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Deutsche Jugendliteraturpreis 2008, Kategorie Sachbuch
Das Opfer. Die Täter. Das Dorf. Unser Land.
Marinus Schöberl war 16 Jahre alt, als er von drei Kumpels gefoltert und durch einen "Bordsteinkick" zu Tode getreten wurde. Nachbarn hatten die Misshandlungen mit angesehen und über Monate geschwiegen. Dieser grausame Mord und seine furchtbaren Begleiterscheinungen rückten das uckermärkische Dorf Potzlow in die Schlagzeilen der internationalen Presse. In den Medien stand er sinnbildlich für rechtsradikale Gewalt und eine verrohte Gesellschaft in den fünf neuen Bundesländern.
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Produktbeschreibung
Deutsche Jugendliteraturpreis 2008, Kategorie Sachbuch

Das Opfer. Die Täter. Das Dorf. Unser Land.

Marinus Schöberl war 16 Jahre alt, als er von drei Kumpels gefoltert und durch einen "Bordsteinkick" zu Tode getreten wurde. Nachbarn hatten die Misshandlungen mit angesehen und über Monate geschwiegen. Dieser grausame Mord und seine furchtbaren Begleiterscheinungen rückten das uckermärkische Dorf Potzlow in die Schlagzeilen der internationalen Presse. In den Medien stand er sinnbildlich für rechtsradikale Gewalt und eine verrohte Gesellschaft in den fünf neuen Bundesländern.

Der Regisseur und Psychologe Andres Veiel wollte sich mit einfachen, raschen Antworten nicht begnügen. Viele Monate hat er in Potzlow und Umgebung recherchiert, hat Interviews mit den Tätern geführt, mit ihren Angehörigen und Bekannten gesprochen. Er zeichnet ein komplexes Bild von weit zurückreichenden Traumata und Gewalt, die bis heute unter einer dünnen Schicht von Bürgerlichkeit und Zivilisation in unserem Land virulent sind.

"Mein Bruder fing dann an zu schreien: - Scheiße, wir haben einen umgebracht. - Er sprach auch davon, dass wir ihn verbuddeln müssen. Am Ausgang in Richtung Jauchegrube rechts stand ein Schaufelblatt ohne Stiel." MARCEL SCHÖNFELD, WEGEN MORDES VERURTEILT

"Bedrückt war er, aber wir wussten nicht, woran das liegt. Wir sind zur Schule hin, haben gesagt, hier stimmt irgendwas nicht, und die haben immer gesagt, es ist alles in Ordnung. Wir haben ihn gefragt, was ist denn los? Er hat sich nicht geäußert, nie. Das war wie 'ne Wand." JUTTA SCHÖNFELD, MUTTER DES TÄTERS

"Einmal Mörder, immer Mörder. Ich habe Hass, Wut und Verachtung für diese Bestien. Die verdienen kein anderes Wort. Die haben genau gewusst, was sie taten in ihrer Kaltblütigkeit." BIRGIT SCHÖBERL , MUTTER DES OPFERS

- Eine beklemmende Fallstudie über eine entwurzelte Jugend, Rechtsradikalismus, deutsche Traumata und Gewalttraditionen

- Das Buch geht in seiner Recherche und Analyse weit hinaus über das erfolgreiche Theaterstück und den von der Presse gefeierten Film

- Inszenierungen an Theatern u.a. in Berlin, Bochum, Dresden, Hamburg, Köln, Leipzig, Moers, München und Oberhausen

"Dieses 'Lehrstück über Gewalt' könnte ein Klassiker werden: als Geschichtsbuch über die Gegenwart ebenso wie als Modellanalyse eines Gewaltverbrechens." Süddeutsche Zeitung

"Ein kluges, nüchternes, auf beklemmende Weise hellsichtiges Buch" Frankfurter Allgemeine Zeitung

"Was, wenn es außerhalb dieser großartigen Aufarbeitung des Deutschlandkomplexes keine richtigen Antworten gibt? Der Kick ist wie ein Kreislaufkollaps, schwindelerregend und heilsam. Es muss einem erst schwarz vor Augen werden, bevor man die Welt wieder scharf sehen kann." Frankfurter Rundschau über den Film von Andres Veil
Autorenporträt
Andres Veiel, geb. 1959 in Stuttgart, studierte Psychologie und machte parallel eine Regie- und Dramaturgieausbildung unter Leitung des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieslowski. Er ist derzeit der bedeutendste deutsche Dokumentarfilmer. Seine Filme 'Balagan', 'Die Überlebenden', 'Black Box BRD' und 'Die Spielwütigen' waren Publikums- und Presseerfolge und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2007

Die Sprache der Mörder
Lehrstück über Gewalt: Andres Veiels hervorragende Recherche

Chronik eines angekündigten Todes: Vor fünf Jahren wurde in dem ostdeutschen Dorf Potzlow der sechzehnjährige Marinus Schöberl brutal ermordet. Hätte es, wie die Einwohner sagen, wirklich jeden treffen können?

In einer Julinacht vor fast fünf Jahren wurde der sechzehnjährige Marinus Schöberl in einem uckermärkischen Dorf nach stundenlangem Martyrium brutal ermordet. Die Grausamkeit dieser Tat, verübt von zwei Brüdern und ihrem Freund, und die Umstände - es gab viele Zeugen, die bis heute schweigen - scheinen so ungeheuerlich, dass sich Versuche, dies zu erklären, fast verbieten. Aber erzählen kann man, ohne eine Lösung anbieten zu wollen, und zur Tat die anderen Puzzleteile fügen, die ein Gesamtbild ergeben, das man zwar auch nicht versteht, aber das zur singulären Untat einen Hintergrund fügt.

Der Dokumentarfilmer und Sachbuchautor Andres Veiel ("Black Box BRD") hat Potzlow zwei Jahre nach dem Mord aufgesucht, als die Medienwelle, die dieser Fall bundesweit auslöste, wieder verebbt war. Schlechte Bedingungen für einen, der es genauer wissen will, der nicht an griffigen Bildern und Stereotypen interessiert ist und weder "die Verhältnisse" ursächlich mit der Tat verbinden will noch die entlastenden Vermutungen, Marinus sei hier zufällig das Opfer betrunkener Nazi-Schläger geworden. Denn Potzlow war einmal zum schönsten Dorf Deutschlands gewählt worden. Aber Potzlow war auch ein Dorf, durch das nachts manche Zwölfjährige alkoholisiert liefen, wo Neid und Missgunst die stärksten Gefühle auszulösen vermochten und viele wohl immer noch glauben, man hätte ihnen, den Dorfbewohnern, nicht aber dem Jungen Marinus etwas angetan.

Es hätte jeden treffen können, versicherte der Bürgermeister immer wieder, Marinus sei einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Diese Behauptung widerlegt Veiel mit seiner Recherche. Täter wie Opfer sind Außenseiter, geprügelte Jugendliche, erfolglos dazu, sie haben Sprachschwierigkeiten, hilflose Eltern, ratlose Lehrer, sie trinken zuviel. In dieser Hinsicht sind sie sich zumindest ähnlich. Und Veiel kommt zu dem Schluss, dass die Tat ohne diese Nähe nicht geschehen wäre. Die Mörder haben sich ihr Opfer bewusst ausgesucht.

Ihre Sprache, jenseits der leichten Behinderung, ist so rudimentär wie die vieler anderer Landbewohner. Beim Lesen der Interviews, der Verhörprotokolle und der vielen Gespräche, die Andres Veiel mit den Eltern, den Nachbarn, Freunden, den alkoholkranken Gescheiterten führt, enthüllen sich Spracharmut und zivilisatorische Defizite in einem Ausmaß, das erschüttert. Andres Veiel gelingt es, das Vertrauen der Brüder, die die Tat begingen, und das ihrer Eltern zu gewinnen; langsam, behutsam bringt er sie zum Sprechen, und wir erfahren nicht nur, wie es zu diesem Gewaltrausch kam, sondern auch die Lebensgeschichten jenseits der Tat.

Die Brüder Marco und Marcel wachsen in, wenn man so will, geordneten Verhältnissen auf. Der Vater arbeitete zu DDR-Zeiten viel, verdiente überdurchschnittlich, vor allem mit Schwarzarbeit in einem Mangelland, das soziales Ansehen auch danach bemaß. Es sind Fähigkeiten, die nach der Wende überflüssig werden, obwohl der Vater noch lange Arbeit hat, aber nicht mehr diesen Status. Er macht nicht den Eindruck, als habe er diesen Prestigeverlust verkraftet. Die Eltern geben sich Mühe, aber ihre Vorstellungen von Erziehung sind wohl zu rudimentär, als dass sie dem Scheitern, vor allem des älteren Sohnes, entgegenwirken könnten. Schuld daran sind die anderen, die neuen Verhältnisse, die Lehrer, die Ausländer, um die sich viel zu viel gekümmert werde. Rechtsradikale sind sie darum nicht, aber Veiel beschreibt einen Alltag, der diesen dumpfen Ideen auch so gut wie nichts entgegenzusetzen vermag.

Marinus, das Opfer, ist das jüngste, von älteren Schwestern verwöhnte, geliebte Kind in einer großen Familie, die man im Dorf abfällig "Kelly Family" nennt. Er ist ein Hip-Hopper, was die anderen, die Springerstiefel und Glatze bevorzugen und die dazugehörige rabiate Musik, provoziert. Trotzdem soll sein Mörder Marcel viel Zeit mit ihm verbracht haben, solange der ältere Bruder Marco, den er bewundert und fürchtet und den man als Intensivtäter beschreiben muss, im Gefängnis war. Marinus klaut zwar mal ein Moped, aber er wird als sanft, arg- und vor allem wehrlos beschrieben. Auch das, so Veiel, habe die Täter provoziert. Er hatte kein Handlungsmuster, dass seine Quäler akzeptiert hätten. Ein Freund von Marinus glaubt zudem, dass das brutale Trio ihn, dessen Vater im Dorf viel Ansehen genießt, niemals derart misshandelt hätte. "Die hätten genau gewusst: Wenn sie mich anfassen, dann ist die Straße voll, das überleben sie nicht."

Bei Marinus, den sie im Morgengrauen, schon halbtot geschlagen, mit dem Fahrrad durch den Ort fahren, hin zum Schweinestall, wo er erschlagen und später verbuddelt wird, steht niemand auf. Die Familie des Opfers sind verachtete "Zugezogene". Die Zeugen greifen bei den Quälereien nicht ein, und sie behalten sogar die Sachen des Opfers, das sich von seiner Mutter am Tag zuvor zu einem kleinen Ausflug verabschiedet hatte. Sie behalten sie auch, als die Polizei nach Marinus zu suchen beginnt. Und sie schweigen. Bei einigen mag Scham dazu geführt haben, bei anderen eine Rohheit und Leere, durch die nichts mehr dringt, vor allem kein Mitgefühl.

Veiel hat seinen Film, ein Theaterstück und nun auch dieses Buch, das alles andere ist als ein Begleitbuch, "Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt" genannt; ein Lehrstück, weil es keine Monster vorführt und schnurgerade Wege ins Verderben, sondern Konflikte, die sich langsam aufbauten bis zur Eskalation, ohne dass jemand oder etwas, das stark genug gewesen wäre, rechtzeitig eingegriffen hätte. Der "Bordsteinkick" ist der Todesstoß, den einer der Brüder dem Opfer versetzt, als sich ihre Lust auf Gewalt und das Gefühl, uneingeschränkte Macht über einen am Boden liegenden Menschen zu haben, verselbständigt hat und einer der Brüder meint, jetzt könne man Marinus keinem Arzt mehr vorführen. Sie befehlen Marinus, in den steinernen Trog zu beißen, dann springt Marcel mit voller Wucht auf seinen Hinterkopf. Der "Kick" hat sein Vorbild, sie spielen hier das Finale von "American History X" nach, ein Anti-Gewalt-Film, ginge es nach dem Filmemacher Für Veiel ein Musterbeispiel für die immer wieder verkannte Wirkung von Gewaltszenen: Nicht die löbliche Botschaft wird übernommen, sondern die ästhetische Überhöhung eines Gewalttäters.

Was dieses Buch aus allen anderen Veröffentlichungen zu diesem Mord heraushebt, ist die das ganze Dorf und seine Bewohner umfassende Geschichte, die Andres Veiel recherchiert. Schicht um Schicht hebt er auf, kehrt bis ins Kriegsjahr 1944 zurück, als im Dorf polnische Zwangsarbeiter drangsaliert wurden. Er entsiegelt das verborgene Gedächtnis dieses Ortes, in dem der brutale Gutsvorsteher, der die Polen misshandelte und vor dem viele Angst hatten, nach dem Krieg in die SED geht und in deren Namen die Vergangenheit wegbügelt. Sein nicht minder brutaler Aufseher wird gar LPG-Vorsitzender. Die Leiden und die Verbrechen, über alles breitet sich der Mythos vom antifaschistischen Staat, der sich nicht nur den konsequenten Elitenwechsel ersparte, sondern jeden umarmte, die Täter wie die Opfer, und alles, was da an antidemokratischem Potential übrigblieb, ignorierte.

Das Gefühl der "Überfremdung", die abwertenden Begriffe für die Polen, die ihnen zu DDR-Zeiten alles weggekauft hätten, die unreflektierten Lehrstunden zum Faschismus, dessen Täter immer anderswo waren, und die verinnerlichten Klischees von der solidarischen DDR-Gemeinschaft, die angeblich jedem half - all das gehört zum Sittenbild Potzlow.

Andres Veiel ist kein Ankläger, eher ein Chronist, der zur Verfügung stellt, was der Leser braucht, um sich ein Urteil bilden zu können. "Der Kick" ist ein hervorragendes Sachbuch zu einem schwierigen Thema, das nicht nur besticht, weil es ein entsetzliches Ereignis so genau und differenziert untersucht. Es kommt fast ohne Kommentare aus, doch entdeckt es dem Leser jene Leerstellen der Zivilität, die eine Katastrophe wie diese geschehen ließen.

REGINA MÖNCH

Andres Veiel: "Der Kick". Ein Lehrstück über Gewalt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007. 270 S., br., 14,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Als "eindrucksvolles Protokoll einer sozialen Aufmerksamkeit" würdigt Harry Nutt dieses Buch des Filmemachers Andres Veiel über den grausamen Mord von Potzlow. Er lobt die genauen Recherchen des Autors, die intensive Gespräche mit den Tätern und ihren Angehörigen, aber auch mit den Hinterbliebenen des Opfers, einschließen. Die Rekonstruktion des Tathergangs enthüllt für Nutt ein "Horrorszenario" aus sozialer Deformation, Hilflosigkeit und Alkoholismus. Dabei hebt er hervor, dass Veiels Darstellung frei von "eindimensionalen" Schlüssen ist. Mit psychologischen Spekulationen halte sich der Autor weitgehend zurück, um stattdessen Schicht für Schicht in einer dichten Beschreibung die "Scherben eines sozialen Desasters" zusammenzutragen. Nutt unterstreicht zudem Veiels Ausleuchtung des gesellschaftlichen Hintergrunds, vor dem sich die Tat abspielte: die verdrängte, unbewältigte ins Kriegsjahr 1944 zurückgehende Gewaltgeschichte des Ortes.

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