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Produktdetails
  • Verlag: Europa Verlag
  • Seitenzahl: 188
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 299g
  • ISBN-13: 9783203795300
  • Artikelnr.: 24879714
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.02.2001

Im Kaukasus pocht Russland auf seinen Großmachtanspruch
Zwei düstere Szenarien für die politische und wirtschaftliche Entwicklung in und um Tschetschenien – und ein Hoffnungsschimmer
WOLFGANG GÜNTER LERCH: Der Kaukasus. Nationalitäten, Religionen und Großmächte im Widerstreit, Europa Verlag, Hamburg 2000, 180 Seiten, 24,50 Mark.
Der zweite Tschetschenienkrieg hat die Krisen und Konflikte im Kaukasus wieder in den Blickpunkt der westlichen Öffentlichkeit gerückt. Zuvor lag das Augenmerk noch auf dem Krieg im Kosovo und den komplizierten Verhältnissen auf dem Balkan. Weiter östlich dagegen, auf dem Isthmus zwischen Europa und Asien, schien es ruhiger geworden zu sein. Doch der Schein trog. Im Frühjahr und Sommer 1999 kam es zu neuen Unruhen, die diesmal von den kleineren nordkaukasischen Republiken ausgingen.
Im Mai flammte der schwelende Konflikt zwischen den rivalisierenden Volksgruppen in der winzigen Republik Karachai-Tscherkessien auf. Von der Weltpresse nahezu unbeachtet, wurden die Präsidentschaftswahlen von Bombenanschlägen begleitet. Moskau musste mit Truppen die Wahllokale sichern und setzte auf Gewalt: Um die Ordnung wiederherzustellen griff es demonstrativ mit Bomben und Granaten die Stadt Tscherkessk an. Die mörderischen Sprengstoffanschläge auf ein Offiziersheim in Bujnaksk in Dagestan und auf Wohnhäuser in Moskau und Wolgodonsk, der Einfall von Kommandotrupps bewaffneter Tschetschenen in Dagestan im August und September 1999 verschoben das Zentrum der Konflikte weiter nach Osten.
Russland sah sich in dreifacher Weise herausgefordert. Erstens fühlte Moskau sich in seiner politischen Autorität direkt betroffen. Obwohl es bis heute keine Beweise gibt, machte die Regierung Tschetschenen für die Bluttaten verantwortlich. Jetzt bot sich die Gelegenheit, mit großer Unterstützung in der russischen Bevölkerung die empfindliche Niederlage der russischen Truppen im ersten Tschetschenienkrieg (1994 bis 1996) wettzumachen. Die „Ehre und Würde” der Armee gegen die „Banditen” und „Terroristen” konnte wiederhergestellt werden. Der neue Premierminister Putin nutzte die Gunst der Stunde und förderte mit einem energisch und kompromisslos geführten Krieg seinen kometenhaften Aufstieg ins Präsidentenamt.
Zweitens verbanden sich die Konflikte in Dagestan und Tschetschenien mit der russischen Außenpolitik: Russland sah sich in seinem Großmachtanspruch herausgefordert. Die Luftangriffe der Nato gegen Jugoslawien hatten einerseits Moskaus Ohnmacht demonstriert, andererseits aber auch deutlich gemacht, dass Gewaltanwendung weiterhin ein wichtiges Mittel der internationalen Politik ist. Warum sollte das, was der Nato in Erweiterung ihrer Funktionen und angeblich außerhalb ihres Geltungsbereichs recht war, nicht Russland innerhalb seiner Grenzen billig sein?
So jedenfalls dachte man im Sommer 1999 im Moskauer außen- und sicherheitspolitischen Establishment. Die militärische Intervention der westlichen Allianz wurde gleichzeitig in den Zusammenhang der Nato-Ost-Erweiterung gestellt und zu einem Präzedenzfall stilisiert. Der Westen könnte schließlich auf die Idee kommen, unter dem Vorwand angeblicher „massiver Menschenrechtsverletzungen” auf russischem oder ehemals sowjetischem Territorium militärisch zu intervenieren – beispielsweise im Kaukasus. Und da die Nato in der Sicht der Moskauer Machtelite letzten Endes nur den verlängerten Arm Washingtons auf dem europäischen Kontinent darstellt und den USA Streben nach globaler Vorherrschaft zugeschrieben wird, sah sich Russland in einem strategischen Konkurrenzverhältnis mit der einzigen noch verbliebenen Weltmacht.
Angezapfte Ölleitungen
Drittens berührte der in Dagestan aufgeflammte Konflikt wichtige wirtschaftliche Interessen. Seitdem die Ölressourcen des Kaspischen Meeres von den Anrainerstaaten als Instrument wirtschaftlicher Unabhängigkeit neu entdeckt und mit Hilfe westlicher Unternehmen erschlossen werden sollen, hat es Auseinandersetzungen um die Transportrouten gegeben. Russland, Iran, Georgien und die Türkei sowie mit Einschränkung auch China haben sich als Transitländer angeboten. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre wurden zwei Ölleitungen repariert und teilweise neu gebaut. Die eine führt von Baku zum georgischen Schwarzmeerhafen Supsa, die andere über Dagestan und Tschetschenien zum russischen Hafen Noworossijsk. Eine Entscheidung für die Hauptexportleitung stand im Sommer 1999 aber noch aus.
Die anarchischen Zustände in Tschetschenien und das Eindringen bewaffneter Kräfte nach Dagestan verschlechterten die russischen Karten dramatisch. Für mögliche Investoren unterstrichen die Kämpfe die große Unsicherheit der Transitwege über russisches Territorium. Schon die existierende Route von Baku nach Noworossijsk war seit April nur gelegentlich funktionsfähig. Sie wurde ständig in Tschetschenien unterbrochen und angezapft, vermutlich nicht durch die Regierung, sondern von unkontrollierten und unkontrollierbaren mafiösen Gruppen. Da Russland vertraglich verpflichtet ist, jährlich 2,5 Millionen Tonnen Erdöl nach Noworossijsk zu transportieren, mehr aber noch, weil es um seine Reputation als verlässlicher Transporteur fürchtete, wurde ein Teil des Öls aufwendig unter Umgehung Tschetscheniens per Eisenbahn transportiert. Im ersten Halbjahr 1999 betrug die so transportierte Menge allerdings nur etwa 40 Prozent des vereinbarten Volumens. Dagestan konnte aber weder mit einer Pipeline noch mit einer Eisenbahn umgangen werden, und gerade dieses strategisch und wirtschaftlich für Russland wichtige Gebiet drohte, von Tschetschenien aus destabilisiert zu werden. Ein drastisches Durchgreifen in beiden nordkaukasischen Gebieten schien deshalb dem Kreml dringend geboten.
Die komplizierten innen- und außenpolitischen sowie militärstrategischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge der gesamten Region südlich und nördlich des kaukasischen Gebirgskamms werden von Wolfgang Günter Lerch nur zu einem Teil erhellt. Wie er selbst schreibt, geht es ihm im wesentlichen darum, die großen Linien in Geschichte, Politik und Kultur nachzuzeichnen, die es wiederum erleichtern sollen, das Verstehen der Konflikte zu erleichtern. Das ist ihm voll gelungen. In anschaulicher und eindringlicher Weise trägt er die wichtigsten Angaben zur historischen Entwicklung der Staaten im Transkaukasus und der nordkaukasischen Republiken in knapper Form zusammen und bezieht sie auf die Gegenwart. Im Vordergrund stehen die Ereignisse in der Region selbst. Immer wieder nimmt er aber auch auf die Interessen und Politik der umliegenden Großmächte Bezug.
Der Zusammenhang, in den der Autor die regionalen Entwicklungen stellt, ist der historische Prozess der Entkolonialisierung. Noch vor einem Jahrzehnt, schreibt er, als die Sowjetunion noch ideologisch und materiell „nationale Befreiungsbewegungen” unterstützte, hätte sich Moskau nie träumen lassen, dass es sich auf eigenem Boden und an seinen Grenzen – im „nahen Ausland” – mit mächtigen Strömungen neokolonialistischer Auf- und Loslösung auseinandersetzen müsste. Die meisten Völker des Kaukasus und Zentralasiens, von den baltischen Staaten ganz zu schweigen, wollen nicht mehr Untertanen der Russen sein, oder doch wenigstens zu ganz anderen, mehr von ihnen diktierten und akzeptierten Bedingungen.
Die politische Klasse Moskaus blendet aber Entkolonisierung als Erklärung der gegenwärtigen Prozesse aus. Für sie sind die heutigen Emanzipationsbestrebungen unterdrückter Völker des ehemaligen Zaren- und Sowjetreiches schlicht und einfach Separatismus und Terrorismus. Bei derart selbstgerechten Vorstellungen werden die Deportationen ganzer Völkerschaften des Kaukasus unter Stalin im Jahre 1944 ebenso ausgeblendet und verdrängt wie die Gräueltaten der Sicherheitsorgane in den „Filtrationslagern” im zweiten Tschetschenienkrieg.
Doch was sollen die Russen tun? Lerch entwickelt drei Szenarien. Erstens: Weiter so, wie bisher. Im Bewusstsein seiner militärischen Überlegenheit und international abgesichert durch seine Atomwaffen verweigert Moskau jedes Zugeständnis. Schon jetzt wird Tschetschenien vom Kreml direkt regiert und Putin bemüht sich, in den anderen Föderationssubjekten die Zentralgewalt zu stärken. In den drei transkaukasischen Staaten könnte Russland versuchen, mittels seiner Truppen, die es noch in Georgien und Armenien unterhält, so viel Druck und Einfluss wie möglich auszuüben.
Ein zweites Szenarium ist noch düsterer. Es beruht auf der im Moskauer außen- und sicherheitspolitischen Establishment durchaus anzutreffenden Ansicht, Russland werde erst dann wieder eine Großmacht sein, die der Westen ernst nähme, wenn es wieder die frühere Stärke und Ausdehnung der Sowjetunion erlange. Dieser Vorstellung folgend, bemüht sich Russland, die Länder zurückzuerobern oder zumindest zurückzugewinnen, die heute der GUS angehören, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Der Kaukasus wäre in dieser Strategie nur ein untergeordneter Fall, der Nordkaukasus ohnehin, da dort bis zum heutigen Tag niemand die Unabhängigkeit errungen hat.
Das dritte Szenarium ist das optimistischste. Der Autor nennt es das „Tatarstan-Modell”. Das an der Wolga gelegene Föderationssubjekt, dessen Bevölkerung mehrheitlich von muslimischen Tataren bewohnt ist, erfreut sich einer weitgehenden Autonomie und eines recht hohen Lebensstandards. Russland überträgt dieses Modell auf den gesamten Kaukasus. Zusammen mit der EU und in Zusammenarbeit mit den US-Ölkonzernen legt es eine Strategie wirtschaftlicher und politischer Entwicklung für den gesamten Raum fest, die sich eng an den Stabilitätspakt für den Wiederaufbau des Balkan anlehnt.
Noch Hoffnung auf den Sieg
Für Lerch liegt die Vermutung nahe, dass Russland gar keinen längerfristigen Plan für den Kaukasus hat. Für ihn ist jedoch offensichtlich, dass der Hass auf Russland nur noch geschürt würde, wenn die ersten beiden Szenarien Wirklichkeit würden. Politische und religiöse Radikalisierung bis hin zu terroristischen Anschlägen könnten nicht unter Kontrolle gebracht werden. Krisen und Konflikte würden immer wieder aufflackern. Auch für Russland wären diese beiden Wege von Nachteil, weil immer wieder Ressourcen abgezogen würden, die für die Modernisierung des Landes dringend gebraucht werden.
Letzten Endes gibt es zur dritten Entwicklungsvariante keine Alternative. Im Augenblick sieht es nach Ansicht des Autors aber nicht danach aus, dass Putin sie bald in Kraft setzen würde. In Moskau wird zwar in Abständen einer „politischen Lösung” in Tschetschenien das Wort geredet, gleichzeitig aber scheint man die Hoffnung auf einen vollständigen militärischen Sieg noch nicht aufgegeben zu haben. Weiterhin möchte man wohl erst einmal die Rebellen und das Volk demütigen und es dem Willen des Kreml gefügig machen. Und westliches Interesse und Engagement im Nordkaukasus und anderen Teilen der Region wird derzeit noch nicht als willkommener Beitrag zu einer langfristigen Stabilisierung betrachtet, sondern als Bemühen, Russland aus dieser Region zu verdrängen.
HANNES ADOMEIT
Der Rezensent ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Russische Truppen in Dagestan. Der 1999 erneut aufgeflammte Kaukasus-Konflikt berührt auch wirtschaftliche Interessen.
Foto: dpa/SZ
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.2000

Loslösungen

DER KAUKASUS, Objekt der dichterischen Sehnsucht für die russischen Romantiker Puschkin und Lermontow, doch gleichermaßen Ziel der politischen Aspirationen der großen Mächte, ist ein Schauplatz, der in den vergangenen zehn Jahren wieder auf die Bühne des Weltgeschehens zurückgekehrt ist. Historische, kulturelle und religiöse Hintergründe - eingebettet in die geographische und geostrategische Lage der Region - bietet nun Wolfgang Günter Lerch, Nahost-Redakteur dieser Zeitung. Seit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die drei transkaukasischen Republiken Armenien, Georgien und Aserbaidschan ihre Unabhängigkeit errangen, gibt es solche Bestrebungen verstärkt auch bei den vielen kleinen Völkern des Nordkaukasus, zwischen Maikop und Dagestan. Die meisten dieser Ethnien hängen dem Islam an und wurden in zaristischer Zeit auf oft gewaltsame Weise dem Russischen Reich einverleibt. Nach der Oktoberrevolution übernahm der kommunistische Staat diesen kolonialen Bestand fast unverändert. Vor allem die Tschetschenen betreiben unter Anknüpfung an den legendären Imam Schamil die Loslösung, und die islamische Welt fördert dies. Moskau hat dem bis heute nur Gewalt entgegenzusetzen. (Wolfgang Günter Lerch: Der Kaukasus. Nationalitäten, Religionen und Großmächte im Widerstreit. Europa Verlag, Hamburg und Wien 2000. 188 Seiten, 24,50 Mark.)

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