Eine Biografie über Ovid: wie geht das? Über den römischen Lyriker zur Zeit des Kaisers Augustus, Verfasser der unsterblichen Amores und Metamorphosen , gibt es keine gesicherten biografischen Zeugnisse, nicht einmal ein Portrait. Gerade das reizte die renommierte Literaturwissenschaftlerin und Biografin Diane Middlebrook. Mit detektivischem Spürsinn filterte sie das zahlreich vorhandene Autobiografische aus Ovids Werk, insbesondere aus den Metamorphosen , ohne je zu vergessen, dass Ovids Leben stets eine reale Fiktion bleiben muss. Für ihre Darstellung wählte sie sieben entscheidende Tage, wie den von Ovids Geburt, den seiner Initiation zum römischen Mann (mit 16) oder den der Scheidung von seiner ersten Frau (mit 20). So rückt uns der große Unbekannte in einer anschaulichen Möglichkeitsform nah wie noch nie und mit ihm die Augusteische Hochkultur in all ihren Aspekten: Alltag, Erziehung, Religion, Sexualität, Politik, Literatur. Das monumental angelegte Werk sollte Ovids ganzesLeben umfassen. Ihr früher Tod ließ Diane Middlebrook nur bis zu seinem 20. Altersjahr kommen. Mit einem Vorwort ihres Mannes Carl Djerassi und mit einem Kommentar des Altphilologen Maurice Biriotti erscheint das Werk (nachdem Teile des amerikanischen Originals an verstreuten Orten publiziert wurden) nun zum ersten Mal unvollendet, aber gleichwohl großartig.
Diane Middlebrooks Fragment
gebliebene Biografie über Ovid
Der römische Dichter Publius Ovidius Naso hat in seinem umfangreichen Werk mehr über sich selbst gesagt als jeder andere Autor der Antike und des Mittelalters (Augustinus vielleicht ausgenommen). Aber darüber hinaus gibt es wenige Zeugnisse von ihm. Das macht einem Biografen die Arbeit nicht gerade einfach: Was könnte er noch leisten, das von seinem Gegenstand nicht schon getan ist? Diane Middlebrook, Literaturwissenschaftlerin an der Stanford University und bekannt geworden durch ihre Bücher über Sylvia Plath und Anne Sexton, hat sich entschieden, die Schwierigkeit in einem Doppel-Zugriff anzugehen. Auf der einen Seite gestaltet sie ausgedachte szenische Situationen aus der Biographie des Dichters, beginnend mit der Stunde seiner Geburt, wobei sie ein plastisches Bild der Zeit und ein phantasievolles von Ovids Leben entwirft.
Auf der anderen Seite, und das ist die originellere, sucht sie sein Werk dort zum Sprechen zu bringen, wo die Person schweigt. Ovid ist für die feministische Tradition (in der Middlebrook steht) von großer Bedeutung gewesen, da er mehr als jeder andere Autor den Frauen eine Stimme verliehen hat, besonders in den Heroidenbriefen, in denen Medea, Kassandra und andere Frauen Klage führen über die von Männern eingerichtete Welt. Doch bei all seiner sonstigen Beredsamkeit auch in privaten Dingen erfahren wir rein gar nichts über Ovids Mutter; diese eigentümliche Lücke fasst Middlebrook ins Auge.
Sie versucht sie dadurch zu füllen, dass sie die Rolle der Minerva / Athene in Ovids Werk beleuchtet, die, wie Middlebrook plausibel macht, für den Dichter eine Art persönliche Schutzpatronin darstellt. Aber Minerva ist eine kriegerische Jungfrau, vom Typ her so unmütterlich wie nur denkbar. Hier liegt ein Rätsel, das Middlebrook eher sichtbar gemacht als gelöst hat.
Ihr Buch ist Fragment geblieben; sie schrieb es, während sie mit dem Krebs kämpfte. Ihr Mann, der Chemiker und Miterfinder der Verhütungspille Carl Djerassi, und ihr Kollege, der Altphilologe Maurice Biriotti, haben es durch anrührende Vor- und Nachworte gerahmt und, indem sie es auf Leben und Person der Verfasserin bezogen, postum zu jenem Ganzen gemacht, das es aus eigener Kraft nicht mehr werden konnte.
BURKHARD MÜLLER
Diane Middlebrook: Der junge Ovid. Eine unvollendete Biographie. Aus dem Englischen von Barbara von Bechtolsheim. Müry Salzmann Verlag, Salzburg und Wien 2012. 152 Seiten, 19 Euro.
Ovid hat in seinem Werk vielen
Frauen eine Stimme gegeben
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