Ärzte, beide schrieben über Kleinbürger auf eine anteilnehmende, dabei äußerst objektive Weise, und beide waren hellsichtige Gesellschaftskritiker mit hohem moralischen Anspruch.

Samokovlijas Händler und Heiratsvermittler, die Töchter und Ehefrauen erscheinen in einem präzise umrissenen, emotionalen Geflecht, in dem alle Kräfte deutlich werden, die auf sie einwirken. Fast beiläufig liest der Erzähler in der eigenartigen Haltung der Arme, einem einzigen Aufblitzen der Augen oder Beiseitetreten die geheimen Gedanken und den verdrängten Schmerz eines Menschen - in diesen leicht erzählten, aber äußerst scharfen Analysen kann sich der hierzulande fast Unbekannte aus Sarajevo mit Tschechow messen.

Isak Samokovlija studierte in Wien Medizin und arbeitete fast sein ganzes Leben in Hospitälern in Sarajevo, nur die zehn Jahre zwischen Kriegsende und seinem Tod 1955 widmete er sich ganz dem Schreiben. Er entstammte einer Familie sephardischer Juden, und seine Figuren sind gläubige und gehorsame Mitglieder der sephardischen Gemeinde, wie Dzevad Karahasan in seinem begeisterten Nachwort anmerkt.

Jeder Sabbat ist ein Fest, das ihren kargen Alltag aufbricht und adelt, jeder Gegenstand wird poliert, und "wenn ich aus der Synagoge zurückkehre, wage ich kaum einzutreten", vertraut der Hausierer Juso dem Erzähler an. Er ist die tief melancholische und eindrucksvolle Hauptfigur der Titelgeschichte "Der Jude, der am Sabbat nicht betet." Er tut das nicht etwa aus Ungläubigkeit, sondern ganz im Gegenteil aus allertiefstem Glauben: Die ganze Woche dankt er dem Herrn für alles, was ihm im Leben begegnet, für all den Tand, den er verkauft, für die gute Frau und die schönen Töchter, die so elegant sind, dass er sich, unrasiert und zerlumpt, auf der Straße versteckt, wenn er ihnen begegnet. Aber am Sabbat ruht er sich aus, wie der Herr selbst.

Querköpfiger Eigensinn ist typisch für die bedrückten und in sich gekehrten Figuren dieser berührenden Geschichten. Samokovlijas tiefgläubige Sonderlinge sind dünnhäutiger, leidenschaftlicher und sehnsüchtiger als die anderen Gemeindemitglieder, und damit sind Konflikte programmiert. In einer der schönsten Geschichten wagt es Jahijel, gegen den ehrwürdigen Rabbi aufzubegehren, der sein Leben lenken will - oder kämpft er nur gegen die Dämonen im eigenen Kopf? "Jahijels Aufbegehren" ist ein raffiniert gebautes und rasantes inneres Drama, dessen Stürme nur als Händezittern nach außen dringen. Buchstäblich um Sein oder Nichtsein geht es in Samokovlijas zutiefst menschlichen Geschichten, die der kluge Erzähler den verzweifelt Stammelnden geduldig und hartnäckig entlockt. Und es geht um ein halbes Jahrhundert ängstlicher Auflehnung: die erzählte Zeit reicht vom Bosnischen Aufstand 1875 bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg.

So bescheiden die Wunschträume des Lastenträgers Samuel oder des Fuhrmanns Idriz auch sind, die sich nach einem winzigen Glück sehnen - im entscheidenden Moment wagen sie alles: der bitterarme Samuel schlägt eine erhebliche Mitgift aus, um seine künftige Ehefrau nicht zu kompromittieren, und Idriz entführt seine Liebe aus einem Totenhaus - "Die rote Dahlie" gehört zu den eindringlichsten, traurigsten und hoffnungsvollsten Liebegeschichten, die man seit langem lesen konnte. Voller kleiner Wunder stecken diese Geschichten, deren unscheinbare Details verschwörerisch zu leuchten beginnen - wie die in einem Sonnenstrahl tanzenden Staubpartikel oder ein kühler Wasserstrahl. In solch verklärten Momenten hören Samuel und Jahijel das Rauschen und Klopfen der Zeit, und sie spüren ihre Vergänglichkeit - auch das eine Gemeinsamkeit mit Tscheechow.

Deshalb bittet Davoka den Erzähler, ein Alter Ego des Autors, es solle "von alldem eine Spur bleiben". Er hat sich Notizen über die 1941 erfolgte Deportation einer Nachbarfamilie gemacht, an die er ständig denkt, und der Erzähler schildert präzise und unendlich zart sein offensichtliches Trauma. Davokas Jubel über die jüngste Tochter, die floh, sich den Partisanen anschloss und als Kriegerin starb, kann seine Trauer über die vielen, die sich "gesenkten Kopfes" wegführen ließen, nur schwer übertönen.

"Davokas Geschichte von der reinen Wahrheit" schließt an Jahijels Rebellion an - eine gewagte und wuchtige Verknüpfung: "Wenn er [Jahijel] noch lebte, würde er sicher die Faust ballen, auf den Tisch schlagen und sagen: Was wollt ihr? Ein Jude - gibt es denn für ihn nichts als Verachtung, Hass, Verdammung und Tod?" Es ist bezeichnend für Isak Samokovlijas kritischen Blick, dass an dieser Stelle neben den Faschisten auch die bosnische Vorkriegsgesellschaft und die autoritäre Gemeinde gemeint sind.

NICOLE HENNEBERG

Isak Samokovlija: "Der Jude, der am Sabbat nicht betet".

Hrsg. von Ilija Trojanow. Aus dem Serbokroatischen von Werner Creutzinger, Waltraud und Manfred Jähnichen. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 2018. 320 S., geb., 25,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.10.2018

Letztes Jahr
in Sarajevo
Erzählungen aus der Welt der bosnischen Sepharden
Schlüssel, die in kein Schloss mehr passen, hütet das Jüdische Museum von Sarajevo an seinem Standort in der Alten Synagoge aus dem 16. Jahrhundert. Die Schlüssel stammen aus dem Fluchtgepäck sephardischer Juden, die nach ihrer Vertreibung 1492 aus Spanien in den Städten des Osmanischen Reichs Asyl gefunden hatten: Es waren die Türöffner zu ihren verwaisten Häusern auf der Iberischen Halbinsel, wo Sepharden 1500 Jahre lang heimisch waren. In alle Welt verstreut, bewahrten sie auch in der Diaspora ihre kulturellen Bindungen. Als Symbole der Erinnerung und des Traums, eines Tages nach al-Andalus zurückzukehren, wurden die Schlüssel von Generation zu Generation weitergereicht.
Der Sepharden „portatives Vaterland“ (Heinrich Heine) war die ererbte Sprache – das altkastilische Spanisch, auch „Spaniolisch“ genannt –, in der sie ihre Erzählungen und Legenden, ihre Gebete und Lieder fassten: „Yo pasi por la tu guerta, / Tu estavas en la puerta / Ta saludi, / tu fuites …“ sind Verse eines über den Balkan und den gesamten Mittelmeerraum verbreiteten Lieds in einer dialektalen Variante, mit der Sarajevos Juden sich auch im Alltag untereinander verständigten, neben dem Bosnischen, Serbokroatischen, Hebräischen und Türkischen – in deutscher Übersetzung: „Ich ging vorbei an deinem Garten, / du standest an der Pforte, / ich grüßte dich, du liefst fort …“
Die in der verdienstvollen Reihe „Weltlese“ erschienenen acht Meistererzählungen des bosnisch-jüdischen Dichters Isak Samokovlija (1889-1955) lassen mehrere solcher Lieder, begleitet von Saiten-, Tamburin- und Flötenklängen, hoch über Sarajevos Häuser und Höfe fliegen. Es sind ummauerte Höfe, die mit ihren Gärten, Zisternen und Brunnen noch immer an iberische Patios erinnern, oder auch an den umschlossenen Garten aus dem Hohelied: „Wunderliche Lieder waren das, Lieder, weit von hier entstanden, endlose Ebenen in sich bergend, abendliche Stille und unerreichbare Ferne …“ Die Erzählungen stammen aus dem Bosnischen und sind doch – durchmischt mit türkischen und serbischen Lehnworten – voller Einsprengsel aus dem Judäo-Spanischen. Die Übersetzung belässt solche Idiome zum Glück im Original und erläutert sie in einem Glossar: „Azno“ steht für „Esel“, „Loceseste“ für „Narr“, „triste di me“ für „ich Unglückliche“, „querida mia“ für „meine Liebe“; und neben „Sinjor“ und „Sinjora“ besticht die Poesie von Eigennamen wie Simha, Sumbula Luna, Pardo, Papuco und Aula, oder auch von Versen wie: „Fata, schönes Kind, komm zur Tür geschwind …“
„Kommen Sie mal nach Sarajevo zum Passah. Sie werden es sehen! Kommen Sie, sagen Sie, ich habe Sie eingeladen“: Als wolle er die ganze Welt einladen, von der er noch nicht wusste, dass sie dem Untergang der einst vielsprachigsten, multikonfessionellsten und multiethnischsten Stadt Europas künftig – 1941 bis 1944 und 1991 bis 1994 – tatenlos zusehen würde, adressiert Juso, der Held der Titelgeschichte, den Erzähler: Mit seinem „Laden“, der aus nichts als „zwei, drei kleinen Kisten und hin und wieder einem Pappkarton“ besteht, zieht jener gottesfürchtige Kleinhändler von Markt zu Markt. Nur am Sabbat fällt er auch für die Synagoge aus, weil er sein armseliges Dasein bereits am Vorabend in Schnaps ertränkt hat. Doch wie alle Figuren, von denen Samokovlija erzählt und die dem Leser buchstäblich ans Herz wachsen, bewahrt auch Juso bei allen Unbilden des Lebens die Würde.
Nach Art eines orientalischen Diwans organisiert Samokovlija die geschilderten Stoffe und Figuren zu raffiniert vielstimmigen, zuweilen mehrfach verschachtelten Binnenerzählungen innerhalb einer zumeist als mündliche Erzählsituation vorgestellten Rahmenhandlung. Grund dafür ist die Biografie des Autors, den sein Landsmann Ivo Andrić „unseren Tschechow“ nannte: Wie dieser oder wie seine Wiener und Berliner Zeitgenossen Arthur Schnitzler und Alfred Döblin war Samokovlija von Beruf Arzt, wie auch schon die legendären sephardischen Vorgänger Maimonides und Jehuda Halevi. Studiert in Wien, in Sarajevo niedergelassen, besaß er die Gabe aufmerksamen Zuhörens und genauen Hinsehens. Die Feder des Dichters wusste er dabei so sicher zu handhaben wie die Instrumente des Arztes, der seinen Patienten unter die Haut und tief in die Seele blickt. Und neben ihren Sorgen und Nöten, ihren Wehen und Wehwehchen wird er ihnen so manche Geschichte abgelauscht haben.
Entstanden zwischen den 1920er- und 1950er-Jahren, überspannen die Erzählungen den Zeitraum dreier Generationen und reichen etwa vom Beginn der österreichisch-ungarischen Vorherrschaft über Bosnien-Herzegowina bis in die unmittelbare zweite Nachkriegszeit des vorigen Jahrhunderts. Sie zeugen vom menschlichen Reichtum und der ganzen Armut einer untergegangenen Welt. Unter dem Terror der kroatisch-faschistischen Ustascha, die nach dem deutschen Überfall und Einmarsch im April 1941 die Macht im vormaligen Königreich übernahm, wurde die sephardisch-jüdische Enklave Bosniens und Sarajevos vollständig ausgelöscht.
Nur wenige Hundert von den etwa 10 000 Juden Sarajevos überlebten die Schoah, zumeist als Partisanen. Im Bürgerkrieg der 1990er-Jahre wurden die wenigen Rückkehrer durch die Aussiedlung ihrer vieler Familien und Gemeindemitglieder nach Israel nochmals dezimiert. Ausgerechnet auf dem der Altstadt nächstgelegen Hügel, inmitten der Gräberfelder des uralten sephardischen Friedhofs, hatten die Scharfschützen und die Artillerie der bosnischen Serben ihre Stellungen bezogen und schossen von hier aus auf alles, was sich in der Stadt bewegte.
VOLKER BREIDECKER
Isak Samokovlija: Der Jude, der am Sabbat nicht betet. Erzählungen. Aus dem Bosnischen übersetzt von Matthias Jacob und mit einem Nachwort von Dževad Karahasan. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2018. 316 Seiten, 25 Euro.
Vor den großen Kriegen
war Sarajevo die
multikulturellste Stadt Europas
Wie seine Zeitgenossen
Schnitzler und Döblin war auch
Samokovlija von Beruf Arzt
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