Schauplätze dieser breit angelegten Familiengeschichte sind Amerika und Finnland in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts. Als junge Frau wandert Hanna nach nach Amerika aus, um ihr Glück zu machen. Dort verschlägt es sie in ein Goldgräbernest, wo sie zu Geld kommt und den Mann ihres Lebens kennenlernt. Nachdem dieser unter tragischen Umständen ums Leben kommt, kehrt Hanna - inzwischen hat sie zwei Kinder - nach Finnland zurück. Hier gelingt es ihr, noch einmal von vorn anzufangen. Auch ihr Sohn bringt es weit, als er erwachsen geworden ist - er wird zum reichsten Alkoholschmuggler weit und breit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2000Alkohol kanisterweise
Schnellgeschwindigkeitsfamiliensaga: Sunds "Kanisterkönig"
Die finnlandschwedische Literatur hat sich erst in den beiden letzten Jahrzehnten deutlicher artikuliert. Bis dahin war das Gedicht, die Erzählung das literarische Genre der Schwedisch sprechenden Minderheit in Finnland, die etwa sechs Prozent der Bevölkerung umfasst. Auch der 1953 geborene Lars Sund, von Beruf Journalist, begann mit Gedichten. Doch eine Minorität, die ihre Geschichte, ihre Identität ins Licht rücken will, braucht ein gewichtigeres Schlachtross als die Lyrik. Die Finnlandschweden - Märta Tikkanen, Bo Carpeland, Tove Jansson, Monika Fagerholm - wandten sich dem Roman zu.
Sund wählte, nachdem er zunächst autobiografisch gefärbte Romane geschrieben hatte, für das hier anzuzeigende, 1991 publizierte Buch hohe Vorbilder: García Márquez und Salman Rushdie. Damit deutet er ein Programm an: Die Wirklichkeit soll nicht bloß dokumentarisch erfasst werden, sondern ein mythologisch magischer Realismus ist sein Ziel. "Der Kanisterkönig", der erste Teil einer Trilogie, ist Familien- und Zeitchronik zugleich. Die Zeit wird exakt benannt, die Orte dagegen - ein Nest in den Rocky Mountains, ein finnisches Dorf am Meer - sind erfunden.
Der Originaltitel "Colorado Avenue" deutet die Atmosphäre an, die Sund erzeugen will: amerikanische Rasanz. Sie wird aufgepfropft auf ein skandinavisches Geäst namens Österbotten. Der Roman erzählt eine Auswanderungsgeschichte, die zu einer Rückwanderungsgeschichte wird. Im Mittelpunkt steht Hanna, die als Achtzehnjährige 1893 dem ärmlichen Dasein als Tochter eines Fischers, den mitsamt den Brüdern die See geholt hat, den Rücken kehrt und nach Amerika geht. Dank ihrer Tüchtigkeit bringt sie es weit. Doch schon 1905 kehrt sie als Witwe mit Sohn und Tochter in die Heimat zurück.
Otto, der Sohn, wird zum Großschmuggler, der mit seinem gepanzerten Torpedoboot während der Prohibition der zwanziger Jahre Tausende von Kanistern, gefüllt mit Wein und Schnaps, in ein Land bringt, wo Hoch und Nieder dem Laster des Alkohols frönen. Hanna, als Ladenbesitzerin zu Wohlstand gekommen, schämt sich ihres Sohns, der, unter Mordverdacht geraten, spurlos verschwindet, nachdem in seiner großspurigen Villa am Meer ein Toter entdeckt wird. Mit der wirksamen Krimifrage: "War er's, war er's nicht?" und der nicht minder effektvollen Mitteilung, dass er eine "Meerjungfrau" geschwängert hat und Vater geworden ist, entlässt das Buch den Leser. Die Jahreszahl, die genau festgehalten wird: April 1929.
Der im Norden mehrfach ausgezeichnete Roman ist süffig erzählt. Er führt eine Fülle farbiger Charaktere vor, die sich in ausgewählten Momenten große Gesten und Gefühle erlauben. Da ist Ed Näs oder Ness, Hannas Mann, ein Gewerkschaftsagitator, der eine Weile mit einem Wanderzirkus durch den Mittleren Westen zieht; da ist der vom Schicksal geschlagene Kommunalpolitiker Smeds, dem die Witwe in einer erotisch gefärbten Freundschaft verbunden ist; da ist ihre alte, von Armut und Einsamkeit gezeichnete Mutter, Kräuterhexe und weise Frau, die den Aufstieg des Enkels mit staunenden Augen sieht. Ein zartes Gewächs in der rauen Umwelt ist der junge, Idealen anhängende Erik Smeds, der im Ersten Weltkrieg für die Befreiung Finnlands kämpft und fällt.
Eine große Rolle, zumindest bei den Alten, spielt die Religion. Sie rechten mit Gott, geben ihm Anweisung, "wie seine Vogtei geführt werden sollte". Es ist ein spezifisch nordisch gefärbter Protestantismus mit einem finsteren "evangelisch-lutherischen Gott", der die Menschen narrt. Der Erzähler, der sich als Enkel des Kanisterkönigs ausgibt, weiß mit ihm nicht allzu viel anzufangen. Er irrlichtert durch die Geschichte, ohne dass man genau begriffe, warum er hier das Wort ergreift - "schnallt euch die Steigeisen an die Füße, liebe Leser" - und dort nicht.
Sund flicht komische Anekdoten, freche Schwänke ein. Er liebt einprägsame Metaphern, etwa die vom geknickten Kirschbaum, dem sich rasch drehenden Wasserrad, der "Stadt aus Licht", ein Bild, in dem sich Ottos Traum von der amerikanischen Metropole und Erik Smeds religiös gefärbte Freiheitsvision vom Himmlischen Jerusalem begegnen. Zum Glück sind ausgefallene Vergleiche eher rar: "Ihre Augen waren blank wie frisch geputzte Teelöffel."
Eingestreut in den Gang der Erzählung sind Tagebuchaufzeichnungen, Zeitungsausschnitte, Briefe, eine in vier Akten erzählte Filmgeschichte über den Gewerkschaftsführer und seinen gewaltsamen Tod. Sie zeigen, wie sich hier eine im Entstehen begriffene epische Literatur Techniken aneignet, die anderswo eher im Verschwinden sind. Das Urteil von "Svenska Dagbladet", es handle sich hier um eine "Schnellgeschwindigkeitsphantasiegeschichte", mutet in ihrem expressionistischen Überschwang ein bisschen anachronistisch an. Dennoch wirkt der Roman nicht abgestanden. Er ist gut zu lesen, gut übersetzt. Man wartet auf die Fortsetzung.
RENATE SCHOSTACK.
Lars Sund: "Der Kanisterkönig". Roman. Aus dem Finnlandschwedischen übersetzt von Jörg Scherzer. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1999. 368 S., geb., 39,80 DM.
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Schnellgeschwindigkeitsfamiliensaga: Sunds "Kanisterkönig"
Die finnlandschwedische Literatur hat sich erst in den beiden letzten Jahrzehnten deutlicher artikuliert. Bis dahin war das Gedicht, die Erzählung das literarische Genre der Schwedisch sprechenden Minderheit in Finnland, die etwa sechs Prozent der Bevölkerung umfasst. Auch der 1953 geborene Lars Sund, von Beruf Journalist, begann mit Gedichten. Doch eine Minorität, die ihre Geschichte, ihre Identität ins Licht rücken will, braucht ein gewichtigeres Schlachtross als die Lyrik. Die Finnlandschweden - Märta Tikkanen, Bo Carpeland, Tove Jansson, Monika Fagerholm - wandten sich dem Roman zu.
Sund wählte, nachdem er zunächst autobiografisch gefärbte Romane geschrieben hatte, für das hier anzuzeigende, 1991 publizierte Buch hohe Vorbilder: García Márquez und Salman Rushdie. Damit deutet er ein Programm an: Die Wirklichkeit soll nicht bloß dokumentarisch erfasst werden, sondern ein mythologisch magischer Realismus ist sein Ziel. "Der Kanisterkönig", der erste Teil einer Trilogie, ist Familien- und Zeitchronik zugleich. Die Zeit wird exakt benannt, die Orte dagegen - ein Nest in den Rocky Mountains, ein finnisches Dorf am Meer - sind erfunden.
Der Originaltitel "Colorado Avenue" deutet die Atmosphäre an, die Sund erzeugen will: amerikanische Rasanz. Sie wird aufgepfropft auf ein skandinavisches Geäst namens Österbotten. Der Roman erzählt eine Auswanderungsgeschichte, die zu einer Rückwanderungsgeschichte wird. Im Mittelpunkt steht Hanna, die als Achtzehnjährige 1893 dem ärmlichen Dasein als Tochter eines Fischers, den mitsamt den Brüdern die See geholt hat, den Rücken kehrt und nach Amerika geht. Dank ihrer Tüchtigkeit bringt sie es weit. Doch schon 1905 kehrt sie als Witwe mit Sohn und Tochter in die Heimat zurück.
Otto, der Sohn, wird zum Großschmuggler, der mit seinem gepanzerten Torpedoboot während der Prohibition der zwanziger Jahre Tausende von Kanistern, gefüllt mit Wein und Schnaps, in ein Land bringt, wo Hoch und Nieder dem Laster des Alkohols frönen. Hanna, als Ladenbesitzerin zu Wohlstand gekommen, schämt sich ihres Sohns, der, unter Mordverdacht geraten, spurlos verschwindet, nachdem in seiner großspurigen Villa am Meer ein Toter entdeckt wird. Mit der wirksamen Krimifrage: "War er's, war er's nicht?" und der nicht minder effektvollen Mitteilung, dass er eine "Meerjungfrau" geschwängert hat und Vater geworden ist, entlässt das Buch den Leser. Die Jahreszahl, die genau festgehalten wird: April 1929.
Der im Norden mehrfach ausgezeichnete Roman ist süffig erzählt. Er führt eine Fülle farbiger Charaktere vor, die sich in ausgewählten Momenten große Gesten und Gefühle erlauben. Da ist Ed Näs oder Ness, Hannas Mann, ein Gewerkschaftsagitator, der eine Weile mit einem Wanderzirkus durch den Mittleren Westen zieht; da ist der vom Schicksal geschlagene Kommunalpolitiker Smeds, dem die Witwe in einer erotisch gefärbten Freundschaft verbunden ist; da ist ihre alte, von Armut und Einsamkeit gezeichnete Mutter, Kräuterhexe und weise Frau, die den Aufstieg des Enkels mit staunenden Augen sieht. Ein zartes Gewächs in der rauen Umwelt ist der junge, Idealen anhängende Erik Smeds, der im Ersten Weltkrieg für die Befreiung Finnlands kämpft und fällt.
Eine große Rolle, zumindest bei den Alten, spielt die Religion. Sie rechten mit Gott, geben ihm Anweisung, "wie seine Vogtei geführt werden sollte". Es ist ein spezifisch nordisch gefärbter Protestantismus mit einem finsteren "evangelisch-lutherischen Gott", der die Menschen narrt. Der Erzähler, der sich als Enkel des Kanisterkönigs ausgibt, weiß mit ihm nicht allzu viel anzufangen. Er irrlichtert durch die Geschichte, ohne dass man genau begriffe, warum er hier das Wort ergreift - "schnallt euch die Steigeisen an die Füße, liebe Leser" - und dort nicht.
Sund flicht komische Anekdoten, freche Schwänke ein. Er liebt einprägsame Metaphern, etwa die vom geknickten Kirschbaum, dem sich rasch drehenden Wasserrad, der "Stadt aus Licht", ein Bild, in dem sich Ottos Traum von der amerikanischen Metropole und Erik Smeds religiös gefärbte Freiheitsvision vom Himmlischen Jerusalem begegnen. Zum Glück sind ausgefallene Vergleiche eher rar: "Ihre Augen waren blank wie frisch geputzte Teelöffel."
Eingestreut in den Gang der Erzählung sind Tagebuchaufzeichnungen, Zeitungsausschnitte, Briefe, eine in vier Akten erzählte Filmgeschichte über den Gewerkschaftsführer und seinen gewaltsamen Tod. Sie zeigen, wie sich hier eine im Entstehen begriffene epische Literatur Techniken aneignet, die anderswo eher im Verschwinden sind. Das Urteil von "Svenska Dagbladet", es handle sich hier um eine "Schnellgeschwindigkeitsphantasiegeschichte", mutet in ihrem expressionistischen Überschwang ein bisschen anachronistisch an. Dennoch wirkt der Roman nicht abgestanden. Er ist gut zu lesen, gut übersetzt. Man wartet auf die Fortsetzung.
RENATE SCHOSTACK.
Lars Sund: "Der Kanisterkönig". Roman. Aus dem Finnlandschwedischen übersetzt von Jörg Scherzer. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1999. 368 S., geb., 39,80 DM.
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