Österreich in den »Waldheimjahren« zwischen 1985 und 1989. Drei »Kulturkämpfe« toben nebeneinander und sind doch untrennbar miteinander verbunden: der Kampf um einen neuen Staatspräsidenten, der Kampf um ein Antifaschismusdenkmal und der Kampf um »das« Theater, »die Burg«. Und inmitten dieser Auseinandersetzungen kämpft ein Einzelner, kämpft gegen das Vergessen und Verdrängen der NS-Zeit: der Spanienveteran und KZ-Überlebende Edmund Fraul. Dieser Fraul ist das Zentrum aller Bewegung: Dem Lager nie entkommen, bis ins Mark kalt, merkt er selbst, dass er Gefühle nicht äußern, nicht einmal spüren kann. Bis er auf seinen ziellosen Wanderungen durch Wien einem ehemaligen KZ-Aufseher begegnet und mit ihm ins Gespräch kommt: über Auschwitz. In seinem lang erwarteten zweiten Roman nach »Gebürtig« führt uns Robert Schindel erneut in den Wiener Kosmos: in eine Welt politischer, künstlerischer und menschlicher Gegensätze, Feindschaften, Amouren, Bindungen und Zerreißproben. In ein Geflecht von Tragödien und Liebesgeschichten, die so gut glücklich enden können wie tödlich. Figurenreich und vielperspektivisch ist dieser Roman, weltstädtisch und detailverliebt, so kämpferisch wie sanft und von großer sprachlicher Schönheit - und getragen von der Hoffnung, dass Blut und Wärme einer neuen Zeit in die gefrorenen Charaktere und in den Körper einer veränderten Gesellschaft zurückkehren.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Viel Gutes kann Rezensent Franz Haas Robert Schindels neuem und lang erwarteten Roman "Der Kalte" leider nicht abgewinnen. Er wirft dem längst auch als Romanautor tätigen Lyriker vor, in seinen Romanen einmal mehr ein ernstes Thema der Zeitgeschichte zu einem "seichten Prosareigen" um die Wiener Polit- und Kulturschickeria "aufzublasen". Den Kritiker verschlägt es in diesem Fall ins Wien der Jahre 1985 bis 1989, als Österreichs Mitschuld am Nationalsozialismus immer offenkundiger wurde, Kurt Waldheim trotz NS-Vergangenheit Bundespräsident wurde und der rechtsradikale Jörg Haider große Erfolge feierte. Haas liest hier so viele detailreich rekonstruierte Fakten des Polit- und Kulturkampfes, dass ihm die meisten - unnötig verschlüsselten - Romanfiguren, etwa Elfriede Jelinek im Kaffeehaus oder der grimmige Thomas Bernhard, allzu "blutleer" erscheinen. In der wunderbar "poetisch-kathartisch" geschilderten Zusammenkunft zwischen dem KZ-Überlebenden Edmund Fraul und dem ehemaligen KZ-Aufseher Wilhelm Rosinger, die oft beinahe schweigend ihre Erfahrungen "austauschen", erkennt der Rezensent dann allerdings doch noch die Virtuosität, die er an dem Lyriker Schindler schätzt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2013Das Würgen am bitteren Knödel Heimat
Robert Schindel erzählt in "Der Kalte" mit grimmiger Gelassenheit von den Jahren der österreichischen Waldheim-Ära. Dem gewaltigen Stoff rückt der Autor mit spielerischer Verschlüsselung zu Leibe, doch die Konstruktion des Romans hält nicht.
Damals war alles an Heimat Allotria / Damals war dieses Wort ein bitterer Knödel / Im Blähhals der Anderen der Damaligen". Der Epochenroman ist das schiere Gegenstück zum Zeitgedicht: Was da skizziert wird, wird dort ausgemalt. Mit "Der Kalte" hat der Lyriker Robert Schindel versucht, das Bild der Waldheim-Jahre zu zeichnen oder eher: zu malen, in wahrhaft epischer Breite und mit verschwenderischem Farbauftrag.
Mit der Debatte um die Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten 1986 verlor das Nachkriegsösterreich seine politische Unschuld. Dass der einstige UN-Generalsekretär seinen Wehrmachtseinsatz auf dem Balkan aus seiner Biographie wegretuschiert hatte und die Aufregung über dessen Entdeckung nicht verstand, dass der Jüdische Weltkongress ihn als Kriegsverbrecher brandmarkte und die Österreichische Volkspartei (ÖVP) den Wahlslogan "Jetzt erst recht!" ausgab - all das spaltete das Land und veränderte schließlich die kollektive Selbstwahrnehmung: Das erste Opfer Hitlers war auch (und bald nur noch) ein Land der Täter.
Schindel hatte nach dem Erfolg seines Romandebüts "Gebürtig" (1992) eine Fortsetzung angekündigt, sechs Jahre später erschien das erste Kapitel von "Der Kalte" in den "manuskripten". Jetzt sieht sich die Kritik in der Zwickmühle: Wie sollte man ein 660-Seiten-Werk, das seinen Autor zwanzig Jahre beschäftigt hat, anders als geglückt finden? Wie andererseits seine offensichtlichen Konstruktionsmängel übersehen?
"Der Kalte" ist Edmund Fraul, einst Lagerschreiber in Auschwitz, Kommunist, Spanien-Kämpfer und Halbjude, was den Nazis entging. Die Handlung umfasst die Zeit von seinem 66. Geburtstag im Jahr 1985 bis zu seinem 70. Geburtstag 1989. Fraul ist ein öffentlicher Zeitzeuge, der bei der Vorbereitung von Nazi-Prozessen hilft und der furchtbaren Erinnerung durch Eiseskälte beizukommen sucht. Seinem Sohn Karl (oder, man weiß nicht warum: Karel), dem aufstrebenden Burgschauspieler, ist der "Heldenvater" fremd geblieben, seiner Frau Rosa immer fremder geworden - auch sie war in Auschwitz, aus "rassischen" Gründen, kennengelernt haben sie sich erst danach, der gemeinsame Alltag gewährt ihnen eine trügerische Sicherheit, in ihren Albträumen sind sie allein.
Der Erzähler bewegt sich nah an der hagestolzen Hauptfigur und ihren Trabanten, um immer wieder aus der dritten Person plötzlich in die erste zu fallen und sich so in mehrere Ichs aufzuspalten: in die deutsche Schauspielerin Astrid von Gehlen, den Südtiroler Journalisten Roman Apolloner, seine Kollegin Judith Zischka, die Ärztin Margit Keyntz, ihren jüngeren Bruder Stefan, der Tagebuch über sein pubertäres Frühlingserwachen führt, und den Kaffeehausdichter Paul Hirschfeld, der uns als Schindels Spiegelbild entgegenblickt. Die abrupten Perspektivwechsel machen den Überblick über die Armee der Protagonisten und deren politische und erotische Scharmützel nicht unbedingt leichter: Karl Fraul verlässt Margit Keyntz zugunsten der alle überstrahlenden Diva von Gehlen.
Roman Apolloner, der den alten Fraul interviewt und die Wehrstammkarte des ÖVP-Kandidaten Wais, recte Waldheim, entdeckt, fängt etwas mit Judith Zischka an, die am Schluss beim Publikumsliebling Felix Dauendin landet, dem betrogenen Ehemann der zuletzt ebenfalls betrogenen von Gehlen. Ins Spital der Frau Dr. Keyntz kommt Frau Fraul nach einem Herzinfarkt. "Die Rax hilft immer", sagt man der Rekonvaleszenten. (Und wirklich, beim Wandern auf dem Wiener Hausberg erledigt sich der aus "Gebürtig" bekannte SS-Schlächter Egger selbst.) Die Ärztin verwindet den Abgang von Fraul jun. nicht, sie nimmt sich das Leben. Der Autor aber lässt sie ungerührt als Ich sprechen wie die anderen auch, ohne sich die Frage zu stellen, von welchem extraterrestrischen Standpunkt aus sie berichten könnte. Seinen Studenten am Wiener "Institut für Sprachkunst" hätte er so etwas nicht durchgehen lassen.
Dass Schindel mit dem jungen Fraul ein Epizentrum des Stücks im Burgtheater ansiedelt, ist hingegen ein Kunstgriff: Ganz Österreich wird in diesen Jahren zur Bühne, auf der bald Schmiere zu sehen ist, bald große Tragödie. 1986 erwies sich der neue Burgtheaterdirektor Claus Peymann als die perfekte Besetzung. Als "Piefke" und Revoluzzer im Land wie im Ensemble heiß umstritten, goss er mit seiner Inszenierung von Thomas Bernhards dramatischer Österreich-Abrechnung "Heldenplatz" genüsslich Öl ins Feuer. Von Altbundeskanzler Kreisky abwärts hatten die Akteure ihren Auftritt in der Empörungsarena. Schindel rückt diesem gewaltigen Stoff mit spielerischer Verschlüsselung zu Leibe, so heißt Waldheim Wais, Peymann Schönn und der wodkagestählte Alfred Hrdlicka, der mit seinem Holzpferd gegen Waldheims verheimlichte Mitgliedschaft bei der SA-Reiterstandarte protestierte und mit seinem antifaschistischen Mahnmal hinter der Staatsoper noch einen Skandalschauplatz eröffnete, figuriert als Herbert Krieglach. Schindels Wahrheit ist semihistorisch: Während Waldheim seine Amtszeit absaß, tritt Wais nach der Halbzeit zurück.
Über weite Strecken bleiben die Figuren Pappkameraden, sie treten an die Rampe, werden vorgezeigt, gewinnen nicht Statur. Mitunter laufen sie als narrative Litfaßsäulen herum: "Meine eigene Geschichte ist ja ganz gewöhnlich als Enkel von Südtiroler Optanten, selber in Graz geboren und aufgewachsen in Innsbruck", sagt Apolloner sich und uns. Gelungenen Bildern ("die grünbärtige Ruprechtskirche") stehen nicht wenige überspannte Metaphern gegenüber - einer "grätschte mit dem Mund", Lider heißen "Augendeckel", der notgeile Karl Fraul fleht gar: "Asta, mir zerspringen die Hüften."
Den Reiz des Lokalkolorits hat der Autor allzu wörtlich genommen. Ein Gutteil des Geschehens spielt in real existierenden Lokalen wie dem "Oswald & Kalb", "Hawelka" oder "Korb". Manches hat Witz, doch allzu selten glückt die Verwandlung von Topographie in Atmosphäre. Wenn der "Kalte" rastlos durch Wien zieht, bleibt kaum ein Gassenname, kaum ein Heißgetränk unerwähnt.
Der forcierte Einsatz von Austriazismen und Wiener Dialektwörtern wird durch den gedankenlosen Gebrauch von bundesdeutschen Ausdrücken wie "Armleuchter", "Zicke", "verklickern" oder "Weichei" konterkariert, Vokabeln, die den Österreichern vor dem Siegeszug des Kabelfernsehens schon gar nicht über die Lippen kamen. Das Glossar wurde offenbar allzu schnell gebastelt, manches fehlt, einiges ist überflüssig (etwa die Mondscheinsonate), anderes schlicht falsch: die "Tüchent" statt der "Tuchent" (Daunendecke) oder der "Esel Buridan" statt "Buridans Esel".
Freilich lotet "Der Kalte" im kapitelweisen Fortschreiten vom kollektiven "Als ob" über das "Na und" zum "Dennoch" das Ausmaß der Modernisierungsschmerzen aus, die in der Waldheimat just mit dem Aufdecken von Vergangenem einhergingen. "Das schrille Zugleich bedeckte Verschwundnes / Wie Schnee", dichtete Schindel. Gerettet wird das Buch aber von seinem Titelhelden, der der Hysterie in beiden Lagern seine Philosophie der Kaltblütigkeit entgegensetzt und nur einmal weint: als sein Freundfeind Wilhelm Rosinger, der reuige Exnazi und Mord-Gehilfe, unters Auto kommt. Viele Schachpartien im Kaffeehaus und der Austausch haarsträubender KZ-Geschichten haben ihn dem müde werdenden Kämpfer nähergebracht: "Was Auschwitz war, weiß nur der Auschwitzer."
"Ich bin und bleibe Lyriker" lautet die stehende Wendung des Paul Hirschfeld, der sich darüber beklagt, dass sein deutscher Verlag von ihm der Kasse wegen einen Roman fordert, und diese "Raubersgschicht" trotzdem schreibt. Das selbstironische Bekenntnis verrät, dass Schindel mit der Rolle des Romanciers nicht so recht warm geworden ist. Die Doktrin des kalten Blutes verstärkt einerseits den Eindruck einer Pflichtübung: Ein Zeitalter selbstsüchtiger Zwerge wird besichtigt, mag es sich noch so wehren. Andererseits hält der Erzähler Äquidistanz. Er erzählt mit grimmiger Gelassenheit nicht nur von virulentem Antisemitismus und dem intakten Netzwerk der alten Kameraden, sondern auch von der Verleumdung des Präsidenten als Kriegsverbrecher und den innerjüdischen Diskussionen darüber und über die "masochistische Internationale". Nicht allein der SS-Sanitätsgehilfe Rosinger wird mit verstörendem Verständnissinn porträtiert, der vielgeschmähte vergessliche Präsident erscheint als einer, der die Lüge verabscheut. Das Würgen am bitteren Knödel Heimat: Vermutlich war ein Vierteljahrhundert Abstand nötig, um ein Zeitbild sine ira et studio zu vollbringen. Und das ist immerhin kein kleines Verdienst.
DANIELA STRIGL
Robert Schindel: "Der Kalte".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 662 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Robert Schindel erzählt in "Der Kalte" mit grimmiger Gelassenheit von den Jahren der österreichischen Waldheim-Ära. Dem gewaltigen Stoff rückt der Autor mit spielerischer Verschlüsselung zu Leibe, doch die Konstruktion des Romans hält nicht.
Damals war alles an Heimat Allotria / Damals war dieses Wort ein bitterer Knödel / Im Blähhals der Anderen der Damaligen". Der Epochenroman ist das schiere Gegenstück zum Zeitgedicht: Was da skizziert wird, wird dort ausgemalt. Mit "Der Kalte" hat der Lyriker Robert Schindel versucht, das Bild der Waldheim-Jahre zu zeichnen oder eher: zu malen, in wahrhaft epischer Breite und mit verschwenderischem Farbauftrag.
Mit der Debatte um die Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten 1986 verlor das Nachkriegsösterreich seine politische Unschuld. Dass der einstige UN-Generalsekretär seinen Wehrmachtseinsatz auf dem Balkan aus seiner Biographie wegretuschiert hatte und die Aufregung über dessen Entdeckung nicht verstand, dass der Jüdische Weltkongress ihn als Kriegsverbrecher brandmarkte und die Österreichische Volkspartei (ÖVP) den Wahlslogan "Jetzt erst recht!" ausgab - all das spaltete das Land und veränderte schließlich die kollektive Selbstwahrnehmung: Das erste Opfer Hitlers war auch (und bald nur noch) ein Land der Täter.
Schindel hatte nach dem Erfolg seines Romandebüts "Gebürtig" (1992) eine Fortsetzung angekündigt, sechs Jahre später erschien das erste Kapitel von "Der Kalte" in den "manuskripten". Jetzt sieht sich die Kritik in der Zwickmühle: Wie sollte man ein 660-Seiten-Werk, das seinen Autor zwanzig Jahre beschäftigt hat, anders als geglückt finden? Wie andererseits seine offensichtlichen Konstruktionsmängel übersehen?
"Der Kalte" ist Edmund Fraul, einst Lagerschreiber in Auschwitz, Kommunist, Spanien-Kämpfer und Halbjude, was den Nazis entging. Die Handlung umfasst die Zeit von seinem 66. Geburtstag im Jahr 1985 bis zu seinem 70. Geburtstag 1989. Fraul ist ein öffentlicher Zeitzeuge, der bei der Vorbereitung von Nazi-Prozessen hilft und der furchtbaren Erinnerung durch Eiseskälte beizukommen sucht. Seinem Sohn Karl (oder, man weiß nicht warum: Karel), dem aufstrebenden Burgschauspieler, ist der "Heldenvater" fremd geblieben, seiner Frau Rosa immer fremder geworden - auch sie war in Auschwitz, aus "rassischen" Gründen, kennengelernt haben sie sich erst danach, der gemeinsame Alltag gewährt ihnen eine trügerische Sicherheit, in ihren Albträumen sind sie allein.
Der Erzähler bewegt sich nah an der hagestolzen Hauptfigur und ihren Trabanten, um immer wieder aus der dritten Person plötzlich in die erste zu fallen und sich so in mehrere Ichs aufzuspalten: in die deutsche Schauspielerin Astrid von Gehlen, den Südtiroler Journalisten Roman Apolloner, seine Kollegin Judith Zischka, die Ärztin Margit Keyntz, ihren jüngeren Bruder Stefan, der Tagebuch über sein pubertäres Frühlingserwachen führt, und den Kaffeehausdichter Paul Hirschfeld, der uns als Schindels Spiegelbild entgegenblickt. Die abrupten Perspektivwechsel machen den Überblick über die Armee der Protagonisten und deren politische und erotische Scharmützel nicht unbedingt leichter: Karl Fraul verlässt Margit Keyntz zugunsten der alle überstrahlenden Diva von Gehlen.
Roman Apolloner, der den alten Fraul interviewt und die Wehrstammkarte des ÖVP-Kandidaten Wais, recte Waldheim, entdeckt, fängt etwas mit Judith Zischka an, die am Schluss beim Publikumsliebling Felix Dauendin landet, dem betrogenen Ehemann der zuletzt ebenfalls betrogenen von Gehlen. Ins Spital der Frau Dr. Keyntz kommt Frau Fraul nach einem Herzinfarkt. "Die Rax hilft immer", sagt man der Rekonvaleszenten. (Und wirklich, beim Wandern auf dem Wiener Hausberg erledigt sich der aus "Gebürtig" bekannte SS-Schlächter Egger selbst.) Die Ärztin verwindet den Abgang von Fraul jun. nicht, sie nimmt sich das Leben. Der Autor aber lässt sie ungerührt als Ich sprechen wie die anderen auch, ohne sich die Frage zu stellen, von welchem extraterrestrischen Standpunkt aus sie berichten könnte. Seinen Studenten am Wiener "Institut für Sprachkunst" hätte er so etwas nicht durchgehen lassen.
Dass Schindel mit dem jungen Fraul ein Epizentrum des Stücks im Burgtheater ansiedelt, ist hingegen ein Kunstgriff: Ganz Österreich wird in diesen Jahren zur Bühne, auf der bald Schmiere zu sehen ist, bald große Tragödie. 1986 erwies sich der neue Burgtheaterdirektor Claus Peymann als die perfekte Besetzung. Als "Piefke" und Revoluzzer im Land wie im Ensemble heiß umstritten, goss er mit seiner Inszenierung von Thomas Bernhards dramatischer Österreich-Abrechnung "Heldenplatz" genüsslich Öl ins Feuer. Von Altbundeskanzler Kreisky abwärts hatten die Akteure ihren Auftritt in der Empörungsarena. Schindel rückt diesem gewaltigen Stoff mit spielerischer Verschlüsselung zu Leibe, so heißt Waldheim Wais, Peymann Schönn und der wodkagestählte Alfred Hrdlicka, der mit seinem Holzpferd gegen Waldheims verheimlichte Mitgliedschaft bei der SA-Reiterstandarte protestierte und mit seinem antifaschistischen Mahnmal hinter der Staatsoper noch einen Skandalschauplatz eröffnete, figuriert als Herbert Krieglach. Schindels Wahrheit ist semihistorisch: Während Waldheim seine Amtszeit absaß, tritt Wais nach der Halbzeit zurück.
Über weite Strecken bleiben die Figuren Pappkameraden, sie treten an die Rampe, werden vorgezeigt, gewinnen nicht Statur. Mitunter laufen sie als narrative Litfaßsäulen herum: "Meine eigene Geschichte ist ja ganz gewöhnlich als Enkel von Südtiroler Optanten, selber in Graz geboren und aufgewachsen in Innsbruck", sagt Apolloner sich und uns. Gelungenen Bildern ("die grünbärtige Ruprechtskirche") stehen nicht wenige überspannte Metaphern gegenüber - einer "grätschte mit dem Mund", Lider heißen "Augendeckel", der notgeile Karl Fraul fleht gar: "Asta, mir zerspringen die Hüften."
Den Reiz des Lokalkolorits hat der Autor allzu wörtlich genommen. Ein Gutteil des Geschehens spielt in real existierenden Lokalen wie dem "Oswald & Kalb", "Hawelka" oder "Korb". Manches hat Witz, doch allzu selten glückt die Verwandlung von Topographie in Atmosphäre. Wenn der "Kalte" rastlos durch Wien zieht, bleibt kaum ein Gassenname, kaum ein Heißgetränk unerwähnt.
Der forcierte Einsatz von Austriazismen und Wiener Dialektwörtern wird durch den gedankenlosen Gebrauch von bundesdeutschen Ausdrücken wie "Armleuchter", "Zicke", "verklickern" oder "Weichei" konterkariert, Vokabeln, die den Österreichern vor dem Siegeszug des Kabelfernsehens schon gar nicht über die Lippen kamen. Das Glossar wurde offenbar allzu schnell gebastelt, manches fehlt, einiges ist überflüssig (etwa die Mondscheinsonate), anderes schlicht falsch: die "Tüchent" statt der "Tuchent" (Daunendecke) oder der "Esel Buridan" statt "Buridans Esel".
Freilich lotet "Der Kalte" im kapitelweisen Fortschreiten vom kollektiven "Als ob" über das "Na und" zum "Dennoch" das Ausmaß der Modernisierungsschmerzen aus, die in der Waldheimat just mit dem Aufdecken von Vergangenem einhergingen. "Das schrille Zugleich bedeckte Verschwundnes / Wie Schnee", dichtete Schindel. Gerettet wird das Buch aber von seinem Titelhelden, der der Hysterie in beiden Lagern seine Philosophie der Kaltblütigkeit entgegensetzt und nur einmal weint: als sein Freundfeind Wilhelm Rosinger, der reuige Exnazi und Mord-Gehilfe, unters Auto kommt. Viele Schachpartien im Kaffeehaus und der Austausch haarsträubender KZ-Geschichten haben ihn dem müde werdenden Kämpfer nähergebracht: "Was Auschwitz war, weiß nur der Auschwitzer."
"Ich bin und bleibe Lyriker" lautet die stehende Wendung des Paul Hirschfeld, der sich darüber beklagt, dass sein deutscher Verlag von ihm der Kasse wegen einen Roman fordert, und diese "Raubersgschicht" trotzdem schreibt. Das selbstironische Bekenntnis verrät, dass Schindel mit der Rolle des Romanciers nicht so recht warm geworden ist. Die Doktrin des kalten Blutes verstärkt einerseits den Eindruck einer Pflichtübung: Ein Zeitalter selbstsüchtiger Zwerge wird besichtigt, mag es sich noch so wehren. Andererseits hält der Erzähler Äquidistanz. Er erzählt mit grimmiger Gelassenheit nicht nur von virulentem Antisemitismus und dem intakten Netzwerk der alten Kameraden, sondern auch von der Verleumdung des Präsidenten als Kriegsverbrecher und den innerjüdischen Diskussionen darüber und über die "masochistische Internationale". Nicht allein der SS-Sanitätsgehilfe Rosinger wird mit verstörendem Verständnissinn porträtiert, der vielgeschmähte vergessliche Präsident erscheint als einer, der die Lüge verabscheut. Das Würgen am bitteren Knödel Heimat: Vermutlich war ein Vierteljahrhundert Abstand nötig, um ein Zeitbild sine ira et studio zu vollbringen. Und das ist immerhin kein kleines Verdienst.
DANIELA STRIGL
Robert Schindel: "Der Kalte".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 662 S., geb., 24,95 [Euro].
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»Der Kalte ist ein Roman über eine Gesellschaft, die sich vor sich selbst fürchtet und gerade deshalb diese so vehement wie verbissen verteidigt. Insofern ist es auch ein Gegenwartsroman über unsere seltsam starre Selbstverteidigergesellschaft.« Dirk Pilz Frankfurter Rundschau 20130914