Österreich in den »Waldheimjahren«: Während der Skandal um den neuen Staatspräsidenten auf den Höhepunkt zutreibt, streift der Spanienveteran und KZ-Überlebende Edmund Fraul ruhelos durch Wien: Dem Lager nie entkommen, bis ins Mark kalt, kann er Gefühle nicht äußern, ja nicht einmal spüren. Bis er auf seinen Wanderungen durch Wien einem ehemaligen KZ-Aufseher begegnet und mit ihm ins Gespräch kommt: über Auschwitz. Robert Schindel führt uns nach Gebürtig erneut in den Wiener Kosmos: in eine Welt politischer, künstlerischer und menschlicher Feindschaften und Zerreißproben, in ein Geflecht von Tragödien und Liebesgeschichten, die so gut glücklich enden können wie tödlich.
Figurenreich, weltstädtisch, kämpferisch ist dieser Roman, sanft und von großer sprachlicher Schönheit - und getragen von der Hoffnung, dass Wärme und Lebendigkeit einer neuen Zeit in die erkalteten Beziehungen von einst zurückkehren.
Figurenreich, weltstädtisch, kämpferisch ist dieser Roman, sanft und von großer sprachlicher Schönheit - und getragen von der Hoffnung, dass Wärme und Lebendigkeit einer neuen Zeit in die erkalteten Beziehungen von einst zurückkehren.
»Der Kalte ist ein Roman über eine Gesellschaft, die sich vor sich selbst fürchtet und gerade deshalb diese so vehement wie verbissen verteidigt. Insofern ist es auch ein Gegenwartsroman über unsere seltsam starre Selbstverteidigergesellschaft.« Dirk Pilz Frankfurter Rundschau 20130914
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Viel Gutes kann Rezensent Franz Haas Robert Schindels neuem und lang erwarteten Roman "Der Kalte" leider nicht abgewinnen. Er wirft dem längst auch als Romanautor tätigen Lyriker vor, in seinen Romanen einmal mehr ein ernstes Thema der Zeitgeschichte zu einem "seichten Prosareigen" um die Wiener Polit- und Kulturschickeria "aufzublasen". Den Kritiker verschlägt es in diesem Fall ins Wien der Jahre 1985 bis 1989, als Österreichs Mitschuld am Nationalsozialismus immer offenkundiger wurde, Kurt Waldheim trotz NS-Vergangenheit Bundespräsident wurde und der rechtsradikale Jörg Haider große Erfolge feierte. Haas liest hier so viele detailreich rekonstruierte Fakten des Polit- und Kulturkampfes, dass ihm die meisten - unnötig verschlüsselten - Romanfiguren, etwa Elfriede Jelinek im Kaffeehaus oder der grimmige Thomas Bernhard, allzu "blutleer" erscheinen. In der wunderbar "poetisch-kathartisch" geschilderten Zusammenkunft zwischen dem KZ-Überlebenden Edmund Fraul und dem ehemaligen KZ-Aufseher Wilhelm Rosinger, die oft beinahe schweigend ihre Erfahrungen "austauschen", erkennt der Rezensent dann allerdings doch noch die Virtuosität, die er an dem Lyriker Schindler schätzt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2013Das Würgen am bitteren Knödel Heimat
Robert Schindel erzählt in "Der Kalte" mit grimmiger Gelassenheit von den Jahren der österreichischen Waldheim-Ära. Dem gewaltigen Stoff rückt der Autor mit spielerischer Verschlüsselung zu Leibe, doch die Konstruktion des Romans hält nicht.
Damals war alles an Heimat Allotria / Damals war dieses Wort ein bitterer Knödel / Im Blähhals der Anderen der Damaligen". Der Epochenroman ist das schiere Gegenstück zum Zeitgedicht: Was da skizziert wird, wird dort ausgemalt. Mit "Der Kalte" hat der Lyriker Robert Schindel versucht, das Bild der Waldheim-Jahre zu zeichnen oder eher: zu malen, in wahrhaft epischer Breite und mit verschwenderischem Farbauftrag.
Mit der Debatte um die Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten 1986 verlor das Nachkriegsösterreich seine politische Unschuld. Dass der einstige UN-Generalsekretär seinen Wehrmachtseinsatz auf dem Balkan aus seiner Biographie wegretuschiert hatte und die Aufregung über dessen Entdeckung nicht verstand, dass der Jüdische Weltkongress ihn als Kriegsverbrecher brandmarkte und die Österreichische Volkspartei (ÖVP) den Wahlslogan "Jetzt erst recht!" ausgab - all das spaltete das Land und veränderte schließlich die kollektive Selbstwahrnehmung: Das erste Opfer Hitlers war auch (und bald nur noch) ein Land der Täter.
Schindel hatte nach dem Erfolg seines Romandebüts "Gebürtig" (1992) eine Fortsetzung angekündigt, sechs Jahre später erschien das erste Kapitel von "Der Kalte" in den "manuskripten". Jetzt sieht sich die Kritik in der Zwickmühle: Wie sollte man ein 660-Seiten-Werk, das seinen Autor zwanzig Jahre beschäftigt hat, anders als geglückt finden? Wie andererseits seine offensichtlichen Konstruktionsmängel übersehen?
"Der Kalte" ist Edmund Fraul, einst Lagerschreiber in Auschwitz, Kommunist, Spanien-Kämpfer und Halbjude, was den Nazis entging. Die Handlung umfasst die Zeit von seinem 66. Geburtstag im Jahr 1985 bis zu seinem 70. Geburtstag 1989. Fraul ist ein öffentlicher Zeitzeuge, der bei der Vorbereitung von Nazi-Prozessen hilft und der furchtbaren Erinnerung durch Eiseskälte beizukommen sucht. Seinem Sohn Karl (oder, man weiß nicht warum: Karel), dem aufstrebenden Burgschauspieler, ist der "Heldenvater" fremd geblieben, seiner Frau Rosa immer fremder geworden - auch sie war in Auschwitz, aus "rassischen" Gründen, kennengelernt haben sie sich erst danach, der gemeinsame Alltag gewährt ihnen eine trügerische Sicherheit, in ihren Albträumen sind sie allein.
Der Erzähler bewegt sich nah an der hagestolzen Hauptfigur und ihren Trabanten, um immer wieder aus der dritten Person plötzlich in die erste zu fallen und sich so in mehrere Ichs aufzuspalten: in die deutsche Schauspielerin Astrid von Gehlen, den Südtiroler Journalisten Roman Apolloner, seine Kollegin Judith Zischka, die Ärztin Margit Keyntz, ihren jüngeren Bruder Stefan, der Tagebuch über sein pubertäres Frühlingserwachen führt, und den Kaffeehausdichter Paul Hirschfeld, der uns als Schindels Spiegelbild entgegenblickt. Die abrupten Perspektivwechsel machen den Überblick über die Armee der Protagonisten und deren politische und erotische Scharmützel nicht unbedingt leichter: Karl Fraul verlässt Margit Keyntz zugunsten der alle überstrahlenden Diva von Gehlen.
Roman Apolloner, der den alten Fraul interviewt und die Wehrstammkarte des ÖVP-Kandidaten Wais, recte Waldheim, entdeckt, fängt etwas mit Judith Zischka an, die am Schluss beim Publikumsliebling Felix Dauendin landet, dem betrogenen Ehemann der zuletzt ebenfalls betrogenen von Gehlen. Ins Spital der Frau Dr. Keyntz kommt Frau Fraul nach einem Herzinfarkt. "Die Rax hilft immer", sagt man der Rekonvaleszenten. (Und wirklich, beim Wandern auf dem Wiener Hausberg erledigt sich der aus "Gebürtig" bekannte SS-Schlächter Egger selbst.) Die Ärztin verwindet den Abgang von Fraul jun. nicht, sie nimmt sich das Leben. Der Autor aber lässt sie ungerührt als Ich sprechen wie die anderen auch, ohne sich die Frage zu stellen, von welchem extraterrestrischen Standpunkt aus sie berichten könnte. Seinen Studenten am Wiener "Institut für Sprachkunst" hätte er so etwas nicht durchgehen lassen.
Dass Schindel mit dem jungen Fraul ein Epizentrum des Stücks im Burgtheater ansiedelt, ist hingegen ein Kunstgriff: Ganz Österreich wird in diesen Jahren zur Bühne, auf der bald Schmiere zu sehen ist, bald große Tragödie. 1986 erwies sich der neue Burgtheaterdirektor Claus Peymann als die perfekte Besetzung. Als "Piefke" und Revoluzzer im Land wie im Ensemble heiß umstritten, goss er mit seiner Inszenierung von Thomas Bernhards dramatischer Österreich-Abrechnung "Heldenplatz" genüsslich Öl ins Feuer. Von Altbundeskanzler Kreisky abwärts hatten die Akteure ihren Auftritt in der Empörungsarena. Schindel rückt diesem gewaltigen Stoff mit spielerischer Verschlüsselung zu Leibe, so heißt Waldheim Wais, Peymann Schönn und der wodkagestählte Alfred Hrdlicka, der mit seinem Holzpferd gegen Waldheims verheimlichte Mitgliedschaft bei der SA-Reiterstandarte protestierte und mit seinem antifaschistischen Mahnmal hinter der Staatsoper noch einen Skandalschauplatz eröffnete, figuriert als Herbert Krieglach. Schindels Wahrheit ist semihistorisch: Während Waldheim seine Amtszeit absaß, tritt Wais nach der Halbzeit zurück.
Über weite Strecken bleiben die Figuren Pappkameraden, sie treten an die Rampe, werden vorgezeigt, gewinnen nicht Statur. Mitunter laufen sie als narrative Litfaßsäulen herum: "Meine eigene Geschichte ist ja ganz gewöhnlich als Enkel von Südtiroler Optanten, selber in Graz geboren und aufgewachsen in Innsbruck", sagt Apolloner sich und uns. Gelungenen Bildern ("die grünbärtige Ruprechtskirche") stehen nicht wenige überspannte Metaphern gegenüber - einer "grätschte mit dem Mund", Lider heißen "Augendeckel", der notgeile Karl Fraul fleht gar: "Asta, mir zerspringen die Hüften."
Den Reiz des Lokalkolorits hat der Autor allzu wörtlich genommen. Ein Gutteil des Geschehens spielt in real existierenden Lokalen wie dem "Oswald & Kalb", "Hawelka" oder "Korb". Manches hat Witz, doch allzu selten glückt die Verwandlung von Topographie in Atmosphäre. Wenn der "Kalte" rastlos durch Wien zieht, bleibt kaum ein Gassenname, kaum ein Heißgetränk unerwähnt.
Der forcierte Einsatz von Austriazismen und Wiener Dialektwörtern wird durch den gedankenlosen Gebrauch von bundesdeutschen Ausdrücken wie "Armleuchter", "Zicke", "verklickern" oder "Weichei" konterkariert, Vokabeln, die den Österreichern vor dem Siegeszug des Kabelfernsehens schon gar nicht über die Lippen kamen. Das Glossar wurde offenbar allzu schnell gebastelt, manches fehlt, einiges ist überflüssig (etwa die Mondscheinsonate), anderes schlicht falsch: die "Tüchent" statt der "Tuchent" (Daunendecke) oder der "Esel Buridan" statt "Buridans Esel".
Freilich lotet "Der Kalte" im kapitelweisen Fortschreiten vom kollektiven "Als ob" über das "Na und" zum "Dennoch" das Ausmaß der Modernisierungsschmerzen aus, die in der Waldheimat just mit dem Aufdecken von Vergangenem einhergingen. "Das schrille Zugleich bedeckte Verschwundnes / Wie Schnee", dichtete Schindel. Gerettet wird das Buch aber von seinem Titelhelden, der der Hysterie in beiden Lagern seine Philosophie der Kaltblütigkeit entgegensetzt und nur einmal weint: als sein Freundfeind Wilhelm Rosinger, der reuige Exnazi und Mord-Gehilfe, unters Auto kommt. Viele Schachpartien im Kaffeehaus und der Austausch haarsträubender KZ-Geschichten haben ihn dem müde werdenden Kämpfer nähergebracht: "Was Auschwitz war, weiß nur der Auschwitzer."
"Ich bin und bleibe Lyriker" lautet die stehende Wendung des Paul Hirschfeld, der sich darüber beklagt, dass sein deutscher Verlag von ihm der Kasse wegen einen Roman fordert, und diese "Raubersgschicht" trotzdem schreibt. Das selbstironische Bekenntnis verrät, dass Schindel mit der Rolle des Romanciers nicht so recht warm geworden ist. Die Doktrin des kalten Blutes verstärkt einerseits den Eindruck einer Pflichtübung: Ein Zeitalter selbstsüchtiger Zwerge wird besichtigt, mag es sich noch so wehren. Andererseits hält der Erzähler Äquidistanz. Er erzählt mit grimmiger Gelassenheit nicht nur von virulentem Antisemitismus und dem intakten Netzwerk der alten Kameraden, sondern auch von der Verleumdung des Präsidenten als Kriegsverbrecher und den innerjüdischen Diskussionen darüber und über die "masochistische Internationale". Nicht allein der SS-Sanitätsgehilfe Rosinger wird mit verstörendem Verständnissinn porträtiert, der vielgeschmähte vergessliche Präsident erscheint als einer, der die Lüge verabscheut. Das Würgen am bitteren Knödel Heimat: Vermutlich war ein Vierteljahrhundert Abstand nötig, um ein Zeitbild sine ira et studio zu vollbringen. Und das ist immerhin kein kleines Verdienst.
DANIELA STRIGL
Robert Schindel: "Der Kalte".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 662 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Robert Schindel erzählt in "Der Kalte" mit grimmiger Gelassenheit von den Jahren der österreichischen Waldheim-Ära. Dem gewaltigen Stoff rückt der Autor mit spielerischer Verschlüsselung zu Leibe, doch die Konstruktion des Romans hält nicht.
Damals war alles an Heimat Allotria / Damals war dieses Wort ein bitterer Knödel / Im Blähhals der Anderen der Damaligen". Der Epochenroman ist das schiere Gegenstück zum Zeitgedicht: Was da skizziert wird, wird dort ausgemalt. Mit "Der Kalte" hat der Lyriker Robert Schindel versucht, das Bild der Waldheim-Jahre zu zeichnen oder eher: zu malen, in wahrhaft epischer Breite und mit verschwenderischem Farbauftrag.
Mit der Debatte um die Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten 1986 verlor das Nachkriegsösterreich seine politische Unschuld. Dass der einstige UN-Generalsekretär seinen Wehrmachtseinsatz auf dem Balkan aus seiner Biographie wegretuschiert hatte und die Aufregung über dessen Entdeckung nicht verstand, dass der Jüdische Weltkongress ihn als Kriegsverbrecher brandmarkte und die Österreichische Volkspartei (ÖVP) den Wahlslogan "Jetzt erst recht!" ausgab - all das spaltete das Land und veränderte schließlich die kollektive Selbstwahrnehmung: Das erste Opfer Hitlers war auch (und bald nur noch) ein Land der Täter.
Schindel hatte nach dem Erfolg seines Romandebüts "Gebürtig" (1992) eine Fortsetzung angekündigt, sechs Jahre später erschien das erste Kapitel von "Der Kalte" in den "manuskripten". Jetzt sieht sich die Kritik in der Zwickmühle: Wie sollte man ein 660-Seiten-Werk, das seinen Autor zwanzig Jahre beschäftigt hat, anders als geglückt finden? Wie andererseits seine offensichtlichen Konstruktionsmängel übersehen?
"Der Kalte" ist Edmund Fraul, einst Lagerschreiber in Auschwitz, Kommunist, Spanien-Kämpfer und Halbjude, was den Nazis entging. Die Handlung umfasst die Zeit von seinem 66. Geburtstag im Jahr 1985 bis zu seinem 70. Geburtstag 1989. Fraul ist ein öffentlicher Zeitzeuge, der bei der Vorbereitung von Nazi-Prozessen hilft und der furchtbaren Erinnerung durch Eiseskälte beizukommen sucht. Seinem Sohn Karl (oder, man weiß nicht warum: Karel), dem aufstrebenden Burgschauspieler, ist der "Heldenvater" fremd geblieben, seiner Frau Rosa immer fremder geworden - auch sie war in Auschwitz, aus "rassischen" Gründen, kennengelernt haben sie sich erst danach, der gemeinsame Alltag gewährt ihnen eine trügerische Sicherheit, in ihren Albträumen sind sie allein.
Der Erzähler bewegt sich nah an der hagestolzen Hauptfigur und ihren Trabanten, um immer wieder aus der dritten Person plötzlich in die erste zu fallen und sich so in mehrere Ichs aufzuspalten: in die deutsche Schauspielerin Astrid von Gehlen, den Südtiroler Journalisten Roman Apolloner, seine Kollegin Judith Zischka, die Ärztin Margit Keyntz, ihren jüngeren Bruder Stefan, der Tagebuch über sein pubertäres Frühlingserwachen führt, und den Kaffeehausdichter Paul Hirschfeld, der uns als Schindels Spiegelbild entgegenblickt. Die abrupten Perspektivwechsel machen den Überblick über die Armee der Protagonisten und deren politische und erotische Scharmützel nicht unbedingt leichter: Karl Fraul verlässt Margit Keyntz zugunsten der alle überstrahlenden Diva von Gehlen.
Roman Apolloner, der den alten Fraul interviewt und die Wehrstammkarte des ÖVP-Kandidaten Wais, recte Waldheim, entdeckt, fängt etwas mit Judith Zischka an, die am Schluss beim Publikumsliebling Felix Dauendin landet, dem betrogenen Ehemann der zuletzt ebenfalls betrogenen von Gehlen. Ins Spital der Frau Dr. Keyntz kommt Frau Fraul nach einem Herzinfarkt. "Die Rax hilft immer", sagt man der Rekonvaleszenten. (Und wirklich, beim Wandern auf dem Wiener Hausberg erledigt sich der aus "Gebürtig" bekannte SS-Schlächter Egger selbst.) Die Ärztin verwindet den Abgang von Fraul jun. nicht, sie nimmt sich das Leben. Der Autor aber lässt sie ungerührt als Ich sprechen wie die anderen auch, ohne sich die Frage zu stellen, von welchem extraterrestrischen Standpunkt aus sie berichten könnte. Seinen Studenten am Wiener "Institut für Sprachkunst" hätte er so etwas nicht durchgehen lassen.
Dass Schindel mit dem jungen Fraul ein Epizentrum des Stücks im Burgtheater ansiedelt, ist hingegen ein Kunstgriff: Ganz Österreich wird in diesen Jahren zur Bühne, auf der bald Schmiere zu sehen ist, bald große Tragödie. 1986 erwies sich der neue Burgtheaterdirektor Claus Peymann als die perfekte Besetzung. Als "Piefke" und Revoluzzer im Land wie im Ensemble heiß umstritten, goss er mit seiner Inszenierung von Thomas Bernhards dramatischer Österreich-Abrechnung "Heldenplatz" genüsslich Öl ins Feuer. Von Altbundeskanzler Kreisky abwärts hatten die Akteure ihren Auftritt in der Empörungsarena. Schindel rückt diesem gewaltigen Stoff mit spielerischer Verschlüsselung zu Leibe, so heißt Waldheim Wais, Peymann Schönn und der wodkagestählte Alfred Hrdlicka, der mit seinem Holzpferd gegen Waldheims verheimlichte Mitgliedschaft bei der SA-Reiterstandarte protestierte und mit seinem antifaschistischen Mahnmal hinter der Staatsoper noch einen Skandalschauplatz eröffnete, figuriert als Herbert Krieglach. Schindels Wahrheit ist semihistorisch: Während Waldheim seine Amtszeit absaß, tritt Wais nach der Halbzeit zurück.
Über weite Strecken bleiben die Figuren Pappkameraden, sie treten an die Rampe, werden vorgezeigt, gewinnen nicht Statur. Mitunter laufen sie als narrative Litfaßsäulen herum: "Meine eigene Geschichte ist ja ganz gewöhnlich als Enkel von Südtiroler Optanten, selber in Graz geboren und aufgewachsen in Innsbruck", sagt Apolloner sich und uns. Gelungenen Bildern ("die grünbärtige Ruprechtskirche") stehen nicht wenige überspannte Metaphern gegenüber - einer "grätschte mit dem Mund", Lider heißen "Augendeckel", der notgeile Karl Fraul fleht gar: "Asta, mir zerspringen die Hüften."
Den Reiz des Lokalkolorits hat der Autor allzu wörtlich genommen. Ein Gutteil des Geschehens spielt in real existierenden Lokalen wie dem "Oswald & Kalb", "Hawelka" oder "Korb". Manches hat Witz, doch allzu selten glückt die Verwandlung von Topographie in Atmosphäre. Wenn der "Kalte" rastlos durch Wien zieht, bleibt kaum ein Gassenname, kaum ein Heißgetränk unerwähnt.
Der forcierte Einsatz von Austriazismen und Wiener Dialektwörtern wird durch den gedankenlosen Gebrauch von bundesdeutschen Ausdrücken wie "Armleuchter", "Zicke", "verklickern" oder "Weichei" konterkariert, Vokabeln, die den Österreichern vor dem Siegeszug des Kabelfernsehens schon gar nicht über die Lippen kamen. Das Glossar wurde offenbar allzu schnell gebastelt, manches fehlt, einiges ist überflüssig (etwa die Mondscheinsonate), anderes schlicht falsch: die "Tüchent" statt der "Tuchent" (Daunendecke) oder der "Esel Buridan" statt "Buridans Esel".
Freilich lotet "Der Kalte" im kapitelweisen Fortschreiten vom kollektiven "Als ob" über das "Na und" zum "Dennoch" das Ausmaß der Modernisierungsschmerzen aus, die in der Waldheimat just mit dem Aufdecken von Vergangenem einhergingen. "Das schrille Zugleich bedeckte Verschwundnes / Wie Schnee", dichtete Schindel. Gerettet wird das Buch aber von seinem Titelhelden, der der Hysterie in beiden Lagern seine Philosophie der Kaltblütigkeit entgegensetzt und nur einmal weint: als sein Freundfeind Wilhelm Rosinger, der reuige Exnazi und Mord-Gehilfe, unters Auto kommt. Viele Schachpartien im Kaffeehaus und der Austausch haarsträubender KZ-Geschichten haben ihn dem müde werdenden Kämpfer nähergebracht: "Was Auschwitz war, weiß nur der Auschwitzer."
"Ich bin und bleibe Lyriker" lautet die stehende Wendung des Paul Hirschfeld, der sich darüber beklagt, dass sein deutscher Verlag von ihm der Kasse wegen einen Roman fordert, und diese "Raubersgschicht" trotzdem schreibt. Das selbstironische Bekenntnis verrät, dass Schindel mit der Rolle des Romanciers nicht so recht warm geworden ist. Die Doktrin des kalten Blutes verstärkt einerseits den Eindruck einer Pflichtübung: Ein Zeitalter selbstsüchtiger Zwerge wird besichtigt, mag es sich noch so wehren. Andererseits hält der Erzähler Äquidistanz. Er erzählt mit grimmiger Gelassenheit nicht nur von virulentem Antisemitismus und dem intakten Netzwerk der alten Kameraden, sondern auch von der Verleumdung des Präsidenten als Kriegsverbrecher und den innerjüdischen Diskussionen darüber und über die "masochistische Internationale". Nicht allein der SS-Sanitätsgehilfe Rosinger wird mit verstörendem Verständnissinn porträtiert, der vielgeschmähte vergessliche Präsident erscheint als einer, der die Lüge verabscheut. Das Würgen am bitteren Knödel Heimat: Vermutlich war ein Vierteljahrhundert Abstand nötig, um ein Zeitbild sine ira et studio zu vollbringen. Und das ist immerhin kein kleines Verdienst.
DANIELA STRIGL
Robert Schindel: "Der Kalte".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 662 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.04.2013Wien, Wein, Waldheim
Mit der Geisterbahn zum Heldenplatz: Robert Schindels Roman „Der Kalte“
Das ist im Grunde die 500 000-Euro-Frage für jede Quiz Show: Wie heißt der Bundeskanzler von Österreich? Die Over-Forties könnten es sich leicht merken, weil sein Name so ähnlich klingt wie der des ehemaligen, zum Mediendonner begabten Burgtheaterdirektors Peymann: Faymann. Und Bundespräsident Fischer erscheint alljährlich – gut sichtbar bei den Live-Übertragungen – in der repräsentativen Mittelloge beim Opernball. Den Blick des Normalverbrauchers auf Österreich bestimmen Skipisten, Wanderwege, Schnitzel Beisel, Heurigenstationen und Jodeldodelmusik, moderiert von Andy Borg.
Aber man täuscht sich allzu leicht. In diesem kleinen Land mit nur gut 8 Millionen Staatsbürgern geht es rund, man liebt den Skandal. Es ist nicht leicht, Österreich zu verstehen, das Land zwischen Wiener Heldenplatz und dem Kärntner Bärental, von dem so viele so wenig wissen, was es dann auf den ersten Blick ein bisschen problematisch macht, wenn Robert Schindel nun mit „Der Kalte“ ein Buch vorlegt, das auch als Schlüsselroman zu lesen ist, was einem auch ein bisschen überflüssig vorkommt, wenn ohnehin die meisten den Namen eines Bundeskanzlers wie Sinowatz für einen Phantasienamen halten würden.
Jörg Haider, der begabte Demagoge, wurde zwar nie Bundeskanzler in Österreich, aber seine Folgen haben doch ein Land ohne Mitte hinterlassen. In den vorstädtischen Beiseln begegnet man bis heute der Robustheit des Provinziellen, und im Schnitzelfettgestank halten die alten Vorurteile durch, fast wie aus Trotz: „Trotz ist eine österreichische Kategorie des Politischen“, schreibt Schindel, der seine Leser in die finstere Welt der Parteibuchintriganten einführt, in die Hinterzimmerpolitik und eine Welt, in der es vor Sex- und Machtgier in den Betten rumpelt – Bacchanal der Egozentriker in Balkanesien. Man trifft im Grunde keinen einzigen sympathischen Menschen, weil dieses Buch eben nicht nur ein Schlüsselroman, sondern auch ein Wien-Buch ist, das einen durch die Provinzmetropole führt, vom Café „Korb“ bis zum „Zartl“, durch Straßen und über Plätze, die alle beim Namen genannt werden. Erzählt wird aus ständig wechselnden Perspektiven. So verstrickt man sich, an unterschiedlichen Leben beteiligt, in die Subjektivität der Berichtenden, vom Schauspieler bis zum Politverbrecher.
„Der Kalte“ ist eben nicht nur ein Schlüsselroman, sondern ein Buch, das von einer Zeit heftiger Auseinandersetzungen erzählt. Gleich drei Konflikte zerren an den Nerven nicht nur der Wiener. Um die Akteure beim Namen zu nennen: Der Bildhauer Alfred Hrdlicka will sein Antifaschismus- Denkmal direkt vor der Albertina platzieren, also direkt neben dem „Sacher“ und hinter der Staatsoper. Kurt Waldheim, ein Mann mit Nazivergangenheit, wird trotz größter Proteste neuer Staatspräsident, und im Burgtheater rumort es, weil der Piefke Claus Peymann als vom Ausland gefeierter Direktor des Nationaltheaters mit dem Österreich-Kritiker Thomas Bernhard gemeinsame Sache macht. Gerade – wir sind im Jahr 1988 – entsteht dessen Stück „Heldenplatz“, bekämpft als Sudelstück eines Nestbeschmutzers. Helmut Zilk ist Bürgermeister, Dagmar Koller Wiens First Lady und in der Magistratsabteilung für Kultur herrscht Ursula Pasterk, eine Frau mit Mut, genannt „Die rote Ursel“. Eine hochbrisante Mischung. Damals war der Bär los in Wien, und die Volksseele jaulte trotzig auf.
Die Hauptperson des Romans ist Edmund Fraul, alter Spanienkämpfer und
KZ-Überlebender, der sein ganzes Leben der Erinnerung an die braune Schande verschrieben hat, in einem Land der Vergangenheitsverdränger, das sich als „erstes Opfer Hitlers“ aus der Affäre ziehen wollte und sogar 1968 versäumt hat. Der alte Fraul hat zwar überlebt, aber sein Gefühlsleben, versteinert vom Grauen, ist dabei auf der Strecke geblieben. Sein gerechter Kampf um Aufklärung hat ihn aus der Mitmenschlichkeit entfernt. Er ist „Der Kalte“, der Schindels Roman den Titel gibt. Auch dieser alte Jude, zerbrochen am Untergang der Zivilisation, ist nicht einfach ein positiver Held.
Obwohl man seinen Furor verstehen kann. Regelmäßig trifft er in seinen Stammbeiseln einen ehemaligen KZ-Wärter, der bereut, ihn zu unterstützen versucht und aus dem Lageralltag berichtet. Neben Geschichten nackten Horrors stehen die Abgründe von Beziehungskisten oder der Sumpf politischer Gegenwart. Einerseits die Banalität des Bösen, andererseits böse Banalitäten. So sieht die Welt aus in einem Roman, der nicht pessimistisch, sondern von einem großen Realitätssinn geprägt ist. Das Gute ist kein selbstverständlicher Teil der Wirklichkeit, sondern einer stets gefährdeten Kultur, die Antifaschismus-Denkmäler schafft und Stücke wie „Heldenplatz“.
Robert Schindel wurde 1944 in Bad Hall als Kind jüdischer Kommunisten geboren, der Vater starb in Dachau, seine Mutter überlebte Auschwitz. Sein erster großer Roman „Gebürtig“ war 1992 ein riesiger Erfolg. Schindel kam einem schon immer sehr geerdet vor, kein österreichischer Kunstpathetiker, eher ein Versachlicher. Unter die historischen Akteure hat er Material gemischt, das seinen Erfahrungen entspringt und einen über 644 Seiten spannenden Roman geschrieben, zu dessen Botschaft gehört, dass auch die krassesten Begebenheiten nicht nur Sonderfälle sein werden, sondern zum Milieu dieser Stadt gehören. Das Reaktionäre ist Teil des Selbstverständnisses von Wien.
Frauls Sohn, der mit seinem lieblosen Vater hadert und mitleidig versoffen einer Liebesschuld nachtrauert, ist Burgtheaterstar und schon durch seinen Schauspielerberuf zum Egomanen verurteilt. In der Welt des Burgtheaters treffen sich Fieberköpfe unter der Gürtellinie, haben auch mutige politische Entscheidungen noch einen Rest von Kantinenmief und Selbstdarstellung. Niedrige Motive beschädigen die gehobensten Verlautbarungen. Frauen verunstalten sich im Divengehabe.
Der Faschismus-Denkmal-Künstler ist ein widerlicher Macho. Die Journalisten und Journalistinnen sind abhängige Wegelagerer, Trüffelschweine für den nächsten Skandalbericht. Im Vorhof der Macht des Journalismus riecht es übel. Und hinter den Kulissen der Macht geht es zu wie bei Hempels unterm Sofa. Auf dem Niveau von Beiseldiskursen werden Entscheidungen getroffen. Oben ist es wie unten, nicht anders. Und auch Israel, wohin nebenbei eine Liebesgeschichte führt, ist alles andere als beispielhaft.
Waldheim, der Skandalpräsident, versteht die Welt nicht mehr und einer sagt bei Schindel: „Solang einer hier nicht eigenhändig sechs Juden erwürgt hat, ist er wählbar. Es ist zum Speiben.“ In den Beiseln aber gilt der Präsident als „anständiger Österreicher“. Die Volksseele trotzt weiterhin: „Provinziell, aber arrogant, larmoyant, aber robust wie eine deutsche Eiche.“ Unterdessen stehen Schindels Kanzler und Präsidenten in ihren Amtsräumen immer wieder vor den großen Fenstern und schauen hinaus auf die Stadt und über die Stadt hinaus auf das Land. Wie Philosophen ohne Hirn. Wie Verantwortliche, die schon jetzt von nichts gewusst haben.
Das sind die großen, stillen, nur zwei drei Sätze verbrauchenden Szenen dieses Buches. Da ist die Macht ganz bei sich. In stiller Einfallt. „Der Kalte“ ist ein hervorragender Roman über Wien, aber auch ein Österreich-Panorama. Und ein Bericht über den Schmutz der Politik. Das abwesende Gute bleibt denkbar.
HELMUT SCHÖDEL
Robert Schindel: Der Kalte. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 663 Seiten,
24,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mit der Geisterbahn zum Heldenplatz: Robert Schindels Roman „Der Kalte“
Das ist im Grunde die 500 000-Euro-Frage für jede Quiz Show: Wie heißt der Bundeskanzler von Österreich? Die Over-Forties könnten es sich leicht merken, weil sein Name so ähnlich klingt wie der des ehemaligen, zum Mediendonner begabten Burgtheaterdirektors Peymann: Faymann. Und Bundespräsident Fischer erscheint alljährlich – gut sichtbar bei den Live-Übertragungen – in der repräsentativen Mittelloge beim Opernball. Den Blick des Normalverbrauchers auf Österreich bestimmen Skipisten, Wanderwege, Schnitzel Beisel, Heurigenstationen und Jodeldodelmusik, moderiert von Andy Borg.
Aber man täuscht sich allzu leicht. In diesem kleinen Land mit nur gut 8 Millionen Staatsbürgern geht es rund, man liebt den Skandal. Es ist nicht leicht, Österreich zu verstehen, das Land zwischen Wiener Heldenplatz und dem Kärntner Bärental, von dem so viele so wenig wissen, was es dann auf den ersten Blick ein bisschen problematisch macht, wenn Robert Schindel nun mit „Der Kalte“ ein Buch vorlegt, das auch als Schlüsselroman zu lesen ist, was einem auch ein bisschen überflüssig vorkommt, wenn ohnehin die meisten den Namen eines Bundeskanzlers wie Sinowatz für einen Phantasienamen halten würden.
Jörg Haider, der begabte Demagoge, wurde zwar nie Bundeskanzler in Österreich, aber seine Folgen haben doch ein Land ohne Mitte hinterlassen. In den vorstädtischen Beiseln begegnet man bis heute der Robustheit des Provinziellen, und im Schnitzelfettgestank halten die alten Vorurteile durch, fast wie aus Trotz: „Trotz ist eine österreichische Kategorie des Politischen“, schreibt Schindel, der seine Leser in die finstere Welt der Parteibuchintriganten einführt, in die Hinterzimmerpolitik und eine Welt, in der es vor Sex- und Machtgier in den Betten rumpelt – Bacchanal der Egozentriker in Balkanesien. Man trifft im Grunde keinen einzigen sympathischen Menschen, weil dieses Buch eben nicht nur ein Schlüsselroman, sondern auch ein Wien-Buch ist, das einen durch die Provinzmetropole führt, vom Café „Korb“ bis zum „Zartl“, durch Straßen und über Plätze, die alle beim Namen genannt werden. Erzählt wird aus ständig wechselnden Perspektiven. So verstrickt man sich, an unterschiedlichen Leben beteiligt, in die Subjektivität der Berichtenden, vom Schauspieler bis zum Politverbrecher.
„Der Kalte“ ist eben nicht nur ein Schlüsselroman, sondern ein Buch, das von einer Zeit heftiger Auseinandersetzungen erzählt. Gleich drei Konflikte zerren an den Nerven nicht nur der Wiener. Um die Akteure beim Namen zu nennen: Der Bildhauer Alfred Hrdlicka will sein Antifaschismus- Denkmal direkt vor der Albertina platzieren, also direkt neben dem „Sacher“ und hinter der Staatsoper. Kurt Waldheim, ein Mann mit Nazivergangenheit, wird trotz größter Proteste neuer Staatspräsident, und im Burgtheater rumort es, weil der Piefke Claus Peymann als vom Ausland gefeierter Direktor des Nationaltheaters mit dem Österreich-Kritiker Thomas Bernhard gemeinsame Sache macht. Gerade – wir sind im Jahr 1988 – entsteht dessen Stück „Heldenplatz“, bekämpft als Sudelstück eines Nestbeschmutzers. Helmut Zilk ist Bürgermeister, Dagmar Koller Wiens First Lady und in der Magistratsabteilung für Kultur herrscht Ursula Pasterk, eine Frau mit Mut, genannt „Die rote Ursel“. Eine hochbrisante Mischung. Damals war der Bär los in Wien, und die Volksseele jaulte trotzig auf.
Die Hauptperson des Romans ist Edmund Fraul, alter Spanienkämpfer und
KZ-Überlebender, der sein ganzes Leben der Erinnerung an die braune Schande verschrieben hat, in einem Land der Vergangenheitsverdränger, das sich als „erstes Opfer Hitlers“ aus der Affäre ziehen wollte und sogar 1968 versäumt hat. Der alte Fraul hat zwar überlebt, aber sein Gefühlsleben, versteinert vom Grauen, ist dabei auf der Strecke geblieben. Sein gerechter Kampf um Aufklärung hat ihn aus der Mitmenschlichkeit entfernt. Er ist „Der Kalte“, der Schindels Roman den Titel gibt. Auch dieser alte Jude, zerbrochen am Untergang der Zivilisation, ist nicht einfach ein positiver Held.
Obwohl man seinen Furor verstehen kann. Regelmäßig trifft er in seinen Stammbeiseln einen ehemaligen KZ-Wärter, der bereut, ihn zu unterstützen versucht und aus dem Lageralltag berichtet. Neben Geschichten nackten Horrors stehen die Abgründe von Beziehungskisten oder der Sumpf politischer Gegenwart. Einerseits die Banalität des Bösen, andererseits böse Banalitäten. So sieht die Welt aus in einem Roman, der nicht pessimistisch, sondern von einem großen Realitätssinn geprägt ist. Das Gute ist kein selbstverständlicher Teil der Wirklichkeit, sondern einer stets gefährdeten Kultur, die Antifaschismus-Denkmäler schafft und Stücke wie „Heldenplatz“.
Robert Schindel wurde 1944 in Bad Hall als Kind jüdischer Kommunisten geboren, der Vater starb in Dachau, seine Mutter überlebte Auschwitz. Sein erster großer Roman „Gebürtig“ war 1992 ein riesiger Erfolg. Schindel kam einem schon immer sehr geerdet vor, kein österreichischer Kunstpathetiker, eher ein Versachlicher. Unter die historischen Akteure hat er Material gemischt, das seinen Erfahrungen entspringt und einen über 644 Seiten spannenden Roman geschrieben, zu dessen Botschaft gehört, dass auch die krassesten Begebenheiten nicht nur Sonderfälle sein werden, sondern zum Milieu dieser Stadt gehören. Das Reaktionäre ist Teil des Selbstverständnisses von Wien.
Frauls Sohn, der mit seinem lieblosen Vater hadert und mitleidig versoffen einer Liebesschuld nachtrauert, ist Burgtheaterstar und schon durch seinen Schauspielerberuf zum Egomanen verurteilt. In der Welt des Burgtheaters treffen sich Fieberköpfe unter der Gürtellinie, haben auch mutige politische Entscheidungen noch einen Rest von Kantinenmief und Selbstdarstellung. Niedrige Motive beschädigen die gehobensten Verlautbarungen. Frauen verunstalten sich im Divengehabe.
Der Faschismus-Denkmal-Künstler ist ein widerlicher Macho. Die Journalisten und Journalistinnen sind abhängige Wegelagerer, Trüffelschweine für den nächsten Skandalbericht. Im Vorhof der Macht des Journalismus riecht es übel. Und hinter den Kulissen der Macht geht es zu wie bei Hempels unterm Sofa. Auf dem Niveau von Beiseldiskursen werden Entscheidungen getroffen. Oben ist es wie unten, nicht anders. Und auch Israel, wohin nebenbei eine Liebesgeschichte führt, ist alles andere als beispielhaft.
Waldheim, der Skandalpräsident, versteht die Welt nicht mehr und einer sagt bei Schindel: „Solang einer hier nicht eigenhändig sechs Juden erwürgt hat, ist er wählbar. Es ist zum Speiben.“ In den Beiseln aber gilt der Präsident als „anständiger Österreicher“. Die Volksseele trotzt weiterhin: „Provinziell, aber arrogant, larmoyant, aber robust wie eine deutsche Eiche.“ Unterdessen stehen Schindels Kanzler und Präsidenten in ihren Amtsräumen immer wieder vor den großen Fenstern und schauen hinaus auf die Stadt und über die Stadt hinaus auf das Land. Wie Philosophen ohne Hirn. Wie Verantwortliche, die schon jetzt von nichts gewusst haben.
Das sind die großen, stillen, nur zwei drei Sätze verbrauchenden Szenen dieses Buches. Da ist die Macht ganz bei sich. In stiller Einfallt. „Der Kalte“ ist ein hervorragender Roman über Wien, aber auch ein Österreich-Panorama. Und ein Bericht über den Schmutz der Politik. Das abwesende Gute bleibt denkbar.
HELMUT SCHÖDEL
Robert Schindel: Der Kalte. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 663 Seiten,
24,95 Euro.
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