Was hält Europa zusammen - der reichste Binnenmarkt der Welt, eine starke Währung, die Freizügigkeit seiner Bevölkerung - oder eine geteilte Geschichte? Vier von zehn EU-Bürgern sind Euro-Skeptiker, die in Umfragen bekunden, die Europäische Union sei eine schlechte Sache. Wer die europäische Identität stärken möchte, so die These von Claus Leggewie, der wird die Erörterung und Anerkennung der strittigen Erinnerungen genauso hoch bewerten müssen, wie Vertragswerke, Währungsunion und offene Grenzen. In diesem Buch analysiert er die europäische Erinnerungslandschaft und besucht Erinnerungsorte, an denen sich die aktuellen Geschichtskonflikte verdeutlichen lassen. Dabei steht die europäische Peripherie im Mittelpunkt, das Baltikum, die Ukraine, Jugoslawien, die Türkei, aber auch die europäische Kolonialvergangenheit und die Geschichte der Migranten. Auf diese Weise wird deutlich, wie weit noch der Weg ist zu einem im doppelten Wortsinne geteilten europäischen Geschichtsbewusstsein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.2011Hölle und Paradies der Erinnerung
Rekonstruktion der geschichtspolitischen Konflikte und Debatten in Europa
Titel und Untertitel dieses inhaltsreichen Taschenbuchs klingen martialisch. Aber wer es liest, wird in der Tat mit einem Schlachtfeld konfrontiert. Zwar fließt im Allgemeinen kein Blut mehr, aber das Thema geht keineswegs im intellektuellen Florettfechten auf. Das Plädoyer der Autoren gilt einem gesamteuropäischen, offensiven, aber friedlichen Austragen von Erinnerungskonflikten - gerade weil diese bislang oft in sehr militanten Formen auftraten oder auch regional begrenzt blieben. Wenn Europa nicht nur mit Brüsseler Bürokratien, undurchsichtigen Agrarmarktordnungen und Währungsproblemen assoziiert werden soll, ist diese Reflexion auf die schwierige gemeinsame Geschichte ein wesentliches Element einer europäischen Identität - so die Leitthese des Buches. Das leuchtet insbesondere für die beiden prägenden Diktaturen des 20. Jahrhunderts ein: "Erst die ungeteilte Kommemoration beider totalitärer Vergangenheiten, der Staatsverbrechen des Nationalsozialismus wie des Stalinismus, sprengt den nationalen Referenzrahmen. Eine antitotalitäre Öffentlichkeit muss genuin europäisch sein, wenn sie den Gräben des Kalten Krieges entkommen will." Eine solche Forderung ist weitgehend konsensfähig. Doch dabei kann es nicht bleiben.
Die verschiedenen Kampfplätze des europäischen "Schlachtfeldes" werden aus der Rückschau rekonstruiert und in ihrer aktuellen Brisanz präzise beschrieben. In Form von sieben konzentrischen Kreisen, die zugleich als eine hierarchische Anordnung konzipiert sind, werden Schlüsselthemen diskutiert, die in einer kritischen europäischen Erinnerung konstitutiv sein sollten. Den Kern bildet der negative Gründungsmythos des in vieler Hinsicht singulären Menschheitsverbrechens, des Holocaust. Er war zumindest insofern gesamteuropäisch, als der deutsche Vernichtungsplan ohne breite europäische Kollaboration kaum hätte umgesetzt werden können. Der 27. Januar hat als Gedenktag der Befreiung von Auschwitz mittlerweile gesamteuropäischen Charakter. Den nächsten Kreis bildet der GULag, auch wenn bisweilen immer noch darüber gestritten wird, ob der Sowjetkommunismus gleichermaßen verbrecherisch war wie der Nationalsozialismus. "Ethnische Säuberungen" (einschließlich der der Deutschen), Kriege und Krisen (von Sarajevo bis zum Mauerbau) sowie Kolonialverbrechen sind die weiteren, negativ konnotierten Kreise. Die beiden letzten mit "Migrationsgeschichte" und "Europäischer Integration" verweisen auf aktuelle Felder, die zwar keine reinen Erfolgsgeschichten beinhalten, aber auch positive Erfahrungshorizonte der jüngsten Zeitgeschichte ansprechen. Diese sieben Kreise sind in Inhalt und Anordnung nicht als normative Setzungen von oben, sondern als diskutable Vorschläge für den Kern einer zivilgesellschaftlich getragenen, kontroversen europäischen Erinnerungskultur zu verstehen. Dass diese kontrovers bleibt und in ihren Gegenständen und Zugängen stets im Fluss sein muss, gehört zu den nachdrücklich betonten Prämissen des Buches.
Diesen Kreisen werden im zweiten Teil des Buches sechs "Erinnerungsorte der europäischen Peripherie" zugeordnet. Hier wird eine sehr instruktive und anschauliche Rekonstruktion von brisanten Kämpfen um Geschichtsinterpretationen geboten, die man als durchschnittlicher Zeitungsleser teilweise längst vergessen hat. So den Transport von "Aljoscha", der sowjetischen Heldenfigur aus dem "großen Vaterländischen Krieg" im estnischen Tallinn, aus der Stadtmitte in die Peripherie eines Friedhofs. Die Auseinandersetzungen darum eskalierten nicht nur bis zu Tätlichkeiten, sie hatten auch diplomatische Konsequenzen. Sie zeigen im Übrigen, wie "feuergefährlich" historische Daten und ihre Interpretation aus dem "Zeitalter der Extreme" sein können. Als weitere Beispiele werden erörtert: Karadzic als Symbolfigur des Bosnien-Krieges vor dem Tribunal in Den Haag; die Debatte um den Genozid an den Armeniern, der stets die Kollision mit dem Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs droht; der unklare Platz des Holodomor, der ukrainischen Hungerkatastrophe durch Stalins Zwangskollektivierung, im europäischen Gedächtnis. Ein beklemmendes und oft marginalisiertes Kapitel europäischer Kolonialgeschichte wird mit den Hinweisen auf das belgische "Museum für Zentralafrika" in Tervuren (Vorort von Brüssel) vorgestellt. Die (belgische) Schönfärberei ist hier noch ungebrochen präsent und lässt sich auch als Exempel für das "schwache Kolonialgedächtnis Europas" verstehen. Schließlich: das alte und immer neue deutsche "Gastarbeiter"- und europäische Einwanderungsproblem mit einigen bitteren Hinweisen auf die Biographie des in kaum einer Nachkriegsdarstellung fehlenden "millionsten Gastarbeiters", des Portugiesen Rodrigues.
Einen so komplexen Gegenstand wie europäische "Erinnerungsorte" als Kristallisationspunkte eines kollektiven Gedächtnisses mit extrem weichen und sich ständig verändernden Konturen in den Griff zu bekommen ist ein diffiziles und ambitioniertes Unterfangen. Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, hat sich damit auf höchst anregende Weise auseinandergesetzt. Was dieses Buch über eine zu luftigen Thesen oder regierungsamtlicher Harmonisierung einladende Thematik auszeichnet, ist insbesondere die genaue Rekonstruktion der geschichtspolitischen Konflikte und Debatten der europäischen Peripherie und ihre präzise Kontextualisierung. Über die Grundthese und das Gesamtkonzept in Form verschieden gewichteter konzentrischer Kreise wird man sicher streiten können und müssen. Aber das Buch ist ein wichtiger Anstoß, der hoffentlich auch in dem geplanten "Haus der europäischen Geschichte" eine Rolle spielen wird, das nahezu ohne öffentliche Debatte vom Präsidium des Europäischen Parlaments initiiert und bisher nur in und mit einem kleinen Expertengremium diskutiert wurde.
CHRISTOPH KLESSMANN
Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. C.H. Beck Verlag, München 2011. 224 S., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rekonstruktion der geschichtspolitischen Konflikte und Debatten in Europa
Titel und Untertitel dieses inhaltsreichen Taschenbuchs klingen martialisch. Aber wer es liest, wird in der Tat mit einem Schlachtfeld konfrontiert. Zwar fließt im Allgemeinen kein Blut mehr, aber das Thema geht keineswegs im intellektuellen Florettfechten auf. Das Plädoyer der Autoren gilt einem gesamteuropäischen, offensiven, aber friedlichen Austragen von Erinnerungskonflikten - gerade weil diese bislang oft in sehr militanten Formen auftraten oder auch regional begrenzt blieben. Wenn Europa nicht nur mit Brüsseler Bürokratien, undurchsichtigen Agrarmarktordnungen und Währungsproblemen assoziiert werden soll, ist diese Reflexion auf die schwierige gemeinsame Geschichte ein wesentliches Element einer europäischen Identität - so die Leitthese des Buches. Das leuchtet insbesondere für die beiden prägenden Diktaturen des 20. Jahrhunderts ein: "Erst die ungeteilte Kommemoration beider totalitärer Vergangenheiten, der Staatsverbrechen des Nationalsozialismus wie des Stalinismus, sprengt den nationalen Referenzrahmen. Eine antitotalitäre Öffentlichkeit muss genuin europäisch sein, wenn sie den Gräben des Kalten Krieges entkommen will." Eine solche Forderung ist weitgehend konsensfähig. Doch dabei kann es nicht bleiben.
Die verschiedenen Kampfplätze des europäischen "Schlachtfeldes" werden aus der Rückschau rekonstruiert und in ihrer aktuellen Brisanz präzise beschrieben. In Form von sieben konzentrischen Kreisen, die zugleich als eine hierarchische Anordnung konzipiert sind, werden Schlüsselthemen diskutiert, die in einer kritischen europäischen Erinnerung konstitutiv sein sollten. Den Kern bildet der negative Gründungsmythos des in vieler Hinsicht singulären Menschheitsverbrechens, des Holocaust. Er war zumindest insofern gesamteuropäisch, als der deutsche Vernichtungsplan ohne breite europäische Kollaboration kaum hätte umgesetzt werden können. Der 27. Januar hat als Gedenktag der Befreiung von Auschwitz mittlerweile gesamteuropäischen Charakter. Den nächsten Kreis bildet der GULag, auch wenn bisweilen immer noch darüber gestritten wird, ob der Sowjetkommunismus gleichermaßen verbrecherisch war wie der Nationalsozialismus. "Ethnische Säuberungen" (einschließlich der der Deutschen), Kriege und Krisen (von Sarajevo bis zum Mauerbau) sowie Kolonialverbrechen sind die weiteren, negativ konnotierten Kreise. Die beiden letzten mit "Migrationsgeschichte" und "Europäischer Integration" verweisen auf aktuelle Felder, die zwar keine reinen Erfolgsgeschichten beinhalten, aber auch positive Erfahrungshorizonte der jüngsten Zeitgeschichte ansprechen. Diese sieben Kreise sind in Inhalt und Anordnung nicht als normative Setzungen von oben, sondern als diskutable Vorschläge für den Kern einer zivilgesellschaftlich getragenen, kontroversen europäischen Erinnerungskultur zu verstehen. Dass diese kontrovers bleibt und in ihren Gegenständen und Zugängen stets im Fluss sein muss, gehört zu den nachdrücklich betonten Prämissen des Buches.
Diesen Kreisen werden im zweiten Teil des Buches sechs "Erinnerungsorte der europäischen Peripherie" zugeordnet. Hier wird eine sehr instruktive und anschauliche Rekonstruktion von brisanten Kämpfen um Geschichtsinterpretationen geboten, die man als durchschnittlicher Zeitungsleser teilweise längst vergessen hat. So den Transport von "Aljoscha", der sowjetischen Heldenfigur aus dem "großen Vaterländischen Krieg" im estnischen Tallinn, aus der Stadtmitte in die Peripherie eines Friedhofs. Die Auseinandersetzungen darum eskalierten nicht nur bis zu Tätlichkeiten, sie hatten auch diplomatische Konsequenzen. Sie zeigen im Übrigen, wie "feuergefährlich" historische Daten und ihre Interpretation aus dem "Zeitalter der Extreme" sein können. Als weitere Beispiele werden erörtert: Karadzic als Symbolfigur des Bosnien-Krieges vor dem Tribunal in Den Haag; die Debatte um den Genozid an den Armeniern, der stets die Kollision mit dem Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs droht; der unklare Platz des Holodomor, der ukrainischen Hungerkatastrophe durch Stalins Zwangskollektivierung, im europäischen Gedächtnis. Ein beklemmendes und oft marginalisiertes Kapitel europäischer Kolonialgeschichte wird mit den Hinweisen auf das belgische "Museum für Zentralafrika" in Tervuren (Vorort von Brüssel) vorgestellt. Die (belgische) Schönfärberei ist hier noch ungebrochen präsent und lässt sich auch als Exempel für das "schwache Kolonialgedächtnis Europas" verstehen. Schließlich: das alte und immer neue deutsche "Gastarbeiter"- und europäische Einwanderungsproblem mit einigen bitteren Hinweisen auf die Biographie des in kaum einer Nachkriegsdarstellung fehlenden "millionsten Gastarbeiters", des Portugiesen Rodrigues.
Einen so komplexen Gegenstand wie europäische "Erinnerungsorte" als Kristallisationspunkte eines kollektiven Gedächtnisses mit extrem weichen und sich ständig verändernden Konturen in den Griff zu bekommen ist ein diffiziles und ambitioniertes Unterfangen. Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, hat sich damit auf höchst anregende Weise auseinandergesetzt. Was dieses Buch über eine zu luftigen Thesen oder regierungsamtlicher Harmonisierung einladende Thematik auszeichnet, ist insbesondere die genaue Rekonstruktion der geschichtspolitischen Konflikte und Debatten der europäischen Peripherie und ihre präzise Kontextualisierung. Über die Grundthese und das Gesamtkonzept in Form verschieden gewichteter konzentrischer Kreise wird man sicher streiten können und müssen. Aber das Buch ist ein wichtiger Anstoß, der hoffentlich auch in dem geplanten "Haus der europäischen Geschichte" eine Rolle spielen wird, das nahezu ohne öffentliche Debatte vom Präsidium des Europäischen Parlaments initiiert und bisher nur in und mit einem kleinen Expertengremium diskutiert wurde.
CHRISTOPH KLESSMANN
Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. C.H. Beck Verlag, München 2011. 224 S., 14,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Helmut König hat diesen Band mit Gewinn gelesen, vor allem weil er ihm vor Augen führte, wie provinziell Westeuropas historisches Gedächtnis zum Teil noch immer ist. Die Autoren Claus Leggewie und Anne Lang beschreiben darin verschiedene Erinnerungskonflikte, deren öffentliche Erörterung sie für eine europäische Einigung unerlässlich finden. In einem ersten Teil werden verschiedene Themenkreise der europäischen Erinnerung dargestellt (Holocaust, Gulag, Kolonialverbrechen, ethnische Säuberungen), in einem zweiten Teil dann einige Beispiele erinnerungspolitischer Konflikte (die sowjetische Annektierung der baltischen Länder, der Völkermord an den Armeniern, der Holodomor in der Ukraine). Wie kompliziert hier Erinnerung ist und wie ungewiss liebgewonnene Gewissheit, das hat der interessierte Rezensent hier erfahren können.
© Perlentaucher Medien GmbH
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