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In DER KANTAKT wird der große deutsch-georgische Autor Giwi Margwelaschwili selbst zu einer Figur seiner Lese- und Lebenswelten. 1995 ist er Stadtschreiber von Rheinsberg. Folgerichtig liest er dort "Rheinsberg - Ein Bilderbuch für Verliebte" von Kurt Tucholsky. Und er versucht, mit Tucholskys Liebespaar Wölfchen und Clairchen in Kontakt zu treten, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie Figuren der Literatur sind und ihre Liebe in dieser Form unvergänglich ist. Dass sie immer, wenn ein Leser das Buch aufschlägt, erneut ihre wunderbare Romanze wie neu erleben werden. Doch die…mehr

Produktbeschreibung
In DER KANTAKT wird der große deutsch-georgische Autor Giwi Margwelaschwili selbst zu einer Figur seiner Lese- und Lebenswelten. 1995 ist er Stadtschreiber von Rheinsberg. Folgerichtig liest er dort "Rheinsberg - Ein Bilderbuch für Verliebte" von Kurt Tucholsky. Und er versucht, mit Tucholskys Liebespaar Wölfchen und Clairchen in Kontakt zu treten, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie Figuren der Literatur sind und ihre Liebe in dieser Form unvergänglich ist. Dass sie immer, wenn ein Leser das Buch aufschlägt, erneut ihre wunderbare Romanze wie neu erleben werden. Doch die Kontaktaufnahme gestaltet sich schwierig. Zunächst begleitet Margwelaschwili das Paar durch Rheinsberg. Dabei erlebt er einige skurrile Situationen. Beispielsweise lernt er "Hintergrundpersonen" der Geschichte kennen und philosophiert mit ihnen über ihre Wirklichkeit. Dem verliebten Paar aber kann er sich zunächst nicht nähern. In diesem zum Teil autobiographischen Roman geht es zugleich um die Auswirkung der Teilung zur Zeit des Kalten Krieges und um Margwelaschwilis persönliche Lebensumstände, etwa um seinen intellektuellen Werdegang während seines Zwangsaufenthaltes in Georgien. So befasst sich dieser mit viel Raffinement ausgeklügelte Essayroman mit den Auswirkungen der Politik auf die Literatur und auf das 20. und das beginnende 21. Jahrhundert.
Autorenporträt
GIWI MARGWELASCHWILI wurde 1927 als Sohn georgischer Emigranten in Berlin geboren. 1946 wurde er zusammen mit seinem Vater vom sowjetischen Geheimdienst NKWD entführt. Der Vater wurde ermordet, Giwi Margwelaschwili in Sachsenhausen interniert, anschließend nach Georgien verschleppt. Dort lehrte er Deutsch. Erst 1987 konnte er nach Deutschland ausreisen. Ihn begleitete eine Unzahl von in der Emigration auf Deutsch geschriebenen Romanen und Erzählungen. 1994 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft und ein Ehrenstipendium des Bundespräsidenten, 1995 den Brandenburgischen Literatur- Ehrenpreis für sein Gesamtwerk, 2006 die Goethe-Medaille, 2008 das Bundesverdienstkreuz. Er ist Mitglied des P.E.N. und lebt in Berlin. Werke u.a.: Muzal - ein georgischer Roman, Das böse Kapitel, Kapitän Wakusch, Der ungeworfene Handschuh. Im Verbrecher Verlag erschienen: Officer Pembry, Roman Zuschauerräume, Lesedrama Vom Tod eines alten Lesers, Erzählungen
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2010

In den Seitenflügeln des Erzählten

Giwi Margwelaschwili ist ein dreiundachtzigjähriger Literaturrebell. Der Berliner Verbrecher Verlag ist wild entschlossen, so viel wie möglich aus dem Werk des deutsch-georgischen Autors zu veröffentlichen.

Romanfiguren können Lesern viel bedeuten, einige taugen sogar zur Lebenshilfe. Aber was bedeutet man selbst schon für Romanfiguren? Sie stecken in ihrem Schicksal, in das sie ihr Autor einmal festgeschrieben hat, und wir Leser können ihnen von unserem Beobachterposten nicht aus der Handlung heraushelfen. Wer den deutsch-georgischen Autor Giwi Margwelaschwili kennt, weiß: Es gibt ein Leserleben jenseits der ausgetretenen Pfade, auf denen man sich normalerweise durch einen Roman bewegt. Ein bisschen sind wir Leser wie Touristen, die an der gleichen Stadtführung teilnehmen. Jeder sieht beziehungsweise liest zwar mit eigenen Augen, aber wir laufen alle dieselbe Strecke ab, immer schön an der Handlung entlang, die Spannungsbögen hinauf und wieder hinunter, um am gleichen Ende anzulangen.

In "Der Kantakt - Aus den Lese-Lebenserfahrungen eines Stadtschreibers" verlässt Giwi Margwelaschwili die abgetretenen Leserpfade und schlägt sich in die Büsche und Seitenflügel der Literatur. Mitte der neunziger Jahre lebte er als Stadtschreiber in Rheinsberg und las Kurt Tucholskys gleichnamiges "Ein Bilderbuch für Verliebte". Die Novelle über das unbeschwerte Pärchen Claire und Wolfgang ist seit ihrem Erscheinen 1912 ein Klassiker der Verliebtheitsliteratur. Doch Margwelaschwili merkte dem Paar auch eine leise Bedrücktheit an: Die Vergänglichkeit ihrer Liebe ist ihnen durchaus bewusst. "Ihr seid doch Buchfiguren", möchte er ihnen sagen, "eure Liebe ist unvergänglich!" Ein Grund für den Autor, ein Metabuch zu "Rheinsberg" zu schreiben, einen achthundertseitigen Versuch, sich so weit in die Bücherwelten hineinzulesen, bis er sich "verlesestofflicht" und selbst zu einer Figur wird. Als diese möchte er Claire und Wolfgang eine ebenfalls "verlesestofflichte" Ausgabe von Tucholskys Novelle überreichen, damit sie die Chance haben, "selbst zu Lesern ihres Lese-Lebens zu werden ... sich selbst davon zu überzeugen, dass dieses Leben auf der Buchweltkugel unzerbrechbar fortbesteht".

Das mag einem zunächst versponnen vorkommen, vor allem, wenn man sich bislang noch nicht auf Margwelaschwilis Texte eingelassen hat, in denen er die Weltliteratur durcheinanderwirbelt. "Ontotextologie" nennt der Dreiundachtzigjährige sein Verfahren, alle klassischen Zuständigkeiten von Lesern, Figuren und Autoren auf den Kopf zu stellen, beschrieben hat er es 1993 in "Leben im Ontotext". Er hat schon Figuren in die Bibel geschickt, um Herodes' Soldaten aufzuhalten, hat Kontakt zu Hannibal Lecter und Harry Potter aufgenommen, und in "Muzal" ließ er eine Nebenfigur aufbegehren, der jedes Mal, wenn ein neuer Leser auftauchte, die Hand abgehackt wurde.

Es ist nur logisch, dass ein Autor wie Giwi Margwelaschwili gegen feste Zuschreibungen aufbegehrt und sich mit seinem Schreiben einen Fluchtweg in freiere Welten geschaffen hat. 1927 wurde er als Sohn eines georgischen Intellektuellen in Berlin geboren, während des Zweiten Weltkriegs gehörte er den Swing Kids an, 1945 wurden er und sein Vater vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet, der Vater erschossen und er selbst nach Monaten im Lager Sachsenhausen in die georgische Hauptstadt Tiflis verschleppt. Dort studierte er Germanistik, unterrichtete Deutsch und schrieb, immer in der Sprache seiner Kindheit, Romane, wissenschaftliche Abhandlungen, Gedichte und Erzählungen. Ein Versuch Heinrich Bölls, seine Werke mit nach Deutschland zu nehmen, scheiterte. Erst nach dem Ende des Kalten Krieges kam Margwelaschwili nach Berlin zurück, mit unzähligen unveröffentlichten Manuskripten aus der Zeit seines "zweiundvierzigjährigen Zwangsaufenthaltes - meiner Nachkriegsgefangenschaft" in Tiflis. Allesamt übermütige Texte, die Institutionen und Zuständigkeiten aufbrechen.

Auch Buchwelten erkennt Giwi Margwelaschwili nicht als statisch an, sondern sieht sie im Sinne der hegelschen Kunstwerkdefinition als offene und sich verändernde Gebilde, in denen die Figuren in pirandelloscher Manier ein Eigenleben entwickeln und der Autor die Kontrolle über seinen Text verliert. Roland Barthes nannte das den "Tod des Autors" und verkündete die "Geburt des Lesers", der zur sinnstiftenden Instanz werden kann. In Margwelaschwilis Texten dehnt sich die Macht des Lesers bis hin zur Sinnveränderung aus.

Über sein Leben in Tiflis schreibt er in einem zweiten Erzählstrang in "Der Kantakt". In diesen Episoden erfährt man auch, was es mit dem Titel auf sich hat: Während eines Kant-Kongresses zu Zeiten der Breschnew-Regierung beobachtete Giwi Margwelaschwili einen Kollegen, der mit einem westlichen Wissenschaftler ins Gespräch kam und auf eine Einladung nach Westeuropa hoffte. "Kant-Akte" scherzte der Kollege - ein "Kantakt" steht also sinnbildlich für eine bewusste Kontaktaufnahme.

Der "Kantakt" zu Tucholskys Figuren gestaltet sich nicht eben leicht, denn der Prozess, vom "Lesergeist" zum "verlesestofflichten Realgeist" zu werden, erfordert intellektuellen Kraftaufwand. Anfangs nehmen die beiden Buchmenschen ihren Leser gar nicht wahr, und wenn Margwelaschwili bei einem ihrer Ausflüge im Dickicht dabeisteht, fragt Claire, ob das Rascheln in den Büschen wohl von einem Bären komme.

Die ersten "Kantakte" gelingen ihm mit Nebenfiguren. Als er erschöpft beschließt, über Nacht in Tucholskys Rheinsberg zu bleiben, und sich dafür in einem "unthematischen Buchweltbezirkshotel" einbucht, kommt er mit dem Gastwirt ins Gespräch. "Wir Neben- und Hintergrundpersonen", erzählt dieser, "haben unsere absoluten Nebensachen, denen wir nachgehen", und er berichtet, dass die wenigsten überhaupt wissen, in was für einer Geschichte sie spielen. Die Unterhaltung über die "Lese-Lebensumstände" abseits der Haupthandlung gehört zu dem witzigsten, was jemals über Nebenfiguren geschrieben wurde.

Zugegebenermaßen wird es manchmal auch albern, etwa wenn Margwelaschwili beschreibt, dass er sich als "Lesergeist" sehr konzentrieren muss, um alle Gliedmaßen beisammenzuhalten. "Der Kantakt" macht dennoch Spaß, vor allem, wenn man sich auf die Terminologie eingelassen hat und nicht mehr über die "Buchweltsbezirke" stolpert, über die "Zeilenzeitspanne" oder die "Lesereisegesellschaft".

Auf dem Buchmarkt hat Margwelaschwili bislang nicht den großen Durchbruch geschafft, er würde sagen: Seine Buchmenschen leiden an "Leserschwund". Als er nach Deutschland zurückkehrte, erschienen mehrere seiner Bücher, er bekam Preise und ein Stipendium vom Bundespräsidenten, doch dann folgten Jahre ohne Veröffentlichungen. 2007 hat sich der kleine Berliner Verbrecher Verlag, der heute sein fünfzehnjähriges Bestehen feiert, seiner angenommen. Der Verleger Jörg Sundermeier ist wild entschlossen, so viel wie möglich zu Giwi Margwelaschwilis Lebzeiten herauszubringen. Seither erscheinen in dichter Folge seine dicken, pastellfarbenen Bücher, Monumente wie ihr Autor.

Kurt Tucholsky rechnete damit, dass der Zeitgeist nicht freundlich mit seiner Novelle "Rheinsberg" umgehen würde. Er hat sich geirrt. Auch dem großen Giwi Margwelaschwili, der so sehr an die Kraft des Lesens glaubt, wünscht man Aufmerksamkeit. Seine Buchweltsbezirke haben auf jeden Fall viele Lesertouristen verdient.

ANNE-DORE KROHN

Giwi Margwelaschwili: "Der Kantakt". Verbrecher Verlag, Berlin 2009. 800 S., geb., 36,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Für Anne-Dore Krohn sind Leser "Touristen, die an der gleichen Stadtführung teilnehmen". In seinem Roman "Der Kantakt" unternehme der 83-jährige "Literaturrebell" Giwi Margwelaschwili aber alles, um seiner eigenen Beobachterrolle zu entkommen, so die Rezensentin. Er greife sich Tucholskys Liebesnovelle "Rheinsberg" und klinke sich in seinem achthundertseitigen "Metabuch" kurzerhand selbst mit in die Erzählung ein. Mit dieser von ihm als "Ontotextologie" bezeichneten Vorgehensweise gehe er über Roland Barthes Diktum vom "Leser als sinnstiftender Instanz" hinaus und nehme innerhalb der Erzählung eine Sinnveränderung vor. Wenn der Autor in verschiedenen Nebenfiguren Tucholskys Liebespaar immer wieder Ratschläge erteilt oder in der Erzählung über "Lese-Lebensumstände" reflektiert, gehört dies für die Kritikerin mit zu dem "witzigsten", was sie je über Nebenfiguren gelesen hat. Und so verzeiht sie gern die ein oder andere Albernheit, denn diese "versponnene" Werk hat ihr viel Freude bereitet.

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