Wie wir töten, wenn wir handeln ...
Unser Handeln als Konsumenten, Produzenten und Investoren zerstört die natürliche und soziale Umwelt. Ohne es zu merken, töten wir Menschen. Der Ökonom Jakob Thomä legt den Finger in die Wunde: Wie ein Detektiv sammelt er Indizien, besichtigt Tatorte und ermittelt Verdächtige. Seine harte Beweisaufnahme führt ihn zu neuen Antworten auf die Frage, wie die Menschheit zukunftsfähig wird.
'Der Kill-Score' erzählt mit einem radikalen Realismus die Geschichte von den tödlichen Folgen unseres Handelns. Jakob Thomä beschreibt und berechnet, wie unser CO2-Fußabdruck, Abfall, unmenschliche Arbeitsbedingungen und anonymer Massenkonsum töten - in diesen Jahrhundert voraussichtlich mehr als 400.000.000 Menschen. Und er erzählt eindringlich von den Opfern. Dabei stützt er sich auf die neuesten wissenschaftlichen Methoden und stellt die ethische Frage nach der Verantwortung für die Bedrohung des Lebens in unserer Zeit. In seinem aufrüttelnden und klarsichtigen Buch lehrt er uns, Nachhaltigkeit neu zu denken.
Unser Handeln als Konsumenten, Produzenten und Investoren zerstört die natürliche und soziale Umwelt. Ohne es zu merken, töten wir Menschen. Der Ökonom Jakob Thomä legt den Finger in die Wunde: Wie ein Detektiv sammelt er Indizien, besichtigt Tatorte und ermittelt Verdächtige. Seine harte Beweisaufnahme führt ihn zu neuen Antworten auf die Frage, wie die Menschheit zukunftsfähig wird.
'Der Kill-Score' erzählt mit einem radikalen Realismus die Geschichte von den tödlichen Folgen unseres Handelns. Jakob Thomä beschreibt und berechnet, wie unser CO2-Fußabdruck, Abfall, unmenschliche Arbeitsbedingungen und anonymer Massenkonsum töten - in diesen Jahrhundert voraussichtlich mehr als 400.000.000 Menschen. Und er erzählt eindringlich von den Opfern. Dabei stützt er sich auf die neuesten wissenschaftlichen Methoden und stellt die ethische Frage nach der Verantwortung für die Bedrohung des Lebens in unserer Zeit. In seinem aufrüttelnden und klarsichtigen Buch lehrt er uns, Nachhaltigkeit neu zu denken.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2022Unser Leben
ist euer Tod
Jakob Thomä hat die Frevel
des Westens neu berechnet
Beim Lesen dieses Buches hat man das Gefühl, in der Horrorvariante eines Nutzen-Kalküls gelandet zu sein: „20 EU-Bürger töten im Lauf ihres Lebens eine andere Person durch Luftverschmutzung“; „Rechnerisch“ tötet jeder Konsument aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen „während seines Lebens 0,1 Personen“; „der moderne Mensch im Westen ist auf dem besten Weg, durch den Klimawandel mehr Menschen umzubringen als die Deutschen durch den Holocaust oder den Zweiten Weltkrieg“. Der Nachhaltigkeitsökonom Jakob Thomä hat keine Scheu, solche Sätze aufzuschreiben. Schon deswegen hätte man allen Grund, sein Buch wegzulegen. Doch die Absurdität seiner Rechnungen macht klar, was in Sonntagsreden sonst eine Phrase bleibt: Die Gattung Mensch ist irreversibel zu einer einzigen Zivilisation zusammengewachsen.
„Unser Leben gleicht manchmal einer Pistolenkugel, die mit unserer Geburt aus dem Lauf gejagt wurde.“ Für den 33-jährigen Thomä, von dem schon diverse Nachhaltigkeitsinitiativen in der Finanzwelt ausgegangen sind, ist das keine wilde Metapher. Bloß indem wir leben, wie wir leben, so die Grundaussage seines Buches, tragen wir in diesem Jahrhundert zum frühzeitigen Tod von mindestens einer halben Milliarde Menschen bei. Auf dieses Ergebnis ist er gekommen, als er nach einem Nachhaltigkeitsindikator suchte, „der nicht 300 000 Datenfelder brauchte oder seitenlange Erläuterungen zu Methoden und Indikatoren oder Bilder von niedlichen Pandas und Bäumen“. Er suchte eine Zahl, die kühl eine brutale Sache ausdrückt. Mit dem „Kill-Score“ hat er sie gefunden. Dieser stützt sich auf die neuesten Studien und Daten, um ungefähr zu ermessen, wie bestimmte Aspekte der westlichen Lebensweise zu Verkürzungen der allgemeinen Lebenszeit beitragen.
Zu fünf „Tatorten“ wird der Leser zu diesem Zweck geführt: „Klimawandel, Abfall und Abgase, Arbeit, anonymer Konsum sowie Krieg und Konflikt“. Thomä versteht es, trotz aller abstrakten Kalkulation anschauliche Beispiele des jeweiligen Tathergangs zu geben: Ein kleiner Junge in der japanischen Stadt Toyota, der im Juli 2018 im Klassenzimmer kollabiert und schließlich stirbt, hat sein Schicksal wie 1000 andere Tote einer Hitzewelle zu verdanken, deren Auftreten durch den Klimawandel viel wahrscheinlicher geworden ist. Die Menge an CO2, die ein Deutscher durchschnittlich freisetzt, entspricht etwa einem Menschen, der durch klimabedingte Hitze oder Flut ums Leben kommt.
Aber nicht nur unsere Treibhausgase, unser Plastikverbrauch, unser Elektroschrott, unsere Verursachung von Überstunden und unsere Kriege – „zum blutigen Konflikt in Mexiko kann es nur kommen, weil wir Avocados verzehren“ – sind in den Augen Thomäs Tatwaffen im wahrsten Sinne des Wortes. Auch wer im Internet bestellt, statt beim Einzelhändler um die Ecke vorbeizugehen, beteiligt sich am heimlichen Krieg aller gegen alle. Immerhin werde während der nächsten Jahrzehnte „ungefähr jeder 20. Todesfall auf Vereinsamung zurückzuführen sein“.
Obschon der Autor weiß und betont, wie schwierig es ist, auf dieser Abstraktionsebene von Verantwortung oder gar Schuld zu sprechen, hat er sich dafür entschieden, sein Buch in Analogie eines Kriminalverfahrens zu ordnen. Es gibt nicht nur die genannten Tatorte, sondern auch eine „Gerichtsverhandlung“, in der nacheinander „Anklage“ und „Verteidigung“ auftreten – und schließlich ein „Urteil“. Trotz der Zahlen, die zum Teil erschaudern lassen, hat all das allerdings auch eine unfreiwillige Komik. Denn eine Variable, die als Nebenfolge unseres Handelns im Aggregat irgendwo und irgendwie statistisch zu einer höheren Sterbewahrscheinlichkeit führt, hat so gut wie nichts mit Mord zu tun. Im besten Fall handelt es sich um eine schiefe Analogie, die uns an die Externalitäten unseres jetzigen Handelns erinnert, im Schlimmsten um die Auswüchse eines Denkens, für das auch Menschenleben nur noch Rechengrößen unter anderen sind. Zum großen Ärgernis lässt das Buch beide Deutungen zu.
So absurd die Verrechnung ist, legt „Kill-Score“ doch offen, was es heißt, in einer globalisierten Welt zu leben. Wir tauschen nicht nur Güter im Billionenwert, wir bezahlen dafür auch den Preis gegenseitiger Problembelastung. Anders gesagt: Wer hierzulande entscheidet, seinen alten Fernseher ordnungsgemäß zu entsorgen, kann in keinem relevanten Sinne etwas „dafür“, dass ein 19-jähriger Junge in Ghana an einer aus der Verbrennung von Elektroschrott resultierenden Krebserkrankung stirbt. Und dennoch haben individuelle Alltagsentscheidungen durch die Verzahnung der Weltzivilisation solche Fernwirkungen.
OLIVER WEBER
„Zum blutigen Konflikt in
Mexiko kann es nur kommen,
weil wir Avocados verzehren“
Jakob Thomä:
Der Kill-Score – Auf den Spuren unseres
ökologischen und sozialen Fußabdrucks.
Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart 2022.
304 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ist euer Tod
Jakob Thomä hat die Frevel
des Westens neu berechnet
Beim Lesen dieses Buches hat man das Gefühl, in der Horrorvariante eines Nutzen-Kalküls gelandet zu sein: „20 EU-Bürger töten im Lauf ihres Lebens eine andere Person durch Luftverschmutzung“; „Rechnerisch“ tötet jeder Konsument aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen „während seines Lebens 0,1 Personen“; „der moderne Mensch im Westen ist auf dem besten Weg, durch den Klimawandel mehr Menschen umzubringen als die Deutschen durch den Holocaust oder den Zweiten Weltkrieg“. Der Nachhaltigkeitsökonom Jakob Thomä hat keine Scheu, solche Sätze aufzuschreiben. Schon deswegen hätte man allen Grund, sein Buch wegzulegen. Doch die Absurdität seiner Rechnungen macht klar, was in Sonntagsreden sonst eine Phrase bleibt: Die Gattung Mensch ist irreversibel zu einer einzigen Zivilisation zusammengewachsen.
„Unser Leben gleicht manchmal einer Pistolenkugel, die mit unserer Geburt aus dem Lauf gejagt wurde.“ Für den 33-jährigen Thomä, von dem schon diverse Nachhaltigkeitsinitiativen in der Finanzwelt ausgegangen sind, ist das keine wilde Metapher. Bloß indem wir leben, wie wir leben, so die Grundaussage seines Buches, tragen wir in diesem Jahrhundert zum frühzeitigen Tod von mindestens einer halben Milliarde Menschen bei. Auf dieses Ergebnis ist er gekommen, als er nach einem Nachhaltigkeitsindikator suchte, „der nicht 300 000 Datenfelder brauchte oder seitenlange Erläuterungen zu Methoden und Indikatoren oder Bilder von niedlichen Pandas und Bäumen“. Er suchte eine Zahl, die kühl eine brutale Sache ausdrückt. Mit dem „Kill-Score“ hat er sie gefunden. Dieser stützt sich auf die neuesten Studien und Daten, um ungefähr zu ermessen, wie bestimmte Aspekte der westlichen Lebensweise zu Verkürzungen der allgemeinen Lebenszeit beitragen.
Zu fünf „Tatorten“ wird der Leser zu diesem Zweck geführt: „Klimawandel, Abfall und Abgase, Arbeit, anonymer Konsum sowie Krieg und Konflikt“. Thomä versteht es, trotz aller abstrakten Kalkulation anschauliche Beispiele des jeweiligen Tathergangs zu geben: Ein kleiner Junge in der japanischen Stadt Toyota, der im Juli 2018 im Klassenzimmer kollabiert und schließlich stirbt, hat sein Schicksal wie 1000 andere Tote einer Hitzewelle zu verdanken, deren Auftreten durch den Klimawandel viel wahrscheinlicher geworden ist. Die Menge an CO2, die ein Deutscher durchschnittlich freisetzt, entspricht etwa einem Menschen, der durch klimabedingte Hitze oder Flut ums Leben kommt.
Aber nicht nur unsere Treibhausgase, unser Plastikverbrauch, unser Elektroschrott, unsere Verursachung von Überstunden und unsere Kriege – „zum blutigen Konflikt in Mexiko kann es nur kommen, weil wir Avocados verzehren“ – sind in den Augen Thomäs Tatwaffen im wahrsten Sinne des Wortes. Auch wer im Internet bestellt, statt beim Einzelhändler um die Ecke vorbeizugehen, beteiligt sich am heimlichen Krieg aller gegen alle. Immerhin werde während der nächsten Jahrzehnte „ungefähr jeder 20. Todesfall auf Vereinsamung zurückzuführen sein“.
Obschon der Autor weiß und betont, wie schwierig es ist, auf dieser Abstraktionsebene von Verantwortung oder gar Schuld zu sprechen, hat er sich dafür entschieden, sein Buch in Analogie eines Kriminalverfahrens zu ordnen. Es gibt nicht nur die genannten Tatorte, sondern auch eine „Gerichtsverhandlung“, in der nacheinander „Anklage“ und „Verteidigung“ auftreten – und schließlich ein „Urteil“. Trotz der Zahlen, die zum Teil erschaudern lassen, hat all das allerdings auch eine unfreiwillige Komik. Denn eine Variable, die als Nebenfolge unseres Handelns im Aggregat irgendwo und irgendwie statistisch zu einer höheren Sterbewahrscheinlichkeit führt, hat so gut wie nichts mit Mord zu tun. Im besten Fall handelt es sich um eine schiefe Analogie, die uns an die Externalitäten unseres jetzigen Handelns erinnert, im Schlimmsten um die Auswüchse eines Denkens, für das auch Menschenleben nur noch Rechengrößen unter anderen sind. Zum großen Ärgernis lässt das Buch beide Deutungen zu.
So absurd die Verrechnung ist, legt „Kill-Score“ doch offen, was es heißt, in einer globalisierten Welt zu leben. Wir tauschen nicht nur Güter im Billionenwert, wir bezahlen dafür auch den Preis gegenseitiger Problembelastung. Anders gesagt: Wer hierzulande entscheidet, seinen alten Fernseher ordnungsgemäß zu entsorgen, kann in keinem relevanten Sinne etwas „dafür“, dass ein 19-jähriger Junge in Ghana an einer aus der Verbrennung von Elektroschrott resultierenden Krebserkrankung stirbt. Und dennoch haben individuelle Alltagsentscheidungen durch die Verzahnung der Weltzivilisation solche Fernwirkungen.
OLIVER WEBER
„Zum blutigen Konflikt in
Mexiko kann es nur kommen,
weil wir Avocados verzehren“
Jakob Thomä:
Der Kill-Score – Auf den Spuren unseres
ökologischen und sozialen Fußabdrucks.
Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart 2022.
304 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Johannes Kaiser lässt sich vom Nachhaltigkeitsforscher Jakob Thomä dazu anregen, seinen persönlichen Kill Score zu minimieren. Wie das geht und was dahinter steckt, erklärt der Autor laut Kaiser wie in der Spurensuche zu einem Mordfall mit anschließender Verhandlung und Verurteilung. Dass unser Verhalten Menschen indirekt tötet, weist Thomä zunächst anhand konkreter Beispiele aus den Bereichen Abfall, Konsum oder Krieg nach, meint Kaiser. Auch wenn Kaiser auf die eine oder andere "flapsige" Formulierung oder Statistik im Band hätte verzichten können, scheint ihn die Lektüre in Sachen Nachhaltigkeit nachdenklich zu machen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2022Was würde Han Solo sagen?
Nachhaltigkeit braucht entschiedene Lektionen: Jakob Thomä übersetzt den Klimawandel, unseren Abfall, unsoziale Arbeitsbedingungen und Onlinekonsum in Zahlen von getöteten Menschen.
Von Kai Spanke
Nehmen wir an, Sie erfahren, dass Sie durch Ihre Ernährung jedes Jahr eintausendfünfhundert Kilogramm CO2 ausstoßen. Könnten Sie sagen, ob das dem Durchschnitt entspricht? Sind zwanzig Tonnen vielleicht realistischer? Oder wäre es naheliegend, tiefer zu stapeln? Welchen Wert auch immer man heranzieht, es fällt schwer, sich darunter Konkretes auszumalen. Deutschland hat im vergangenen Jahr 762 Millionen Tonnen an Treibhausgasen emittiert. Ist das viel oder wenig? Und wer kann das auf Anhieb einordnen? Der Nachhaltigkeitsökonom Jakob Thomä jongliert in seinem neuen Buch fortwährend mit Zahlen, um zu illustrieren, dass Konsumenten, Produzenten und Investoren mit ihrem Lebensstil Menschen töten. Ohne böse Absicht, oft genug, ohne es zu wissen. Diesem "Kill Score" spürt er mit bemerkenswerter Sorgfalt nach.
Seine Abhandlung zieht er als gut zu lesende "Detektivgeschichte" auf. Das ist ein zwar naheliegender, passagenweise auch schräg anmutender, aber insgesamt die Aufmerksamkeit bündelnder Kniff, der den Leser bei Laune hält: Es gibt Tote, es gibt Tatorte, es gibt eine Verhandlung und das Urteil. Die Tatorte sind der Klimawandel, Abfall, Arbeit, anonymer Konsum (etwa soziale Medien) und Kriege. Thomä, Jahrgang 1989, sagt, die Erforschung der Erderwärmung und die Nachhaltigkeit hätten ein PR-Problem, da ihre Befunde nur von wenigen verstanden würden. Er selbst sei als "Erbsenzähler" Teil der Misere, da er Flora, Fauna oder Emissionen in Zahlen auflöst, die die Vorstellungskraft schnell übersteigen.
Insofern müssten Erbsenzähler "ihre Abneigung gegen das Ungefähre und Vage der Emotionen" überwinden. Der Autor leistet beides: Er zitiert zum einen Studien und liefert Daten, deren Brauchbarkeit gewiss von den jeweiligen, mitunter strittigen Erhebungsmethoden abhängt. Zum anderen betont er, dass es nur eine einzige schwer in Mitleidenschaft gezogene Zivilisation gibt - und nicht ein paar Milliarden versprengte Menschen, die unabhängig voneinander vor sich hin existieren.
Das Aufrüttelungs- und Erregungsprogramm klingt so: "Insgesamt starben im 20. Jahrhundert knapp 400 Millionen Menschen durch unseren Lebensstil im weiteren Sinne"; "Noch eine andere todbringende Macht erhebt ihr hässliches Haupt: der Klimawandel"; "Rechnerisch tötet der Konsument (...) während seines Lebens 0,1 Personen"; "Keine Waffe zählt so viele Opfer in diesem Buch, zumindest noch in diesem Jahrhundert, wie der Feinstaub"; "20 EU-Bürger töten im Lauf ihres Lebens eine andere Person durch Luftverschmutzung"; "Unser globaler Kill Score kommt im 21. Jahrhundert grob geschätzt auf insgesamt mehr als 500 Millionen Menschen". Nun ist das Genre des Aufrechnungsbuchs durchaus geläufig, doch Thomä treibt das Verfahren auf die Spitze. Ob er das diagnostizierte PR-Problem der Nachhaltigkeit damit lösen kann, muss bezweifelt werden, denn bei seinen im Vorfeld ohnehin überzeugten Lesern wird er offene Türen einrennen, der skeptische Rest dürfte "Alarmismus!" rufen und abwinken.
Das liegt auch daran, dass der Autor die aufwendig recherchierte und mit lebendig geschilderten Beispielen versehene Darstellung stilistisch häufig auf die schiefe Bahn schickt. Sein Anliegen ist ein ernstes, es geht auf fast jeder Seite um Leben und Tod, es geht um die Frage, wie viel ein Menschenleben wert ist, es geht darum, was die Moralphilosophie dem Utilitarismus ins Stammbuch schreiben könnte. Warum dann solche flapsigen Einlassungen: "Aber es gibt nicht massenweise Bankleute, die nach drei Tagen am Schreibtisch den Löffel abgeben." Thomä zufolge verehren wir eine höhere Macht "am Altar des Konsums", und angesichts der Gefahr, die uns durch Mikroplastik droht, "kann man nur Han Solo aus 'Star Wars' zitieren: 'I have a bad feeling about this.'" An anderer Stelle heißt es: "Freud muss Leid, Leid muss Freude haben, das wissen wir spätestens seit Faust." Wenn uns Thomä dann noch verrät, dass eines seiner Lieblingsrestaurants in Istanbul "360 Grad" heißt, wirkt er wie jene in Avocado-Smoothies verliebte Prenzlauer-Berg-Gemeinschaft, die er selbst nicht ungeschoren davonkommen lässt.
Wiederholt dockt er an der Hochkultur an, und immer wieder bemüht er wackelige Vergleiche: "Leo Tolstoi eröffnet seinen Roman 'Anna Karenina' mit dem berühmten Satz: 'Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.' Analog gilt: der natürliche Tod ist für alle gleich. Der vorzeitige Tod nicht." Bezieht man sich dabei nur auf den Zustand des Totseins, dann ist jeder Tod wie der andere. Will man jedoch auf den Weg dorthin oder die Ursache hinaus, ist auch der natürliche Tod nicht für alle gleich. Wer in hohem Alter ohne Schmerzen einschläft und verstirbt, erlebt etwas ganz anderes als der junge Krebspatient, der nach langem Siechtum auf sein Ableben wartet.
Fünfzig Seiten vor Schluss hebt Thomä hervor, die vorangegangene Erörterung sei "ja nur die Buchhaltung unseres Handelns, keine moralische Einordnung derselben". Einspruch. Diktion und Inhalt verraten die Haltung mehr als deutlich: "Der menschengemachte Ökozid ist ein Horror unvorstellbaren Ausmaßes." Derartige Aufschreie sollten nicht verschleiern, dass das Buch oft genug interessant und reflektiert ist, etwa wenn der Autor Gedankenexperimente vorstellt. Man nehme folgende Überlegungen des Umweltjuristen Daniel Farber, die Thomä leicht abgewandelt wiedergibt: Wir haben zwei Szenarien für ein Atommüllendlager. Nach Möglichkeit eins wird ein Depot errichtet, das in fünfhundert Jahren höchstwahrscheinlich lecken wird, woraufhin fünfhundert Millionen Menschen sterben. Nach Option zwei steht dies nicht zu befürchten, allerdings kommt es beim Bau zu zwei Todesfällen. Welche Variante ist vorzuziehen?
Intuitiv scheint zunächst klar zu sein, dass zwei Tote verglichen mit fünfhundert Millionen Opfern zu vertreten sind. Was aber, wenn wir in unserer Rechnung einen Abschlag vornehmen, der die Güte künftigen Lebens mindert? Bei einem Diskontsatz von fünf Prozent "entspricht der Wert von 500 Millionen Menschen in 500 Jahren dem Wert von exakt 0,01 Leben heute". Eine solche Rechnung wirft Fragen auf, zum Beispiel nach dem "richtigen" Diskontsatz. Gibt es den überhaupt? Falls ja, wie sieht er in der Wirtschaftswissenschaft, wie in der Ethik aus? Sind fünf Prozent womöglich genauso aus der Luft gegriffen, wie es zwei oder zehn Prozent wären?
Kosten-Nutzen-Analysen müssen keine Quatschkopfphilosophie sein, sie haben, im Gegenteil, einen Realitätsbezug, der beispielsweise bei den Triage-Maßnahmen während der Pandemie greifbar wurde. Zweifelhaft ist indes, ob es in einem praktischen Sinne etwas bringt, wenn man feststellt: Meine Flugreise nach Amerika und mein unsachgemäß entsorgtes Handy töten unterm Strich exakt soundso viele Menschen.
Dass allerdings Konsequenzen in der Ferne zu befürchten sind, weil wir im Westen gern Avocados essen oder auf unser Auto nicht verzichten wollen, steht außer Frage. Stellt Thomä also fest, wir würden Schuld auf uns laden, sobald wir selbstsüchtig konsumieren, wird man ihm nicht widersprechen können. Und damit die Eingangsfrage nicht offen bleibt: Der Ausstoß von Treibhausgasen, die nur durch die Ernährung verursacht werden, beläuft sich hierzulande auf ungefähr 1,75 Tonnen pro Kopf und Jahr.
Jakob Thomä: "Der Kill-Score". Auf den Spuren unseres ökologischen und sozialen Fußabdrucks.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022. 304 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nachhaltigkeit braucht entschiedene Lektionen: Jakob Thomä übersetzt den Klimawandel, unseren Abfall, unsoziale Arbeitsbedingungen und Onlinekonsum in Zahlen von getöteten Menschen.
Von Kai Spanke
Nehmen wir an, Sie erfahren, dass Sie durch Ihre Ernährung jedes Jahr eintausendfünfhundert Kilogramm CO2 ausstoßen. Könnten Sie sagen, ob das dem Durchschnitt entspricht? Sind zwanzig Tonnen vielleicht realistischer? Oder wäre es naheliegend, tiefer zu stapeln? Welchen Wert auch immer man heranzieht, es fällt schwer, sich darunter Konkretes auszumalen. Deutschland hat im vergangenen Jahr 762 Millionen Tonnen an Treibhausgasen emittiert. Ist das viel oder wenig? Und wer kann das auf Anhieb einordnen? Der Nachhaltigkeitsökonom Jakob Thomä jongliert in seinem neuen Buch fortwährend mit Zahlen, um zu illustrieren, dass Konsumenten, Produzenten und Investoren mit ihrem Lebensstil Menschen töten. Ohne böse Absicht, oft genug, ohne es zu wissen. Diesem "Kill Score" spürt er mit bemerkenswerter Sorgfalt nach.
Seine Abhandlung zieht er als gut zu lesende "Detektivgeschichte" auf. Das ist ein zwar naheliegender, passagenweise auch schräg anmutender, aber insgesamt die Aufmerksamkeit bündelnder Kniff, der den Leser bei Laune hält: Es gibt Tote, es gibt Tatorte, es gibt eine Verhandlung und das Urteil. Die Tatorte sind der Klimawandel, Abfall, Arbeit, anonymer Konsum (etwa soziale Medien) und Kriege. Thomä, Jahrgang 1989, sagt, die Erforschung der Erderwärmung und die Nachhaltigkeit hätten ein PR-Problem, da ihre Befunde nur von wenigen verstanden würden. Er selbst sei als "Erbsenzähler" Teil der Misere, da er Flora, Fauna oder Emissionen in Zahlen auflöst, die die Vorstellungskraft schnell übersteigen.
Insofern müssten Erbsenzähler "ihre Abneigung gegen das Ungefähre und Vage der Emotionen" überwinden. Der Autor leistet beides: Er zitiert zum einen Studien und liefert Daten, deren Brauchbarkeit gewiss von den jeweiligen, mitunter strittigen Erhebungsmethoden abhängt. Zum anderen betont er, dass es nur eine einzige schwer in Mitleidenschaft gezogene Zivilisation gibt - und nicht ein paar Milliarden versprengte Menschen, die unabhängig voneinander vor sich hin existieren.
Das Aufrüttelungs- und Erregungsprogramm klingt so: "Insgesamt starben im 20. Jahrhundert knapp 400 Millionen Menschen durch unseren Lebensstil im weiteren Sinne"; "Noch eine andere todbringende Macht erhebt ihr hässliches Haupt: der Klimawandel"; "Rechnerisch tötet der Konsument (...) während seines Lebens 0,1 Personen"; "Keine Waffe zählt so viele Opfer in diesem Buch, zumindest noch in diesem Jahrhundert, wie der Feinstaub"; "20 EU-Bürger töten im Lauf ihres Lebens eine andere Person durch Luftverschmutzung"; "Unser globaler Kill Score kommt im 21. Jahrhundert grob geschätzt auf insgesamt mehr als 500 Millionen Menschen". Nun ist das Genre des Aufrechnungsbuchs durchaus geläufig, doch Thomä treibt das Verfahren auf die Spitze. Ob er das diagnostizierte PR-Problem der Nachhaltigkeit damit lösen kann, muss bezweifelt werden, denn bei seinen im Vorfeld ohnehin überzeugten Lesern wird er offene Türen einrennen, der skeptische Rest dürfte "Alarmismus!" rufen und abwinken.
Das liegt auch daran, dass der Autor die aufwendig recherchierte und mit lebendig geschilderten Beispielen versehene Darstellung stilistisch häufig auf die schiefe Bahn schickt. Sein Anliegen ist ein ernstes, es geht auf fast jeder Seite um Leben und Tod, es geht um die Frage, wie viel ein Menschenleben wert ist, es geht darum, was die Moralphilosophie dem Utilitarismus ins Stammbuch schreiben könnte. Warum dann solche flapsigen Einlassungen: "Aber es gibt nicht massenweise Bankleute, die nach drei Tagen am Schreibtisch den Löffel abgeben." Thomä zufolge verehren wir eine höhere Macht "am Altar des Konsums", und angesichts der Gefahr, die uns durch Mikroplastik droht, "kann man nur Han Solo aus 'Star Wars' zitieren: 'I have a bad feeling about this.'" An anderer Stelle heißt es: "Freud muss Leid, Leid muss Freude haben, das wissen wir spätestens seit Faust." Wenn uns Thomä dann noch verrät, dass eines seiner Lieblingsrestaurants in Istanbul "360 Grad" heißt, wirkt er wie jene in Avocado-Smoothies verliebte Prenzlauer-Berg-Gemeinschaft, die er selbst nicht ungeschoren davonkommen lässt.
Wiederholt dockt er an der Hochkultur an, und immer wieder bemüht er wackelige Vergleiche: "Leo Tolstoi eröffnet seinen Roman 'Anna Karenina' mit dem berühmten Satz: 'Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.' Analog gilt: der natürliche Tod ist für alle gleich. Der vorzeitige Tod nicht." Bezieht man sich dabei nur auf den Zustand des Totseins, dann ist jeder Tod wie der andere. Will man jedoch auf den Weg dorthin oder die Ursache hinaus, ist auch der natürliche Tod nicht für alle gleich. Wer in hohem Alter ohne Schmerzen einschläft und verstirbt, erlebt etwas ganz anderes als der junge Krebspatient, der nach langem Siechtum auf sein Ableben wartet.
Fünfzig Seiten vor Schluss hebt Thomä hervor, die vorangegangene Erörterung sei "ja nur die Buchhaltung unseres Handelns, keine moralische Einordnung derselben". Einspruch. Diktion und Inhalt verraten die Haltung mehr als deutlich: "Der menschengemachte Ökozid ist ein Horror unvorstellbaren Ausmaßes." Derartige Aufschreie sollten nicht verschleiern, dass das Buch oft genug interessant und reflektiert ist, etwa wenn der Autor Gedankenexperimente vorstellt. Man nehme folgende Überlegungen des Umweltjuristen Daniel Farber, die Thomä leicht abgewandelt wiedergibt: Wir haben zwei Szenarien für ein Atommüllendlager. Nach Möglichkeit eins wird ein Depot errichtet, das in fünfhundert Jahren höchstwahrscheinlich lecken wird, woraufhin fünfhundert Millionen Menschen sterben. Nach Option zwei steht dies nicht zu befürchten, allerdings kommt es beim Bau zu zwei Todesfällen. Welche Variante ist vorzuziehen?
Intuitiv scheint zunächst klar zu sein, dass zwei Tote verglichen mit fünfhundert Millionen Opfern zu vertreten sind. Was aber, wenn wir in unserer Rechnung einen Abschlag vornehmen, der die Güte künftigen Lebens mindert? Bei einem Diskontsatz von fünf Prozent "entspricht der Wert von 500 Millionen Menschen in 500 Jahren dem Wert von exakt 0,01 Leben heute". Eine solche Rechnung wirft Fragen auf, zum Beispiel nach dem "richtigen" Diskontsatz. Gibt es den überhaupt? Falls ja, wie sieht er in der Wirtschaftswissenschaft, wie in der Ethik aus? Sind fünf Prozent womöglich genauso aus der Luft gegriffen, wie es zwei oder zehn Prozent wären?
Kosten-Nutzen-Analysen müssen keine Quatschkopfphilosophie sein, sie haben, im Gegenteil, einen Realitätsbezug, der beispielsweise bei den Triage-Maßnahmen während der Pandemie greifbar wurde. Zweifelhaft ist indes, ob es in einem praktischen Sinne etwas bringt, wenn man feststellt: Meine Flugreise nach Amerika und mein unsachgemäß entsorgtes Handy töten unterm Strich exakt soundso viele Menschen.
Dass allerdings Konsequenzen in der Ferne zu befürchten sind, weil wir im Westen gern Avocados essen oder auf unser Auto nicht verzichten wollen, steht außer Frage. Stellt Thomä also fest, wir würden Schuld auf uns laden, sobald wir selbstsüchtig konsumieren, wird man ihm nicht widersprechen können. Und damit die Eingangsfrage nicht offen bleibt: Der Ausstoß von Treibhausgasen, die nur durch die Ernährung verursacht werden, beläuft sich hierzulande auf ungefähr 1,75 Tonnen pro Kopf und Jahr.
Jakob Thomä: "Der Kill-Score". Auf den Spuren unseres ökologischen und sozialen Fußabdrucks.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022. 304 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»[Thomä] schreibt leicht verständlich und hat anschauliche Geschichten. Denen folgt man gerne. [...] Das Buch, finde ich jedenfalls, ist in all seiner Sachlichkeit ein emotionaler, moralischer Appell an uns, endlich etwas zu unternehmen und sich unserer persönlichen Verantwortung tatsächlich bewusst zu stellen und sie nicht auf andere abzuschieben. Das ist schon ein ungewöhnliches, durchaus überzeugendes Plädoyer für ein nachhaltiges Leben und Arbeiten.« Johannes Kaiser, Deutschlandfunk Kultur, 09. Dezember 2022 Johannes Kaiser Deutschlandfunk Kultur 20221209