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Der "Kannibalen-Fall" ist höchst spektakulär. Er wirft aber auch eine Vielzahl dogmatischer und verfassungsrechtlicher Fragen auf, die sogar amerikanische Dozenten mit ihren Studenten diskutieren. Gefordert ist insbesondere, das bislang einzigartige Zusammentreffen von Sterbeverlangen des Opfers mit perverser Motivation und abscheulicher Begehungsweise des Täters ins rechte Verhältnis zu setzen. Jörg Scheinfeld begründet den Standpunkt, dass der Gesetzgeber die Einstufung als "Tötung auf Verlangen" (§ 216 StGB) bindend vorgegeben hat. Darüber hinaus weist er nach, dass die Frankfurter…mehr

Produktbeschreibung
Der "Kannibalen-Fall" ist höchst spektakulär. Er wirft aber auch eine Vielzahl dogmatischer und verfassungsrechtlicher Fragen auf, die sogar amerikanische Dozenten mit ihren Studenten diskutieren. Gefordert ist insbesondere, das bislang einzigartige Zusammentreffen von Sterbeverlangen des Opfers mit perverser Motivation und abscheulicher Begehungsweise des Täters ins rechte Verhältnis zu setzen. Jörg Scheinfeld begründet den Standpunkt, dass der Gesetzgeber die Einstufung als "Tötung auf Verlangen" (§ 216 StGB) bindend vorgegeben hat. Darüber hinaus weist er nach, dass die Frankfurter Strafkammer mit der Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen hat - sowie mehrfach gegen das Schuldprinzip. Aus dem Anschauungsfall entwickelt der Autor schließlich Grundsätze für die verfassungskonforme Auslegung und Anwendung aller subjektiven Mordmerkmale.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2009

Ist der Menschenfresser ein Mörder?

Das Urteil über den "Kannibalen von Rotenburg" hört nicht auf, die Strafrechtler zu beschäftigen. Jörg Scheinfeld zeigt die grundsätzliche Bedeutung des Falles für die Systematik der Tötungsdelikte.

Acht Jahre nach einem der spektakulärsten Kriminalfälle der Bundesrepublik ist immer noch keine Ruhe eingekehrt. Insofern scheint die Erwartung, dass ein Strafurteil den verletzten Rechtsfrieden öffentlich wiederherstellen würde, naiv; Gerichte haben kein Deutungsmonopol. Der Täter Armin Meiwes, 2006 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, sitzt zwar im Gefängnis, aber seine abscheuliche Tat und ihre Folgen beschäftigen weiter Justiz, Medien und Wissenschaft. Noch im Juni dieses Jahres lehnte das Bundesverfassungsgericht seinen Antrag auf einstweilige Anordnung ab, mit der Meiwes den Kinofilm "Rohtenburg" stoppen wollte. Da hatten die Gutachter längst ein Buch publiziert, Meiwes sich vielfach selbst in der Öffentlichkeit exponiert und vermarktet.

Bernd Brandes war bereits im März 2001 von Meiwes getötet worden. Die Tat vollzog sich auf so unvorstellbare Weise, dass sich mehrere an ihrer Aufklärung beteiligte Ermittler später in psychotherapeutische Behandlung begaben. Ein Journalist, der zum Fall recherchierte, gab zu Protokoll, dass er sich zwischenzeitlich übergeben hatte. Noch jede mediale Darstellung von Täter, Opfer und Tat muss sich entscheiden, wie sie mit den Details des Schreckens, Entsetzens und Ekels umgeht, aber für das Recht ist es eine besondere Herausforderung. Hat es sie gemeistert?

Sowohl die Schwurgerichtskammer beim Landgericht Kassel, der Bundesgerichtshof (BGH) als auch das Landgericht (LG) Frankfurt haben sich mit dem Fall beschäftigt. In Kassel gab es 2004 erst eine Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten wegen einfachen Totschlags. Dagegen ging die Revision der Staatsanwaltschaft mit Erfolg vor, der BGH verwies 2005 die Sache an ein anderes hessisches Gericht zurück. Nach den Vorgaben des BGH kam das Urteil des LG Frankfurt auf lebenslängliche Freiheitsstrafe wegen Mordes im Mai 2006 wenig überraschend, der BGH verwarf 2007 eine Revision des Verurteilten. Meiwes wurde schließlich im Oktober 2008 mit seiner Verfassungsbeschwerde vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen.

Das Buch des Bochumer Habilitanden Jörg Scheinfeld liefert die bisher umfassendste strafrechtliche Auseinandersetzung mit dem Fall. Die kleine, aber gehaltvolle Studie konzentriert sich ausschließlich auf die strafrechtliche Würdigung der Tat. Scheinfeld geht es einzig um die Frage, ob Meiwes ein "Mörder" ist. Anders als viele juristische Laien glauben, trennt den Mord vom einfachen Totschlag nicht die Vorsätzlichkeit der Tat. Mörder ist laut Gesetz vielmehr jemand, der "aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet".

Ob Armin Meiwes sich gemäß dieser Qualifikation strafbar gemacht hat, ist nicht nur nach Jörg Scheinfelds Ausführungen zweifelhaft, auch andere Strafrechtler haben das LG Frankfurt kritisiert. Um deren Gegenargumente verstehen zu können, muss man noch die bizarrsten Details des Falls würdigen, dessen Qualifizierung als "Sex-Kannibalismus" eine Andeutung der verwerflichen Motive des Täters gibt. Denn Meiwes hatte sich mit seinem Opfer gezielt zu dessen Tötung verabredet, welche er konsensuell vollzog. Dem Kontakt übers Internet folgten die erste Begegnung am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe und die gemeinsame Fahrt aufs einsame Gehöft nach Rotenburg, von der Brandes nicht wiederkehren sollte.

Während der Tat lief eine Kamera, die nicht nur die Verstümmelung am Geschlecht, die spätere Tötung, Zerlegung und Ausweidung des Opfers dokumentierte, sondern auch das süffisant-kommentierende Verspeisen von Leichenteilen durch Meiwes. Später betrachtete er die aufgezeichneten Bilder, die ihn - wie gehofft - sexuell erregten. Soll das etwa nicht Mord sein, steht diese Tat nicht auf der niedrigsten sozialethischen Gesinnungsstufe, muss die Allgemeinheit nicht vor solchen Tätern geschützt werden - und zwar dauerhaft?

Gegen diese nachvollziehbaren Fragen und Suggestionen setzt Scheinfeld einen Kurs in juristischer Methodenlehre. Er pocht auf die skrupulöse Subsumtion der Tat unter die einzelnen Merkmale des Mordtatbestands. Dabei ist er mit den handwerklichen Leistungen der Gerichte vielfach unzufrieden. Er weist auf die Gesetzesbindung des Richters und das ebenfalls verfassungsrechtlich verankerte Analogieverbot hin, wonach die Strafbarkeit der Tat nach dem Gesetzeswortlaut bestimmt sein muss. Der Täter muss zudem die Wertung des Strafgesetzbuchs in seiner Laiensphäre nachvollzogen haben.

An vielen das Urteil tragenden Punkten meldet Scheinfeld also Zweifel an, und er moniert fehlende Argumente, Inkonsistenzen der strafrechtlichen Dogmatik zum Mordtatbestand hin und problematische Wertungen der Frankfurter und Karlsruher Richter. Summa summarum notiert er "ungewöhnliche Häufungen von Friktionen und Verfassungsverstößen", die er offenlegen will, namentlich Verletzungen des Gleichheitssatzes und des Schuldprinzips. Das ist seine erklärte Absicht, und weil er zu seiner Parteilichkeit steht, mag man über die Einseitigkeit dieser erklärten Streitschrift hinwegsehen, die sogar die Verdinglichung des Opfers durch die Tat in Abrede stellt.

So gesehen hat das Buch seine Vorzüge, weil es anhand einer einzigen Tat einen Einblick in die Systematik der Tötungsdelikte erlaubt. Die Argumentation ist dabei transparent, und die Singularität des Falles kommt gerade in den oft sehr überzeugend gewählten parallelen Tötungsfällen zur Geltung. Der wissenschaftliche Ertrag liegt in der Verdeutlichung von juristischen Grundlagenfragen für Dogmatik, aber auch in einer anschaulichen Kritik an der derzeitigen Gesetzessystematik des Mordes, deren Reform gefordert wird.

Dass der Leser am Ende dennoch etwas unbefriedigt zurückbleibt, liegt an Scheinfelds Selbstbeschränkung. Gerade die von ihm herangezogenen Tötungsfälle machen darauf aufmerksam, dass Richter in Vergleichsfällen manche Fragen, etwa die Teilbarkeit des Unrechtsbewusstseins, durchaus anders entschieden. Tatbestandsmerkmale wurden durch Strafgerichte auch schon täterfreundlicher ausgelegt, Irrtümer für relevant befunden, und auch bei der verfassungsrechtlichen Prüfung von Beamtenstreitigkeiten blicken die Richter schärfer auf die Wertungen ihrer Kollegen. Der Kannibale: kein Einzelfall einer Ungleichbehandlung - oder doch?

Anders gesagt: Zuletzt bleiben rechtspolitische und soziologische Suggestionen des Autors, wo Analyse nottut. Hier wäre auch Platz für die Frage der Emotionalität des Rechts und seines Personals gewesen, die im Raum schwebt. Das Recht begreift sich als rational agierendes System, das bei seinen Werturteilen emotionslos agiert, selbst wenn es über Emotionen richtet. Abscheu, Empörung und Ekel müssen rationalisiert werden, um legitim zu sein, zumal wenn sie sich mit den gesetzlichen Wertungen in ein Spannungsverhältnis begeben könnten. Vielleicht lag gerade hier die Crux des Falles, der einen besonders schweren zivilisatorischen Tabubruch behandelte. Er weist auf eine wenig beachtete Variante des alten Themas Recht und Moral hin, die Argumentationsdefizite plausibel machen könnte.

MILOS VEC.

Jörg Scheinfeld: "Der Kannibalen-Fall". Verfassungsrechtliche Einwände gegen die Einstufung als Mord und gegen die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2009. 89 S., br., 19,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Fall des "Kannibalen von Rotenburg" ist nicht erledigt. Das spürt Rezensent Milos Vec ganz deutlich. Doch nicht um den andauernden Schauder den der Kannibalen-Casus auslöst, geht es ihm und dem Autor des Buches, sondern um die Herausforderung für das Recht und die Frage, ob es sie bewältigt hat. Jörg Scheinfelds "kleine, aber gehaltvolle" Studie lobt Vec als die bislang umfassendste strafrechtliche Auseinandersetzung mit dem Fall. Einzig um die Frage kreisend, ob der Täter Armin Meiwes ein "Mörder" ist, wie das LG Frankfurt geurteilt hat, informiert der Autor den Kritiker über die feinen Unterschiede zwischen Mord und Totschlag, führt in die "bizzarsten Details" des Falls und bietet Vec einen Kurs in juristischer Methodenlehre. Scheinfelds Zweifel am Urteil, seine Kritik an Argumenten, Inkonsistenzen und der Verletzung des Gleichheitssatzes und des Schuldprinzips erkennt Vec zwar als parteilich, einseitig und suggestiv. Ihre Transparenz und ihren wissenschaftlichen Wert als Verdeutlichung von juristischen Grundlagenfragen und Kritik der gängigen "Gesetzessystematik des Mordes" findet Vec allerdings bemerkenswert.

© Perlentaucher Medien GmbH