Rubens wird bis heute gerühmt für seine Schilderung der menschlichen Leidenschaften, von der Grausamkeit bis zur erotischen Hingabe. Doch so diesseitig, wie wir meinen, war seine Kunst keineswegs. Sie schuf eine neue, lebendige Sprache für eine wieder erblühende Kirche, die sich soeben von den Konfessionskriegen des 16. Jahrhunderts erholte. Nach den blutigen Kämpfen und den Bilderstürmen sollte der katholische Glaube nicht länger mit Gewalt erzwungen werden. Wie Bernini, so wollte auch Rubens durch eine sinnliche Kunst den Betrachter zum rechten Glauben überreden. Der farbige Glanz seiner Malerei, ihre Wärme und Festlichkeit, aber auch ihr Furor und ihre Klage waren dazu angetan, die Menschen religiös und ethisch zu bewegen. Willibald Sauerländer macht dies anhand von Rubens' Altargemälden deutlich, deren ursprüngliche Bestimmung und Wirkung er eindrucksvoll vor Augen führt. Damit deckt er die eigentliche Botschaft dieser Bilder wieder auf und befreit sie von den säkularen Missverständnissen einer religionsfernen Nachwelt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011Nach der Natur
Von heiklen Grenzen, bewegter Rede und verwandelten Bildern
Ein bekannter Primatologe und Professor für evolutionäre Anthropologie hat unlängst mit Nachdruck dafür plädiert, die Entgegensetzung von Kultur und Natur endlich aufzugeben. Diese Dichotomie möge zwar heuristisch nützlich sein, aber bei genauerer Betrachtung falle sie in sich zusammen. Zum einen nämlich seien Kategorien wie Natur und Kultur lediglich gesellschaftliche Konstrukte. Zum anderen würden die Diskurse, die diese Dichotomie stabilisieren, letztlich ja auch von und in Gehirnen erschaffen, die selbst evolutionär gewordene Organe und damit also Naturprodukte sind.
Als Argument wird man das nicht ansehen wollen. Lediglich als Beleg dafür, dass eine naturalistische Grundüberzeugung herauskommt, wenn man schlicht von ihr ausgeht. Dieser symptomatische Kurzschluss berührt allerdings nicht die durchaus triftige Einsicht, dass Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur problematisch geworden sind. Bloß ist das Verfahren, einer der beiden Sphären, die lange so reinlich voneinander abtrennbar schienen, nunmehr das ganze Feld zu überlassen - die Natur hat dabei die Oberhand -, kaum ein Weg, die dahinterstehenden Entwicklungen wirklich in den Blick zu bekommen.
Besser schon, man hält sich an Neuerscheinungen in diesem Herbst. Der an der ETH in Zürich lehrende Philosoph Michael Hampe hat mit "Tunguska oder Das Ende der Natur" (Carl Hanser Verlag) ein Buch vorgelegt, das direkt auf unsere Verlegenheiten zusteuert, wenn "die Natur" auf den Plan tritt. Sei es, wenn wir versuchen, uns selbst als Kompositum natürlicher und kultureller Anteile zu bestimmen; oder sei es im Bezug auf äußere Natur als Inbegriff der unabhängig von uns und unseren Interventionen gegebenen Dinge und Phänomene.
Dass beides nicht überzeugend gelingen will, hängt natürlich eng damit zusammen, dass wir unsere eigene Naturgeschichte mittlerweile immer deutlicher vor Augen bekommen und unsere Verfügungsmöglichkeiten über "die Natur" weiter wachsen. Gleichzeitig zeigt uns die neuere Wissenschaftsforschung ganz konkret, wie viele künstliche, also kulturell geformte Verrichtungen es braucht, um die natürlichen Phänomene zu erzeugen, an deren Regularität sich anknüpfen lässt. Wir sind demnach immer schon und auch dort im Spiel, wo wir eigentlich gar nichts zu suchen haben sollten, wenn "die Natur" das schlichtweg andere unserer kulturell-sozialen Welt wäre.
Vor diesem Hintergrund stehen Hampes Überlegungen, was unter "natürlich", "der Natur" und ihren "Gesetzen" zu verstehen sein sollte. Sie sind Lockerungsübungen, um von der Vorstellung einer von sich aus auf genau gebahnten Wegen ablaufenden Natur loszukommen und damit die Auffassung von natürlichen Phänomenen als inhärent gesetzmäßigen auf Abstand zu bringen. Es geht in Richtung eines Verständnisses von Natur als Verkettung von, genaugenommen, unwiederholbaren Einzelereignissen, die eine durch und durch partikulare und historische Wirklichkeit aufspannen.
Kein kleines Unterfangen also, aber vor allem auch eines, bei dem sich der Autor abseits von akademischen Gepflogenheiten der Darstellung hält. In einer Anknüpfung an die Tradition des Totengesprächs bekommt es der Leser hier mit vier Stimmen zu tun, die sich in Debatten verstricken und dabei markante Positionen ohne alle abschreckende Philosophenterminologie ins Spiel bringen.
Magistraler zwar, doch trotzdem elegant widmet sich Philippe Descola in "Jenseits von Natur und Kultur" (Suhrkamp Verlag) unserem eingefahrenen Naturbegriff. Der Inhaber eines Lehrstuhls für die "Ethnologie der Natur" am Collège de France geht es dabei vor allem um die basale Grenzziehung, mit der "die Natur" vom kulturell geformten Reich der sozialen Beziehungen, in dem wir uns bewegen, abgetrennt wird. Natur ist dann, wohin diese sozialen Relationen nicht reichen, weil in ihr die Voraussetzungen für sie gänzlich fehlen: Geist, Subjektivität, Formen des Bewusstseins und der Intentionalität. Sie mag lebendig sein, ist es in den Pflanzen und Tieren offenkundig. Aber das ändert nichts daran, dass diese Formen des Lebens grundsätzlich auf der anderen Seite der großen Auftrennung in Kultur und Natur zu stehen kommen - und also unter unseren Anspruch auf den Gebrauch der essentiell nichtmenschlicher Natur fallen.
Descola weiß natürlich, dass diese geläufige Auftrennung an bestimmten Stellen attackiert wird, vor allem mit Blick auf Tiere. Man denke nur an die regen Debatten darüber, ob und welche Kultur unseren nächsten Verwandten unter den Primaten zuzusprechen ist. Aber als Ethnologe - und Schüler von Claude Levi-Strauss - geht er einen anderen Weg. Sein Anspruch ist, die Abtrennung einer natürlichen, unseren menschlichen Verhältnissen inkompatiblen Sphäre als nur eine unter mehreren Möglichkeiten vor Augen zu führen, wie Gesellschaften sich die Welt zurechtlegen.
Das mag ein wenig abgehoben klingen, führt aber mitten hinein in einen überaus anregenden ethnologischen Parcours rund um die Erde - und in eine Fülle von Erzählungen, in denen Menschen vorkommen und Tiere, Pflanzen und Dinge, aber nicht unsere Grenzziehung zwischen ihnen. Zumindest nicht in der uns vertrauten Form. Da steht die Natur unter der Obhut kultivierender Geister, sind Tiere ebenso sozial organisiert wie die Menschen, haben auch Pflanzen an Personen gemahnende innere Eigenschaften. Wobei diese Beispiele allesamt für die von Descola "animistisch" genannte Konzeption der Welt stehen.
Sie erweist sich für ihn als eine von vier grundlegenden Weisen, wie Gesellschaften die Beziehungen zwischen menschlichem und nichtmenschlichem Bereich organisieren. Und Descolas Pointe ist, dass die für unsere westliche Welt bestimmende "naturalistische" Variante, gemessen an der Zahl von bestehenden Gesellschaften, der seltene Sonderfall ist.
Es liegt nicht auf der Hand, was aus einer solchen Diagnose zu machen ist. Aber wenn auch der ethnologisch entzauberten Notwendigkeit einer bestimmten kulturellen Organisation kein neu eröffneter Spielraum gesellschaftlicher Möglichkeiten entspricht - eine geschärfte Aufmerksamkeit für die auch auf naturalistischem Terrain anzutreffenden Spuren der anderen Varianten kann sie doch bewirken.
So zurückhaltend agiert Hans-Peter Dürr in seinem neuen Buch "Das Lebende lebendiger werden lassen" (Oekom Verlag) gerade nicht. Auch er nimmt die naturalistische Grenzziehung ins Visier, doch gleich mit einer kulturkritisch geläufigeren Vokabel, indem er auf einen falschen Materialismus zielt. Jenen nämlich, den er mit der Vorstellung verknüpft sieht, von der auch Hampe uns auf ganz grundsätzliche Weise entwöhnen möchte: von einer determinierten, maschinenhaft ablaufenden Natur.
Was der Physiker Dürr dagegen aufbietet, ist eine Erinnerung an die Quantentheorie: an ihren irreduziblen Wahrscheinlichkeitcharakter und den Abschied vom Konzept letzter Bausteine der Wirklichkeit, die sich immer noch wie kleine Stückchen von Materie verhielten. Statt dessen gelte es einzusehen, dass auf der untersten Ebene nur Form, Gestalt und Symmetrien anzutreffen sind. Und mit einem entschiedenen Schritt wird daraus die Versicherung, dass also im Grunde und überall etwas Geistiges webt, die Materie dagegen, recht betrachtet, nur als Schlacke anfällt in einer Welt, die sich in jedem Augenblick neu und im Horizont einer offenen Zukunft ereignet. Ein Anklang an religiös bewegte Rede - samt gnostischem Seitenhieb auf die schale Materie - wird einem dabei nicht entgehen.
Der Soziologe auf dem Feld der Wissenschaften Bruno Latour, an dessen Diagnose einer beständig an Hybridisierungen von Kultur und Natur arbeitenden Moderne sowohl Hampe als auch Descola anknüpfen, widmet sich in seinem Buch "Jubilieren" (Suhrkamp Verlag) gleich der Vollform solcher Rede. Oder vielmehr seiner Verlegenheit, zu ihr zu finden. Im Zentrum steht bei ihm die eher elementare Einsicht, dass religiöses Sprechen als eines, das gar keine direkte Referenz auf Dinge in der Welt hat, nicht aufgerechnet werden kann mit Diskursen, die ohne solche Referenzen leer liefen - also insbesondere jenen der Wissenschaften, die freilich auch nicht so einfach mit den Dingen verknüpft sind wie gern angenommen.
Von theologischer Programmatik, die sehr direkt mit weltlichen, nämlich mit römisch-kirchlichen Dingen verknüpft ist, handelt dafür der Kunsthistoriker Willibald Sauerländer. Er widmet sich einem Maler, der einem dabei wohl gar nicht gleich in den Sinn kommt, obwohl die Zahl seiner für Kirchen geschaffenen Werke groß ist. Sauerländer insistiert darauf, diesen "katholischen Rubens" (C. H. Beck Verlag) in den Blick zu nehmen: den europäischen Malerstar mit florierender Werkstatt, der in Zeiten der Religionskonflikte so grandios wie kaum ein anderer gegenreformatorische Bildprogramme verwirklichte.
Wohl ist Sauerländer nicht, wenn er Rubens der triumphierenden Kirche beispringen sieht. Und diese Reserve des Autors, der sich dem Leser als Agnostiker protestantischer Herkunft vorstellt, bekommt der Darstellung ausgezeichnet, zollt sie doch ihrerseits noch Rubens' ungeheurer malerischer Überzeugungskraft Tribut. Zu ihren Verfahren zählt nicht zuletzt, antike Vorlagen ins Christliche hinüberzuspielen (und manchmal auch wieder zurück).
In solche Spiele im Umgang mit Vorlagen führt auch das Buch eines anderen Kunsthistorikers ganz wunderbar hinein. Werner Busch widmet sich in "Great wits jump" (Wilhelm Fink Verlag) dem Umgang von Laurence Sterne mit Werken der bildenden Kunst. Nicht nur sind die Funde beachtlich, die Busch im "Tristram Shandy" macht. Es ist auch äußerst vergnüglich, ihm auf verzweigten Wegen durch all die Übernahmen, Abwandlungen und gewitzten Bedeutungsverschiebungen zu folgen, die Texte und Bilder verknüpfen.
Bestimmte Gaben der Natur, die mit der Anziehung der Geschlechter eng zusammenhängen, sind bei Sterne bekanntlich immer mit im Spiel. Eine moderne, wenn auch etwas wackelige Behandlung einiger solcher Gaben lässt sich im Buch der Soziologin Catherine Hakim über das "Erotische Kapital" (Campus Verlag) nachlesen. Und wer auf diesem Terrain Kultur von Natur scheiden möchte, der sollte ohnehin schnell eines Besseren belehrt werden können.
HELMUT MAYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von heiklen Grenzen, bewegter Rede und verwandelten Bildern
Ein bekannter Primatologe und Professor für evolutionäre Anthropologie hat unlängst mit Nachdruck dafür plädiert, die Entgegensetzung von Kultur und Natur endlich aufzugeben. Diese Dichotomie möge zwar heuristisch nützlich sein, aber bei genauerer Betrachtung falle sie in sich zusammen. Zum einen nämlich seien Kategorien wie Natur und Kultur lediglich gesellschaftliche Konstrukte. Zum anderen würden die Diskurse, die diese Dichotomie stabilisieren, letztlich ja auch von und in Gehirnen erschaffen, die selbst evolutionär gewordene Organe und damit also Naturprodukte sind.
Als Argument wird man das nicht ansehen wollen. Lediglich als Beleg dafür, dass eine naturalistische Grundüberzeugung herauskommt, wenn man schlicht von ihr ausgeht. Dieser symptomatische Kurzschluss berührt allerdings nicht die durchaus triftige Einsicht, dass Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur problematisch geworden sind. Bloß ist das Verfahren, einer der beiden Sphären, die lange so reinlich voneinander abtrennbar schienen, nunmehr das ganze Feld zu überlassen - die Natur hat dabei die Oberhand -, kaum ein Weg, die dahinterstehenden Entwicklungen wirklich in den Blick zu bekommen.
Besser schon, man hält sich an Neuerscheinungen in diesem Herbst. Der an der ETH in Zürich lehrende Philosoph Michael Hampe hat mit "Tunguska oder Das Ende der Natur" (Carl Hanser Verlag) ein Buch vorgelegt, das direkt auf unsere Verlegenheiten zusteuert, wenn "die Natur" auf den Plan tritt. Sei es, wenn wir versuchen, uns selbst als Kompositum natürlicher und kultureller Anteile zu bestimmen; oder sei es im Bezug auf äußere Natur als Inbegriff der unabhängig von uns und unseren Interventionen gegebenen Dinge und Phänomene.
Dass beides nicht überzeugend gelingen will, hängt natürlich eng damit zusammen, dass wir unsere eigene Naturgeschichte mittlerweile immer deutlicher vor Augen bekommen und unsere Verfügungsmöglichkeiten über "die Natur" weiter wachsen. Gleichzeitig zeigt uns die neuere Wissenschaftsforschung ganz konkret, wie viele künstliche, also kulturell geformte Verrichtungen es braucht, um die natürlichen Phänomene zu erzeugen, an deren Regularität sich anknüpfen lässt. Wir sind demnach immer schon und auch dort im Spiel, wo wir eigentlich gar nichts zu suchen haben sollten, wenn "die Natur" das schlichtweg andere unserer kulturell-sozialen Welt wäre.
Vor diesem Hintergrund stehen Hampes Überlegungen, was unter "natürlich", "der Natur" und ihren "Gesetzen" zu verstehen sein sollte. Sie sind Lockerungsübungen, um von der Vorstellung einer von sich aus auf genau gebahnten Wegen ablaufenden Natur loszukommen und damit die Auffassung von natürlichen Phänomenen als inhärent gesetzmäßigen auf Abstand zu bringen. Es geht in Richtung eines Verständnisses von Natur als Verkettung von, genaugenommen, unwiederholbaren Einzelereignissen, die eine durch und durch partikulare und historische Wirklichkeit aufspannen.
Kein kleines Unterfangen also, aber vor allem auch eines, bei dem sich der Autor abseits von akademischen Gepflogenheiten der Darstellung hält. In einer Anknüpfung an die Tradition des Totengesprächs bekommt es der Leser hier mit vier Stimmen zu tun, die sich in Debatten verstricken und dabei markante Positionen ohne alle abschreckende Philosophenterminologie ins Spiel bringen.
Magistraler zwar, doch trotzdem elegant widmet sich Philippe Descola in "Jenseits von Natur und Kultur" (Suhrkamp Verlag) unserem eingefahrenen Naturbegriff. Der Inhaber eines Lehrstuhls für die "Ethnologie der Natur" am Collège de France geht es dabei vor allem um die basale Grenzziehung, mit der "die Natur" vom kulturell geformten Reich der sozialen Beziehungen, in dem wir uns bewegen, abgetrennt wird. Natur ist dann, wohin diese sozialen Relationen nicht reichen, weil in ihr die Voraussetzungen für sie gänzlich fehlen: Geist, Subjektivität, Formen des Bewusstseins und der Intentionalität. Sie mag lebendig sein, ist es in den Pflanzen und Tieren offenkundig. Aber das ändert nichts daran, dass diese Formen des Lebens grundsätzlich auf der anderen Seite der großen Auftrennung in Kultur und Natur zu stehen kommen - und also unter unseren Anspruch auf den Gebrauch der essentiell nichtmenschlicher Natur fallen.
Descola weiß natürlich, dass diese geläufige Auftrennung an bestimmten Stellen attackiert wird, vor allem mit Blick auf Tiere. Man denke nur an die regen Debatten darüber, ob und welche Kultur unseren nächsten Verwandten unter den Primaten zuzusprechen ist. Aber als Ethnologe - und Schüler von Claude Levi-Strauss - geht er einen anderen Weg. Sein Anspruch ist, die Abtrennung einer natürlichen, unseren menschlichen Verhältnissen inkompatiblen Sphäre als nur eine unter mehreren Möglichkeiten vor Augen zu führen, wie Gesellschaften sich die Welt zurechtlegen.
Das mag ein wenig abgehoben klingen, führt aber mitten hinein in einen überaus anregenden ethnologischen Parcours rund um die Erde - und in eine Fülle von Erzählungen, in denen Menschen vorkommen und Tiere, Pflanzen und Dinge, aber nicht unsere Grenzziehung zwischen ihnen. Zumindest nicht in der uns vertrauten Form. Da steht die Natur unter der Obhut kultivierender Geister, sind Tiere ebenso sozial organisiert wie die Menschen, haben auch Pflanzen an Personen gemahnende innere Eigenschaften. Wobei diese Beispiele allesamt für die von Descola "animistisch" genannte Konzeption der Welt stehen.
Sie erweist sich für ihn als eine von vier grundlegenden Weisen, wie Gesellschaften die Beziehungen zwischen menschlichem und nichtmenschlichem Bereich organisieren. Und Descolas Pointe ist, dass die für unsere westliche Welt bestimmende "naturalistische" Variante, gemessen an der Zahl von bestehenden Gesellschaften, der seltene Sonderfall ist.
Es liegt nicht auf der Hand, was aus einer solchen Diagnose zu machen ist. Aber wenn auch der ethnologisch entzauberten Notwendigkeit einer bestimmten kulturellen Organisation kein neu eröffneter Spielraum gesellschaftlicher Möglichkeiten entspricht - eine geschärfte Aufmerksamkeit für die auch auf naturalistischem Terrain anzutreffenden Spuren der anderen Varianten kann sie doch bewirken.
So zurückhaltend agiert Hans-Peter Dürr in seinem neuen Buch "Das Lebende lebendiger werden lassen" (Oekom Verlag) gerade nicht. Auch er nimmt die naturalistische Grenzziehung ins Visier, doch gleich mit einer kulturkritisch geläufigeren Vokabel, indem er auf einen falschen Materialismus zielt. Jenen nämlich, den er mit der Vorstellung verknüpft sieht, von der auch Hampe uns auf ganz grundsätzliche Weise entwöhnen möchte: von einer determinierten, maschinenhaft ablaufenden Natur.
Was der Physiker Dürr dagegen aufbietet, ist eine Erinnerung an die Quantentheorie: an ihren irreduziblen Wahrscheinlichkeitcharakter und den Abschied vom Konzept letzter Bausteine der Wirklichkeit, die sich immer noch wie kleine Stückchen von Materie verhielten. Statt dessen gelte es einzusehen, dass auf der untersten Ebene nur Form, Gestalt und Symmetrien anzutreffen sind. Und mit einem entschiedenen Schritt wird daraus die Versicherung, dass also im Grunde und überall etwas Geistiges webt, die Materie dagegen, recht betrachtet, nur als Schlacke anfällt in einer Welt, die sich in jedem Augenblick neu und im Horizont einer offenen Zukunft ereignet. Ein Anklang an religiös bewegte Rede - samt gnostischem Seitenhieb auf die schale Materie - wird einem dabei nicht entgehen.
Der Soziologe auf dem Feld der Wissenschaften Bruno Latour, an dessen Diagnose einer beständig an Hybridisierungen von Kultur und Natur arbeitenden Moderne sowohl Hampe als auch Descola anknüpfen, widmet sich in seinem Buch "Jubilieren" (Suhrkamp Verlag) gleich der Vollform solcher Rede. Oder vielmehr seiner Verlegenheit, zu ihr zu finden. Im Zentrum steht bei ihm die eher elementare Einsicht, dass religiöses Sprechen als eines, das gar keine direkte Referenz auf Dinge in der Welt hat, nicht aufgerechnet werden kann mit Diskursen, die ohne solche Referenzen leer liefen - also insbesondere jenen der Wissenschaften, die freilich auch nicht so einfach mit den Dingen verknüpft sind wie gern angenommen.
Von theologischer Programmatik, die sehr direkt mit weltlichen, nämlich mit römisch-kirchlichen Dingen verknüpft ist, handelt dafür der Kunsthistoriker Willibald Sauerländer. Er widmet sich einem Maler, der einem dabei wohl gar nicht gleich in den Sinn kommt, obwohl die Zahl seiner für Kirchen geschaffenen Werke groß ist. Sauerländer insistiert darauf, diesen "katholischen Rubens" (C. H. Beck Verlag) in den Blick zu nehmen: den europäischen Malerstar mit florierender Werkstatt, der in Zeiten der Religionskonflikte so grandios wie kaum ein anderer gegenreformatorische Bildprogramme verwirklichte.
Wohl ist Sauerländer nicht, wenn er Rubens der triumphierenden Kirche beispringen sieht. Und diese Reserve des Autors, der sich dem Leser als Agnostiker protestantischer Herkunft vorstellt, bekommt der Darstellung ausgezeichnet, zollt sie doch ihrerseits noch Rubens' ungeheurer malerischer Überzeugungskraft Tribut. Zu ihren Verfahren zählt nicht zuletzt, antike Vorlagen ins Christliche hinüberzuspielen (und manchmal auch wieder zurück).
In solche Spiele im Umgang mit Vorlagen führt auch das Buch eines anderen Kunsthistorikers ganz wunderbar hinein. Werner Busch widmet sich in "Great wits jump" (Wilhelm Fink Verlag) dem Umgang von Laurence Sterne mit Werken der bildenden Kunst. Nicht nur sind die Funde beachtlich, die Busch im "Tristram Shandy" macht. Es ist auch äußerst vergnüglich, ihm auf verzweigten Wegen durch all die Übernahmen, Abwandlungen und gewitzten Bedeutungsverschiebungen zu folgen, die Texte und Bilder verknüpfen.
Bestimmte Gaben der Natur, die mit der Anziehung der Geschlechter eng zusammenhängen, sind bei Sterne bekanntlich immer mit im Spiel. Eine moderne, wenn auch etwas wackelige Behandlung einiger solcher Gaben lässt sich im Buch der Soziologin Catherine Hakim über das "Erotische Kapital" (Campus Verlag) nachlesen. Und wer auf diesem Terrain Kultur von Natur scheiden möchte, der sollte ohnehin schnell eines Besseren belehrt werden können.
HELMUT MAYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2011Die sakrale Blutspur und
der barocke Überschwang
Willibald Sauerländer entdeckt die polyphone Poesie
in den kirchlichen Auftragswerken von Rubens
Wenn ein Kunsthistoriker, der sich als „aufgeklärten Agnostiker“ bezeichnet, eine thetische Schrift mit dem Titel „Der katholische Rubens“ herausgibt, könnte eine böse Abrechnung mit den im Auftrag der Kirche entstandenen Arbeiten jenes Künstlers zu befürchten sein, der als der inspirierteste Propagandist der Gegenreformation gilt. Wenn aber Willibald Sauerländer, der sich im Vorwort des angesprochenen Werks als Abkömmling einer „Familie von reformierten Lehrern und Küstern, welcher alles Katholische verdächtig war“, outet, schon im Titel seiner Untersuchung das Katholische im Werk von Rubens in den Mittelpunkt stellt, dann sind Auseinandersetzungen von größter Lebendigkeit und Triftigkeit zu erwarten. Und tatsächlich erschließt der kritische Blick des Agnostikers geistliche wie emotionale Tiefenschichten im Werk des Meisters, über die sich die Kunstgeschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte mit tönenden Leerformeln sanft berauscht hinweggehangelt hat.
Anlass für Sauerländers Einstieg in die fern gerückte Schreckenswelt der katholischen Märtyrerdarstellungen waren nicht nur die in jüngeren Publikationen spürbaren intellektuellen Vorbehalte gegen die Botschaften der katholischen Bilder, sondern auch die seit langem feststellbare Tendenz der Kunstwissenschaft, die religiösen Bekenntnisbilder des Malers Rubens dem kirchlichen Kontext, dem sie ihre Entstehung verdanken, zu entziehen. Die ersten Schritte in Richtung Säkularisation wurden natürlich schon unternommen, als man die großen kirchlichen Visionen von Rubens, die in all ihren sprechenden Details präzise dem heilsgeschichtlichen Programm einer bestimmten kirchlichen Weihestätte verpflichtet sind, in weltliche Museen überführte und dort in den Barocksälen zwischen mythologischen Darstellungen, Jagdszenen, Porträts, Landschaften und Prunkstillleben neutralisierte, ja um ihre spezifische Botschaft betrog.
Einige der großen Altarblätter – und speziell die mit den grausigsten Folter- und Gewaltszenarien – gehören zum Dramatisch-Bewegendsten, aber auch zum Irritierendsten, was Rubens ersonnen hat. Mit Kunsthistoriker-Schlagworten wie „barocker Überschwang“ lassen sich die ungeheuerlichen Dimensionen, die in diesen Bildern zwischen Erde und Himmel, zwischen Grauen und Triumph, zwischen Qual und Erlösung aufgerissen werden, nicht ermessen. Aus diesem Grund hat sich Sauerländer mit den individuellen Entstehungsgeschichten der einzelnen Altäre beschäftigt; er hat sich in die jeweilige Glaubenswelt der auftraggebenden Klöster und Bruderschaften vertieft und die erzählerischen Details in den Bildern Punkt für Punkt mit den entsprechenden Partien in den Heiligenlegenden abgeglichen. So bekommen die großen Gesten in den Kompositionen überhaupt erst etwas von jenem heilsgeschichtlichen Elan mitgeteilt, dem sie ihr Dasein verdanken und der ihnen im Bildzusammenhang einen höheren Sinn gibt. Die grausigen Geschehnisse in den Bild-Erzählungen aber lassen sich allesamt so detailgenau aus dem zugrundeliegenden Schrifttum ableiten, dass sich der üblichen Bewunderung für den Maler und Erzähler Rubens das Staunen über seine einzigartige Fähigkeit beigesellt, mit unsäglichen Gruselelementen so etwas wie einen Gottesbeweis zu liefern. Dass bei der Ausformung der Affekte oft hohes Personal der Antike – Merkur, Laokoon, Niobe – das Vor-Bild lieferte, deutet an, in welchen Höhenlagen sich das christliche Leiden bei Rubens ereignet.
An den beiden gewaltigen Altarbildern aus Freising und Neuburg/Donau in der Alten Pinakothek, die propagandistisch den Sieg über das protestantische Ketzertum feiern, legt Sauerländer dar, wie Rubens dem dezidiert gegenreformatorischen Thema eine Siegesdramatik verleiht, die ihr Ziel punktgenau trifft, aber mit ihrer ausgearbeiteten Gut-Böse-Antinomie auch von der Gegenseite reklamiert werden könnte. In der „sakralen Blutspur“ aber, die sich durch die Märtyrer-Darstellungen und durch biblische Szenarien wie den „Bethlehemitischen Kindermord“ zieht, klingen „der Terror irdischer Historie und die Gnade des Himmels (...) in einer polyphonen Poesie zusammen“.
GOTTFRIED KNAPP
WILLIBALD SAUERLÄNDER: Der katholische Rubens. Verlag C.H.Beck, München 2011, 304 Seiten, 109 Abb., 38 Euro.
Die Säkularisierung begann
schon, als die Altarbilder
in die Museen gebracht wurden
Die Mutter, die eine blutige Windel gen Himmel hebt, im „Bethlehemitischen Kindermord“. Abb.: Alte Pinakothek
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der barocke Überschwang
Willibald Sauerländer entdeckt die polyphone Poesie
in den kirchlichen Auftragswerken von Rubens
Wenn ein Kunsthistoriker, der sich als „aufgeklärten Agnostiker“ bezeichnet, eine thetische Schrift mit dem Titel „Der katholische Rubens“ herausgibt, könnte eine böse Abrechnung mit den im Auftrag der Kirche entstandenen Arbeiten jenes Künstlers zu befürchten sein, der als der inspirierteste Propagandist der Gegenreformation gilt. Wenn aber Willibald Sauerländer, der sich im Vorwort des angesprochenen Werks als Abkömmling einer „Familie von reformierten Lehrern und Küstern, welcher alles Katholische verdächtig war“, outet, schon im Titel seiner Untersuchung das Katholische im Werk von Rubens in den Mittelpunkt stellt, dann sind Auseinandersetzungen von größter Lebendigkeit und Triftigkeit zu erwarten. Und tatsächlich erschließt der kritische Blick des Agnostikers geistliche wie emotionale Tiefenschichten im Werk des Meisters, über die sich die Kunstgeschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte mit tönenden Leerformeln sanft berauscht hinweggehangelt hat.
Anlass für Sauerländers Einstieg in die fern gerückte Schreckenswelt der katholischen Märtyrerdarstellungen waren nicht nur die in jüngeren Publikationen spürbaren intellektuellen Vorbehalte gegen die Botschaften der katholischen Bilder, sondern auch die seit langem feststellbare Tendenz der Kunstwissenschaft, die religiösen Bekenntnisbilder des Malers Rubens dem kirchlichen Kontext, dem sie ihre Entstehung verdanken, zu entziehen. Die ersten Schritte in Richtung Säkularisation wurden natürlich schon unternommen, als man die großen kirchlichen Visionen von Rubens, die in all ihren sprechenden Details präzise dem heilsgeschichtlichen Programm einer bestimmten kirchlichen Weihestätte verpflichtet sind, in weltliche Museen überführte und dort in den Barocksälen zwischen mythologischen Darstellungen, Jagdszenen, Porträts, Landschaften und Prunkstillleben neutralisierte, ja um ihre spezifische Botschaft betrog.
Einige der großen Altarblätter – und speziell die mit den grausigsten Folter- und Gewaltszenarien – gehören zum Dramatisch-Bewegendsten, aber auch zum Irritierendsten, was Rubens ersonnen hat. Mit Kunsthistoriker-Schlagworten wie „barocker Überschwang“ lassen sich die ungeheuerlichen Dimensionen, die in diesen Bildern zwischen Erde und Himmel, zwischen Grauen und Triumph, zwischen Qual und Erlösung aufgerissen werden, nicht ermessen. Aus diesem Grund hat sich Sauerländer mit den individuellen Entstehungsgeschichten der einzelnen Altäre beschäftigt; er hat sich in die jeweilige Glaubenswelt der auftraggebenden Klöster und Bruderschaften vertieft und die erzählerischen Details in den Bildern Punkt für Punkt mit den entsprechenden Partien in den Heiligenlegenden abgeglichen. So bekommen die großen Gesten in den Kompositionen überhaupt erst etwas von jenem heilsgeschichtlichen Elan mitgeteilt, dem sie ihr Dasein verdanken und der ihnen im Bildzusammenhang einen höheren Sinn gibt. Die grausigen Geschehnisse in den Bild-Erzählungen aber lassen sich allesamt so detailgenau aus dem zugrundeliegenden Schrifttum ableiten, dass sich der üblichen Bewunderung für den Maler und Erzähler Rubens das Staunen über seine einzigartige Fähigkeit beigesellt, mit unsäglichen Gruselelementen so etwas wie einen Gottesbeweis zu liefern. Dass bei der Ausformung der Affekte oft hohes Personal der Antike – Merkur, Laokoon, Niobe – das Vor-Bild lieferte, deutet an, in welchen Höhenlagen sich das christliche Leiden bei Rubens ereignet.
An den beiden gewaltigen Altarbildern aus Freising und Neuburg/Donau in der Alten Pinakothek, die propagandistisch den Sieg über das protestantische Ketzertum feiern, legt Sauerländer dar, wie Rubens dem dezidiert gegenreformatorischen Thema eine Siegesdramatik verleiht, die ihr Ziel punktgenau trifft, aber mit ihrer ausgearbeiteten Gut-Böse-Antinomie auch von der Gegenseite reklamiert werden könnte. In der „sakralen Blutspur“ aber, die sich durch die Märtyrer-Darstellungen und durch biblische Szenarien wie den „Bethlehemitischen Kindermord“ zieht, klingen „der Terror irdischer Historie und die Gnade des Himmels (...) in einer polyphonen Poesie zusammen“.
GOTTFRIED KNAPP
WILLIBALD SAUERLÄNDER: Der katholische Rubens. Verlag C.H.Beck, München 2011, 304 Seiten, 109 Abb., 38 Euro.
Die Säkularisierung begann
schon, als die Altarbilder
in die Museen gebracht wurden
Die Mutter, die eine blutige Windel gen Himmel hebt, im „Bethlehemitischen Kindermord“. Abb.: Alte Pinakothek
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ausgerechnet der sich selbst als "aufgeklärten Agnostiker" bezeichnende und einer protestantischen Familie entstammende Willibald Sauerländer arbeitet nun das Katholische im Werk Rubens heraus, freut sich Gottfried Knapp. Nachdem in der jüngeren Kunstgeschichte das Oeuvre des Barockmalers nicht zuletzt durch seine Aufbewahrung in weltlichen Museen systematisch säkularisiert worden ist, konzentriert sich der Autor höchst gewinnbringend auf den religiösen Kontext, in dem Rubens' zum Teil extrem gewaltsame Darstellungen von christlichen Märtyrern und seine monumentalen Altarbilder stehen, so der Rezensent begeistert. Dass hier jemand sich nicht mit kunsthistorischen Floskeln über religiöse Fragen hinwegsetzt, sondern sich intensiv mit den Auftraggebern und Ruben's gegenreformatorischem Impetus auseinandersetzt, ist Knapp sehr willkommen. Der Kunsthistoriker öffnet die Augen für die theologische Tiefendimension von Rubens' Werken und die Fähigkeit des Malers, mit seinen gruseligen Martyriumsdarstellungen sogar so etwas wie einen "Gottesbeweis" vorzulegen, preist er begeistert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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