Seine Freundin Esther scheint im siebenten Himmel. Der gesamte Bekanntenkreis gratuliert Tobias zur Vaterschaft in spe: "Glückwunsch. Respekt. Haste mal endlich was gemacht, was Hand und Fuß hat." Allein Tobias sieht die Welt auf sich zurasen. Bald schon ist die Stimmung getrübt. Denn seit seinem elften Lebensjahr ist sein rechter Arm nicht mehr gewachsen. Die Sache wird doch nicht erblich sein? Der Kaiser vom Knochenberg ist die Geschichte eines Unfalls, der nie passiert ist, und die Geschichte einer Kindheit, die trostlos war, aber nie ohne Komik. Mit leidenschaftlicher Fabulierkunst schreibt Krampitz mit dem Mut zur Selbstironie von Menschen, Zeiten und dunklen Geheimnissen - ein unangepasster, subtiler Roman von einem Erzähltalent, das für sich steht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2003Der männliche Makel
Defektes Erbe: Karsten Krampitz' ostdeutsche Jugendgeschichte
Er wohnt, wie es seit einer Weile von jungen deutschen Autoren erwartet wird, in Berlin und tritt im "Kaffee Burger" auf. Er bevorzugt wie seine Generationskollegen eine schnoddrige Sprache und die Ich-Perspektive. Und er macht in seinem zweiten Roman "Der Kaiser vom Knochenberg" das, was der literarische Nachwuchs hierzulande nun einmal derzeit am allerliebsten tut: das eigene Leben zu Papier bringen, wie es nach der westdeutschen Popfraktion neuerdings auch - im Fahrwasser von Thomas Brussig - vermehrt Autoren aus dem Osten tun.
Karsten Krampitz, 1969 in Rüdersheim geboren und unweit von Berlin aufgewachsen, gehört zu jenen "Zonenkindern", die Jana Hensel in ihrem gleichnamigen Bestseller als "die ersten Wessis aus Ostdeutschland" charakterisiert. Auch er war beim Mauerfall noch zu jung, um sich politisch mit dem SED-Regime auseinandergesetzt zu haben, aber doch bereits alt genug, um sich seiner Herkunft verpflichtet zu fühlen. Sein Alter ego Tobias ist in der Nähe Berlins aufgewachsen, studiert ebenfalls Geschichte und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Und er leidet auch unter derselben seltenen Knochenkrankheit wie Krampitz, die einen verkürzten rechten Arm zur Folge hat. Krampitz erzählt also seine ganz persönliche Geschichte, die wegen des gesundheitlichen Handicaps eine Leidengeschichte ist.
Mag sich Tobias' Bericht auch flapsig anhören - ihn durchzieht doch ähnlich wie Benjamin Leberts Internatsbeichte "Crazy" ein Schmerzenston des selbsterlebten Elends, den eine auf Amüsement ausgerichtete junge Erinnerungsprosa oftmals ausspart. "Ich bin nicht behindert, nur erpreßbar", stellt Tobias gleich zu Anfang fest: "Dauernd meinen Frauen ein gutes Werk zu tun. Und alle wissen sie genau um die geringe Wahrscheinlichkeit, einer anderen wegen verlassen zu werden." Das klingt lapidar und betont unlarmoyant. Doch ist in solchen Sätzen die ganze Bitterkeit aufgespeichert, im real existierenden Sozialismus auf einen "glücklichen Krüppel" gedrillt worden zu sein. Tatsächlich scheint Krampitz nichts mehr zu fürchten als den Mitleidsbonus seiner Leser. Schon im Vorläufer "Affentöter" war er als Chronist der Berliner Obdachlosenszene um äußerste Nüchternheit bemüht.
In seinem neuen Buch leiht er nun abermals einem Außenseiter und verspotteten Einzelgänger die Stimme. Bevor Tobias mit elf Jahren in einem staatseigenen Behindertenheim landet, wird er von seinen Klassenkameraden bereits als "Bonzenbaby" verhöhnt. Schließlich arbeitet nicht nur seine Mutter als Sekretärin für den Bürgermeister. Auch sein Vater läßt sich als hochrangiger Parteigenosse regelmäßig mit Dienstwagen und Chauffeur durch das Dorf kutschieren und brüstet sich, "der Erich Honecker von Wolzow" zu sein. Das macht den Sohn nicht gerade beliebt. Abgeschottet wohnt das umhegte Einzelkind mit seinen Eltern am Ortsrand auf einem Hügel, dem sogenannten "Knochenberg", wo außer dem einzigen Kinderfreund Torsten nur noch gutbetuchte Rentner zu Hause sind.
Tobias geht es von daher nicht wie anderen Zonenkindern um die Suche nach der Herkunft. Ihn, den früh Ausgeschlossenen, treibt fern aller Staatsideologie die viel existentiellere Frage um, ob er überhaupt zum vollwertigen Mitglied einer Gemeinschaft taugt - um beispielsweise ein eigenes Kind aufzuziehen. Zum Auslöser für seinen Blick zurück wird die unverhoffte Schwangerschaft seiner Freundin Esther. Ihr hat Tobias einst wie allen Frauen, die ihm gefielen, die "Bettlüge" aufgetischt. Jenes "Märchen von einem Unfall", der ihn angeblich verstümmelt habe. In einer Welt, die "einen kräftigen Männerhändedruck und nicht den eines Kleinkindes" verlangt, verschweigt man besser die Wahrheit eines erblichen Gendefekts.
Als gelegentlicher Taxifahrer hat Tobias viel Zeit, über seine Beziehungsprobleme nachzudenken. Zwischen den Fahrten schwadroniert er da im inneren Monolog über den letzten gemeinsamen Urlaub, über sein ehemaliges Behindertenheim, über die Schulzeit, Fußballspiele und Thälmannpionierwahlen - bis hin zum Karriereknick des Vaters und zu den Depressionen der Mutter. Ebenso ausufernd, wie sich die Themen entwickeln, vermehrt sich auch das Personal. Kurz: Tobias' Bewußtseinsstrom rauscht wie ein Wasserfall.
Entsprechend gleicht Krampitz' Buch eher einem langen Kumpelgespräch als einem durchkonzipierten Roman: Es erzählt engagiert, manchmal überschießend und stellenweise redundant, ohne große literarische Ambition. An den schlechteren Stellen schreckt der zweiunddreißigjährige Autor auch nicht vor binsenweisen Ausdrücken wie "Arbeit hat noch keinem geschadet" oder: "Eine neue Klasse ist wie ein neues Leben" zurück.
An den besseren beweist er genaues Gespür und Talent zu schwarzem Humor. Etwa dort, wo Tobias' labile Mutter das Aufräumen der Wohnung immer wieder mit dem Hinweis verschiebt, sie müsse erst noch "ihre Papiere sortieren". Der "Kaiser vom Knochenberg" ist ein schnell geschriebenes Buch, an dessen Konstruktion Krampitz noch hätte feilen müssen. Dem anrührenden Charme einer offenherzigen Rotzlöffeligkeit, mit der er das eigene Schicksal preisgibt, tut das keinen Abbruch.
GISA FUNCK
Karsten Krampitz: "Der Kaiser vom Knochenberg". Ullstein Verlag, Berlin 2002. 192 S., geb., 18.50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Defektes Erbe: Karsten Krampitz' ostdeutsche Jugendgeschichte
Er wohnt, wie es seit einer Weile von jungen deutschen Autoren erwartet wird, in Berlin und tritt im "Kaffee Burger" auf. Er bevorzugt wie seine Generationskollegen eine schnoddrige Sprache und die Ich-Perspektive. Und er macht in seinem zweiten Roman "Der Kaiser vom Knochenberg" das, was der literarische Nachwuchs hierzulande nun einmal derzeit am allerliebsten tut: das eigene Leben zu Papier bringen, wie es nach der westdeutschen Popfraktion neuerdings auch - im Fahrwasser von Thomas Brussig - vermehrt Autoren aus dem Osten tun.
Karsten Krampitz, 1969 in Rüdersheim geboren und unweit von Berlin aufgewachsen, gehört zu jenen "Zonenkindern", die Jana Hensel in ihrem gleichnamigen Bestseller als "die ersten Wessis aus Ostdeutschland" charakterisiert. Auch er war beim Mauerfall noch zu jung, um sich politisch mit dem SED-Regime auseinandergesetzt zu haben, aber doch bereits alt genug, um sich seiner Herkunft verpflichtet zu fühlen. Sein Alter ego Tobias ist in der Nähe Berlins aufgewachsen, studiert ebenfalls Geschichte und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Und er leidet auch unter derselben seltenen Knochenkrankheit wie Krampitz, die einen verkürzten rechten Arm zur Folge hat. Krampitz erzählt also seine ganz persönliche Geschichte, die wegen des gesundheitlichen Handicaps eine Leidengeschichte ist.
Mag sich Tobias' Bericht auch flapsig anhören - ihn durchzieht doch ähnlich wie Benjamin Leberts Internatsbeichte "Crazy" ein Schmerzenston des selbsterlebten Elends, den eine auf Amüsement ausgerichtete junge Erinnerungsprosa oftmals ausspart. "Ich bin nicht behindert, nur erpreßbar", stellt Tobias gleich zu Anfang fest: "Dauernd meinen Frauen ein gutes Werk zu tun. Und alle wissen sie genau um die geringe Wahrscheinlichkeit, einer anderen wegen verlassen zu werden." Das klingt lapidar und betont unlarmoyant. Doch ist in solchen Sätzen die ganze Bitterkeit aufgespeichert, im real existierenden Sozialismus auf einen "glücklichen Krüppel" gedrillt worden zu sein. Tatsächlich scheint Krampitz nichts mehr zu fürchten als den Mitleidsbonus seiner Leser. Schon im Vorläufer "Affentöter" war er als Chronist der Berliner Obdachlosenszene um äußerste Nüchternheit bemüht.
In seinem neuen Buch leiht er nun abermals einem Außenseiter und verspotteten Einzelgänger die Stimme. Bevor Tobias mit elf Jahren in einem staatseigenen Behindertenheim landet, wird er von seinen Klassenkameraden bereits als "Bonzenbaby" verhöhnt. Schließlich arbeitet nicht nur seine Mutter als Sekretärin für den Bürgermeister. Auch sein Vater läßt sich als hochrangiger Parteigenosse regelmäßig mit Dienstwagen und Chauffeur durch das Dorf kutschieren und brüstet sich, "der Erich Honecker von Wolzow" zu sein. Das macht den Sohn nicht gerade beliebt. Abgeschottet wohnt das umhegte Einzelkind mit seinen Eltern am Ortsrand auf einem Hügel, dem sogenannten "Knochenberg", wo außer dem einzigen Kinderfreund Torsten nur noch gutbetuchte Rentner zu Hause sind.
Tobias geht es von daher nicht wie anderen Zonenkindern um die Suche nach der Herkunft. Ihn, den früh Ausgeschlossenen, treibt fern aller Staatsideologie die viel existentiellere Frage um, ob er überhaupt zum vollwertigen Mitglied einer Gemeinschaft taugt - um beispielsweise ein eigenes Kind aufzuziehen. Zum Auslöser für seinen Blick zurück wird die unverhoffte Schwangerschaft seiner Freundin Esther. Ihr hat Tobias einst wie allen Frauen, die ihm gefielen, die "Bettlüge" aufgetischt. Jenes "Märchen von einem Unfall", der ihn angeblich verstümmelt habe. In einer Welt, die "einen kräftigen Männerhändedruck und nicht den eines Kleinkindes" verlangt, verschweigt man besser die Wahrheit eines erblichen Gendefekts.
Als gelegentlicher Taxifahrer hat Tobias viel Zeit, über seine Beziehungsprobleme nachzudenken. Zwischen den Fahrten schwadroniert er da im inneren Monolog über den letzten gemeinsamen Urlaub, über sein ehemaliges Behindertenheim, über die Schulzeit, Fußballspiele und Thälmannpionierwahlen - bis hin zum Karriereknick des Vaters und zu den Depressionen der Mutter. Ebenso ausufernd, wie sich die Themen entwickeln, vermehrt sich auch das Personal. Kurz: Tobias' Bewußtseinsstrom rauscht wie ein Wasserfall.
Entsprechend gleicht Krampitz' Buch eher einem langen Kumpelgespräch als einem durchkonzipierten Roman: Es erzählt engagiert, manchmal überschießend und stellenweise redundant, ohne große literarische Ambition. An den schlechteren Stellen schreckt der zweiunddreißigjährige Autor auch nicht vor binsenweisen Ausdrücken wie "Arbeit hat noch keinem geschadet" oder: "Eine neue Klasse ist wie ein neues Leben" zurück.
An den besseren beweist er genaues Gespür und Talent zu schwarzem Humor. Etwa dort, wo Tobias' labile Mutter das Aufräumen der Wohnung immer wieder mit dem Hinweis verschiebt, sie müsse erst noch "ihre Papiere sortieren". Der "Kaiser vom Knochenberg" ist ein schnell geschriebenes Buch, an dessen Konstruktion Krampitz noch hätte feilen müssen. Dem anrührenden Charme einer offenherzigen Rotzlöffeligkeit, mit der er das eigene Schicksal preisgibt, tut das keinen Abbruch.
GISA FUNCK
Karsten Krampitz: "Der Kaiser vom Knochenberg". Ullstein Verlag, Berlin 2002. 192 S., geb., 18.50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Karsten Krampitzs "Der Kaiser vom Knochenberg" hat Rezensentin Gisa Funk trotz einiger Schwächen recht gut gefallen. Obgleich im Ton recht "flapsig", durchziehe die Geschichte um den behinderten Außenseiter und Einzelgänger Tobias ähnlich wie Benjamin Leberts Internatsbeichte "Crazy" ein "Schmerzenston des selbsterlebten Elends, den eine auf Amüsement ausgerichtete junge Erinnerungsprosa oftmals ausspart". Insgesamt gleicht Tobias' Lebensbericht nach Ansicht Funks eher einem "langen Kumpelgespräch" als einem durchkomponierten Roman. Krampitz erzähle engagiert, manchmal überschießend und stellenweise redundant, ohne große literarische Ambition. An den schlechteren Stellen schrecke der Autor auch vor Plattheiten nicht zurück, an den besseren beweise er "genaues Gespür und Talent zu schwarzem Humor", verteilt die Rezensentin Lob und Tadel. Der "Kaiser vom Knochenberg" sei ein schnell geschriebenes Buch, an dessen Konstruktion Krampitz noch hätte feilen müssen, moniert Funk . Nichtsdestoweniger: "Dem anrührenden Charme einer offenherzigen Rotzlöffeligkeit, mit der er das eigene Schicksal preisgibt", schließt die Rezensentin, "tut das keinen Abbruch."
© Perlentaucher Medien GmbH
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