Produktdetails
  • Verlag: Volk und Welt
  • Seitenzahl: 156
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 267g
  • ISBN-13: 9783353011916
  • ISBN-10: 3353011919
  • Artikelnr.: 25103883
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.08.2001

Neueste Nachrichten aus einer gefühllosen Welt
Mord auf allen Kanälen: Thomas Glavinic zeigt, warum Medienkritik immer auch Selbstkritik ist · Von Sebastian Domsch

Was gedruckt steht, ist sprichwörtlich immer schon gelogen. Die bewegten Bilder des Fernsehens dagegen stehen als Garant dafür, daß etwas wirklich passiert ist. Deswegen geht es in Thomas Glavinics so hervorragendem wie beklemmenden Buch "Der Kameramörder" nicht um einen Mord, sondern um die Kamera, die dabeigewesen ist, und deswegen ist die Geschichte da am nächsten an der Realität, wo diese sich in ihrer eigenen Spiegelung verliert.

"Ich wurde gebeten, alles aufzuschreiben." Wer die ersten Zeilen des von Glavinic selbst als Novelle bezeichneten Texts aufmerksam liest, für den gibt es am Ende keine Überraschung, sondern nur die Gewißheit, nicht die ganze Wahrheit zu erfahren. Denn die ist hinter ihrer eigenen Simulation längst verschwunden. Thomas Glavinic, Jahrgang 1972, gehört zur in jüngster Zeit vieldiskutierten jungen Generation deutschsprachiger realistischer Autoren. Doch wenn er gegen die verstiegene Avantgardesucht der österreichischen Literatur in Interviews gerne ein fast schon naiv realistisches Erzählen ins Feld führt, ist das nur ein Ablenkungsmanöver. Was man nach seinem Debütroman "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden" noch für schlichten bis altmodischen Stil gehalten hat, entpuppt sich spätestens mit diesem, seinem dritten Buch als Teil eines komplexen und handwerklich meisterhaften Repertoires an sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die mit dem jeweiligen Sujet untrennbar verbunden sind.

Denn was auf den ersten Satz folgt, ist der 150 Seiten lange absatz- und emotionslose Bericht eines Osterwochenendes, dessen akribische Detailtreue bis hin zur Unwahrscheinlichkeit reicht, beispielsweise in der Wiedergabe von Dialogen oder Federballspielständen, und dessen vollkommene Neutralität den Berichtenden noch die kleinste Nebensächlichkeit mit der gleichen Sorgfalt und Leidenschaftslosigkeit beschreiben läßt wie die Ausstrahlung eines Kindermords im Fernsehen.

Mit eiserner Konsequenz filtert Glavinic jedes Ereignis durch die umständliche Sprache des Erzählers, die sich auszeichnet durch den konsequenten Einsatz des Konjunktivs, altertümlichen Sprachgebrauch ("Ich willfahrte ihr") und merkwürdige Satzstellungen, die stark an Behördendeutsch erinnern. Eklatant wird die zur Gefühllosigkeit gesteigerte Objektivität beispielsweise bei der Wiedergabe humorvoller Situationen. An solchen Stellen heißt es dann: "Dies gab zu Heiterkeit Anlaß." Humor wird ebenso ausgeblendet wie Horror; beides läßt sich in dieser Welt der Inszenierung von Oberflächen durch erzählende Sprache nicht vermitteln. Diese Stringenz ergibt zwar keine leichte Lektüre, doch der namenlose Erzähler schlägt den Leser, der sich zuerst noch am betulichen Sprachfluß und übergroßen Detailreichtum stört, rasch in den Bann des Banalen. Denn hinter so viel Oberfläche, das ist bald klar, muß sich ein Abgrund auftun.

Zusammen mit seiner Lebensgefährtin ist der Erzähler über die Ostertage zu Gast bei einem befreundeten Ehepaar, den Stubenrauchs. Man sitzt zusammen, spielt Karten oder Federball und unterhält sich, bis eine Meldung aus dem Fernsehen die Aufmerksamkeit auf sich zieht: Ein Mann hat drei Jungen in seine Gewalt gebracht und zwei von ihnen gezwungen, sich von einem Baum in den Tod zu stürzen. Seine Tat hat der Unbekannte auf Video aufgenommen.

Von nun an bestimmt das Verbrechen, das sich ganz in der Nähe der vier Personen zugetragen hat, jedes Gespräch und jede Handlung. Genauer gesagt, drängt sich die mediale Vermittlung der Untat in den Vordergrund. Zwar versuchen die beiden Paare, vor allem die Frauen, ihre Pläne für ein geruhsames Wochenende weiterhin umzusetzen, doch der Mord läuft auf allen Kanälen. Spätestens als das Video aufgefunden und unter öffentlichen Protesten von einem Fernsehsender ausgestrahlt wird, gibt es nur mehr ein Thema, das sich in Form von neuesten Nachrichten, Teletext und Extraausgaben ständig selbst weitererzählt.

Die Sensationsgier der Massen und die Pietätlosigkeit der Medien, dazu ein Verbrechen, das in seiner Abartigkeit ohne die Existenz dieser Medien gar nicht denkbar wäre - die moralisch entrüstete Medienkritik entspringt dem Sujet ganz von selbst. Sie ist in Glavinics Text denn auch von vielen Seiten hineingelesen worden, dabei handelt es sich dabei um den schwächsten Aspekt seiner Geschichte. Natürlich ist eine gewisse Kritik an den Medien ständig präsent; zumeist wird sie geschickt schon in die indirekten Dialoge der vier Protagonisten eingeflochten. Dort, wo die Vorbehalte direkt ausgesprochen werden, verliert der Text seine Dichte, weil hier der Bericht des Erzählers zum Vehikel einer kritischen Aussage gemacht wird. Im weiteren Verlauf des Texts ist es umgekehrt.

Hinter den geradlinigen Sätzen des Erzählers, oft einfach bis zur Einfältigkeit, verbirgt sich eine Spiegelkonstruktion, deren Verschachtelungen bisweilen atemberaubende Dimensionen annehmen. Zum Beispiel wenn wir, vom Erzähler vermittelt, jenen Fernsehbeitrag miterleben, in dem das Mordvideo ausgestrahlt wird. Der Mörder überzeugt die Kinder davon, daß sich ihre Eltern in seiner Gewalt befinden, was nicht stimmt. Wie in einer grausamen Parodie auf penetrante Nachmittagstalker fragt er dabei immer wieder die verängstigten Kinder nach ihren Gefühlen, und genau wie diese verweigert der Text eine Antwort. Es gibt nur noch die Oberfläche des Fernsehbildschirms; alles, was dahinter liegt - Motive, Zusammenhänge und Gefühle -, entzieht sich dem Wissen des Mörders, des Erzählers, des Zuschauers und des Lesers.

In der Schlußszene laufen die verschiedenen medialen Ebenen auch zeitlich und räumlich aufeinander zu, bis wir zusammen mit dem Erzähler und den Fernsehkameras geradezu "live" dabei sind, als der Mörder gefaßt wird. Ein bitteres Happy-End für einen äußerst vielschichtigen Text, der beiläufig auch auf Religion als Vorform medialer Inszenierung hindeutet, indem er die Entwicklung des Mordfalls in einer merkwürdigen Parallelität zu den kirchlichen Feiertagen schildert. Die erschütternde Wirkung der Novelle beruht aber nicht so sehr auf der kunstvollen Konstruktion, sondern vor allem auf der Tatsache, daß der letzte Spiegel das Gesicht des Lesers selbst reflektiert. Am Ende steht die unschöne Erkenntnis, daß wahre Medienkritik immer auch Selbstkritik bedeutet.

Thomas Glavinic: "Der Kameramörder". Novelle. Verlag Volk und Welt, Berlin 2001. 157 S., geb., 32,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Karl-Markus Gauß ist vom dritten Roman des Autors, wie schon von den vorherigen, hellauf begeistert. Das Protokoll eines Ich-Erzählers, von einem grausamer Mord, dessen mediale Verwertung minutiös geschildert wird, löst durch seinen bürokratischen Sprachstil zunächst Erheiterung beim Rezensenten aus, die er aber bald "gnadenlos zerstört" sieht. Er preist nicht nur das "staunenswerte handwerkliche Können" des Autors, sondern es beeindruckt ihn, wie Glavinic die Verquickung von Gewalt und Medien aufzeigt, denn, so der Rezensent, es ist der Zweck der geschehenen brutalen Verbrechen, "Fernsehen zu werden". Dennoch sei der Roman mehr als eine Kritik an der Hervorbringung der Gewalt durch die Medien, denn mit dem Hinweis, dass die Morde am Karfreitag begangen werden und der Mörder am Ostersonntag gefasst wird, habe das Buch auch eine symbolische Dimension.

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