"Leben ist Chaos und die Sprache ein Mittel, dieses Chaos zu zähmen und zu ordnen. Dabei schafft jede Sprache eigene Ordnungen und Weltmodelle", schreibt der Übersetzer Bernhard Hartmann über die Lyrik Tomasz Rózyckis. In gewisser Weise seien seine Gedichte freie Verse, die tradierte Formen eher ironisch zitieren als wiederbeleben. "Zugleich sind die Form und das Spiel mit der Form aber ein wesentlicher Bestandteil von Rózyckis Lyrik." Das Ergebnis ist verblüffend: ein zupackender, ironischer und ungeheuer differenzierter Blick - auf die ganze Welt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.2019Ein Vulkan bricht aus und speit Feuer und Lava über das Land der Kindheit
Als das Bündnis des Unsinns Warschau besetzte: Eine Lyrikanthologie des polnischen Dichters Tomasz Rózycki
Ob die Stärke der polnischen Literatur immer noch in der Lyrik liegt, wie in Deutschland seit Jahren angenommen wird, nicht zuletzt unter Berufung auf den leidenschaftlichen Lyrik-Übersetzer Karl Dedecius? Darüber ließe sich angesichts des internationalen Renommees etlicher polnischer Prosaautoren streiten. Tatsache ist aber, dass man auch heute in jeder Schriftstellergeneration mühelos einige Dichter finden kann, deren Werk sich durch besondere Originalität und Ausdruckskraft auszeichnet.
Zu ihnen gehört auch der knapp fünfzigjährige Tomasz Rózycki. Spätestens seit dem Erfolg seines Poems "Zwölf Stationen" von 2004 (deutsch 2009), eines herrlich ironischen Porträts der polnischen Provinz, gilt er als eine der interessantesten dichterischen Stimmen des Landes. Zu Recht, wie der vor kurzem erschienene Auswahlband seiner Lyrik zeigt. Die Gedichte stammen aus sieben Sammlungen, die zwischen 1997 und 2016 erschienen sind, und zeigen nicht nur die enorme Vielfalt der Themen, die Rózycki einbezieht - nicht zufällig spricht er von sich als einem Dichter, "der ernährt sich leider / von allem, was er kriegt" -, sondern lassen auch die Art und Weise verfolgen, auf die er es tut. Er greift nämlich immer wieder auf sein Kernthema zurück und gruppiert um dieses herum Bilder und Motive, die einerseits assoziativ oft weit entlegen sind und andererseits in Form von häufig wiederkehrenden Bildern, Phrasen und Figuren daherkommen - was seiner Dichtung eine innere Spannung und zugleich eine spezifische Homogenität verleiht.
Dieses Kernthema ergibt sich aus Rózyckis Herkunft. Er wurde 1970 im schlesischen Opole (Oppeln) geboren, in einer Familie, die nach Kriegsende Lemberg verlassen musste. Da ihr, ähnlich wie allen Vertriebenen, die neue Umgebung über Jahre fremd blieb, neigte sie dazu, ihren ursprünglichen Lebensort zu einem verlorenen Paradies zu stilisieren - was den Autor offenbar in einem emotionalen Zwiespalt aufwachsen ließ. Die Umgebung war ihm zwar vertraut. Da zu ihren Bestandteilen aber einerseits die Spuren der fremden, deutschen Anwesenheit, andererseits die Tristesse des kommunistischen Alltags gehörten, machte sie ihn gleichzeitig für die nostalgische Stimmung und den Vertreibungsschmerz seiner Vorfahren sehr empfänglich. "Eigentlich sind alle meine Gedichtbände über diese Erfahrung", bilanzierte er einmal, was dazu führte, dass er in seiner Dichtung eine eigene Welt kreierte, die an der Schnittstelle zwischen Nähe und Fremdheit, Sehnsucht und Distanz, Bejahung und Skepsis angesiedelt war.
Ihre emotionale Polarität hat Rózyckis Lyrik bis heute beibehalten, wodurch sie so wirkt, als würde sie sich im permanenten Suchmodus befinden. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass seine Gedichte oft die Form eines Dialogs haben, wobei sein lyrischer Gesprächspartner fast immer unbenannt bleibt ("Schade, dass du nicht hier bist. Aber in Wirklichkeit / warst du's wohl nie."). Und auch die Aura, die seine Kindheit umgab, färbt bis heute auf alles ab, was sich nach seinem Empfinden in einem Gedicht festzuhalten lohnt, und macht seine Lyrik zu einem einzigartigen Kaleidoskop an überraschenden Assoziationen, Reflexionen und Bildern. So wie im Band "Kolonien" (2006), in dem die Erinnerung an ein Sommerferienlager mit einer Reise an exotische Orte kontrastiert, an denen es "Kannibalen", "Delphine" und einen "Korallenwald" gibt, und wo beide Welten schließlich zusammenschmelzen: "Nebenbei brach in der Früh / ein Vulkan aus, der lässt von nun an Feuer und Lava / auf das Land unserer Kindheit regnen."
Der chronologisch angeordnete Auswahlband setzt kurz vor der Jahrtausendwende ein, doch nicht wenige von den älteren Gedichten wirken angesichts der prekären politischen Situation in Polen erstaunlich aktuell. Etwa das Auftaktgedicht "Nun also Krieg", das aus dem Band "Vaterland" (1997) stammt, mit dem Rózycki auf die postkommunistische Transformation reagierte: "Wir haben wohl etwas verpasst, denn vieles hat sich verändert, / während wir schliefen, man verschob hinter unserem Rücken die Möbel, / wechselte Sprache und Währung, und wir erwachten in einem anderen/Land." Oder - das gilt naturgemäß vor allem für die Texte aus dem jüngsten Band "Buchstaben" (2016) - sie sind aktuell, weil sie unmittelbar infolge dieser Situation entstanden sind. So das Gedicht "Die Krise des polnischen Staates", in dem der Dichter eine Drossel vor seinem Fenster beobachtet und darüber nachdenkt, "welchen Weg sie zurücklegte", um "nach Norden zu kommen, wo eben das Bündnis des Unsinns Warschau besetzte".
Nicht weniger als ihr inhaltlicher Reichtum beeindruckt an Rózyckis Lyrik die Bandbreite ihrer Stilmittel. Ähnlich wie im Poem "Zwölf Stationen", einer bravourösen Paraphrase von Adam Mickiewicz' Nationalepos "Pan Tadeusz", zeigt er auch in seinen Gedichten eine große Vertrautheit mit der dichterischen Tradition. Ob ein klassisches französisches Sonett, eine Stanze oder ein dreizehnsilbiger Vers - er scheint jede Form zu beherrschen, ohne sich allerdings eisern an die klassischen Vorbilder zu halten. Vielmehr treibt er mit ihnen ein raffiniertes Spiel, indem er neue, eigene Formen erfindet. Manchmal verbeugt er sich dabei auch direkt vor einem Altmeister, mal indem er ihm, wie Czeslaw Milosz, ein Gedicht widmet, mal indem er an dessen dichterische Kreationen anknüpft.
Etwa mit der titelgebenden Figur, dem "Kerl, der sich die Welt gekauft hat", der an Herrn Cogito, den Doppelgänger Zbigniew Herberts, erinnert. Der rief sein Alter Ego vor knapp fünfzig Jahren ins Leben, um ihn seitdem fast immer an seiner Seite zu haben. Bei Rózycki hingegen handelt es sich nur um einen Band ("Buch der Umsätze"), der unter dem Eindruck seiner ersten Amerika-Reise entstanden ist: "All diese hohen Häuser, all die Läden, / die bunten Flaschen und Automobile. / Das raffinierte Straßennetz". Er habe die Stadt als eine irreale, "verzauberte" Welt empfunden und sie mit seiner Lyrik ein wenig "entzaubern" wollen. Und der "Kerl", der Fragen stellte wie "Was ist der Sinn all dieser Eselei?", habe ihn wieder in den Zustand versetzt, "in dem ich normalerweise in der Welt bin".
MARTA KIJOWSKA
Tomasz Rózycki: "Der Kerl, der sich die Welt gekauft hat". Gedichte.
Herausgegeben und aus dem Polnischen übersetzt von Bernhard Hartmann. edition.fotoTAPETA, Berlin 2018. 112 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als das Bündnis des Unsinns Warschau besetzte: Eine Lyrikanthologie des polnischen Dichters Tomasz Rózycki
Ob die Stärke der polnischen Literatur immer noch in der Lyrik liegt, wie in Deutschland seit Jahren angenommen wird, nicht zuletzt unter Berufung auf den leidenschaftlichen Lyrik-Übersetzer Karl Dedecius? Darüber ließe sich angesichts des internationalen Renommees etlicher polnischer Prosaautoren streiten. Tatsache ist aber, dass man auch heute in jeder Schriftstellergeneration mühelos einige Dichter finden kann, deren Werk sich durch besondere Originalität und Ausdruckskraft auszeichnet.
Zu ihnen gehört auch der knapp fünfzigjährige Tomasz Rózycki. Spätestens seit dem Erfolg seines Poems "Zwölf Stationen" von 2004 (deutsch 2009), eines herrlich ironischen Porträts der polnischen Provinz, gilt er als eine der interessantesten dichterischen Stimmen des Landes. Zu Recht, wie der vor kurzem erschienene Auswahlband seiner Lyrik zeigt. Die Gedichte stammen aus sieben Sammlungen, die zwischen 1997 und 2016 erschienen sind, und zeigen nicht nur die enorme Vielfalt der Themen, die Rózycki einbezieht - nicht zufällig spricht er von sich als einem Dichter, "der ernährt sich leider / von allem, was er kriegt" -, sondern lassen auch die Art und Weise verfolgen, auf die er es tut. Er greift nämlich immer wieder auf sein Kernthema zurück und gruppiert um dieses herum Bilder und Motive, die einerseits assoziativ oft weit entlegen sind und andererseits in Form von häufig wiederkehrenden Bildern, Phrasen und Figuren daherkommen - was seiner Dichtung eine innere Spannung und zugleich eine spezifische Homogenität verleiht.
Dieses Kernthema ergibt sich aus Rózyckis Herkunft. Er wurde 1970 im schlesischen Opole (Oppeln) geboren, in einer Familie, die nach Kriegsende Lemberg verlassen musste. Da ihr, ähnlich wie allen Vertriebenen, die neue Umgebung über Jahre fremd blieb, neigte sie dazu, ihren ursprünglichen Lebensort zu einem verlorenen Paradies zu stilisieren - was den Autor offenbar in einem emotionalen Zwiespalt aufwachsen ließ. Die Umgebung war ihm zwar vertraut. Da zu ihren Bestandteilen aber einerseits die Spuren der fremden, deutschen Anwesenheit, andererseits die Tristesse des kommunistischen Alltags gehörten, machte sie ihn gleichzeitig für die nostalgische Stimmung und den Vertreibungsschmerz seiner Vorfahren sehr empfänglich. "Eigentlich sind alle meine Gedichtbände über diese Erfahrung", bilanzierte er einmal, was dazu führte, dass er in seiner Dichtung eine eigene Welt kreierte, die an der Schnittstelle zwischen Nähe und Fremdheit, Sehnsucht und Distanz, Bejahung und Skepsis angesiedelt war.
Ihre emotionale Polarität hat Rózyckis Lyrik bis heute beibehalten, wodurch sie so wirkt, als würde sie sich im permanenten Suchmodus befinden. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass seine Gedichte oft die Form eines Dialogs haben, wobei sein lyrischer Gesprächspartner fast immer unbenannt bleibt ("Schade, dass du nicht hier bist. Aber in Wirklichkeit / warst du's wohl nie."). Und auch die Aura, die seine Kindheit umgab, färbt bis heute auf alles ab, was sich nach seinem Empfinden in einem Gedicht festzuhalten lohnt, und macht seine Lyrik zu einem einzigartigen Kaleidoskop an überraschenden Assoziationen, Reflexionen und Bildern. So wie im Band "Kolonien" (2006), in dem die Erinnerung an ein Sommerferienlager mit einer Reise an exotische Orte kontrastiert, an denen es "Kannibalen", "Delphine" und einen "Korallenwald" gibt, und wo beide Welten schließlich zusammenschmelzen: "Nebenbei brach in der Früh / ein Vulkan aus, der lässt von nun an Feuer und Lava / auf das Land unserer Kindheit regnen."
Der chronologisch angeordnete Auswahlband setzt kurz vor der Jahrtausendwende ein, doch nicht wenige von den älteren Gedichten wirken angesichts der prekären politischen Situation in Polen erstaunlich aktuell. Etwa das Auftaktgedicht "Nun also Krieg", das aus dem Band "Vaterland" (1997) stammt, mit dem Rózycki auf die postkommunistische Transformation reagierte: "Wir haben wohl etwas verpasst, denn vieles hat sich verändert, / während wir schliefen, man verschob hinter unserem Rücken die Möbel, / wechselte Sprache und Währung, und wir erwachten in einem anderen/Land." Oder - das gilt naturgemäß vor allem für die Texte aus dem jüngsten Band "Buchstaben" (2016) - sie sind aktuell, weil sie unmittelbar infolge dieser Situation entstanden sind. So das Gedicht "Die Krise des polnischen Staates", in dem der Dichter eine Drossel vor seinem Fenster beobachtet und darüber nachdenkt, "welchen Weg sie zurücklegte", um "nach Norden zu kommen, wo eben das Bündnis des Unsinns Warschau besetzte".
Nicht weniger als ihr inhaltlicher Reichtum beeindruckt an Rózyckis Lyrik die Bandbreite ihrer Stilmittel. Ähnlich wie im Poem "Zwölf Stationen", einer bravourösen Paraphrase von Adam Mickiewicz' Nationalepos "Pan Tadeusz", zeigt er auch in seinen Gedichten eine große Vertrautheit mit der dichterischen Tradition. Ob ein klassisches französisches Sonett, eine Stanze oder ein dreizehnsilbiger Vers - er scheint jede Form zu beherrschen, ohne sich allerdings eisern an die klassischen Vorbilder zu halten. Vielmehr treibt er mit ihnen ein raffiniertes Spiel, indem er neue, eigene Formen erfindet. Manchmal verbeugt er sich dabei auch direkt vor einem Altmeister, mal indem er ihm, wie Czeslaw Milosz, ein Gedicht widmet, mal indem er an dessen dichterische Kreationen anknüpft.
Etwa mit der titelgebenden Figur, dem "Kerl, der sich die Welt gekauft hat", der an Herrn Cogito, den Doppelgänger Zbigniew Herberts, erinnert. Der rief sein Alter Ego vor knapp fünfzig Jahren ins Leben, um ihn seitdem fast immer an seiner Seite zu haben. Bei Rózycki hingegen handelt es sich nur um einen Band ("Buch der Umsätze"), der unter dem Eindruck seiner ersten Amerika-Reise entstanden ist: "All diese hohen Häuser, all die Läden, / die bunten Flaschen und Automobile. / Das raffinierte Straßennetz". Er habe die Stadt als eine irreale, "verzauberte" Welt empfunden und sie mit seiner Lyrik ein wenig "entzaubern" wollen. Und der "Kerl", der Fragen stellte wie "Was ist der Sinn all dieser Eselei?", habe ihn wieder in den Zustand versetzt, "in dem ich normalerweise in der Welt bin".
MARTA KIJOWSKA
Tomasz Rózycki: "Der Kerl, der sich die Welt gekauft hat". Gedichte.
Herausgegeben und aus dem Polnischen übersetzt von Bernhard Hartmann. edition.fotoTAPETA, Berlin 2018. 112 S., br., 10,- [Euro].
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