Produktdetails
- Verlag: Ernst & Sohn
- Seitenzahl: 180
- Deutsch, Englisch
- Abmessung: 280mm
- Gewicht: 812g
- ISBN-13: 9783433021422
- Artikelnr.: 25309238
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.1997Wo man Bauklötze staunen darf
Plädoyers für Kindergärten mit Charakter und Haus-Gesicht
Seit es in der Bundesrepublik einen gesetzlichen Anspruch auf einen Kindergartenplatz für jedes Kind gibt, müßte die Bauaufgabe Kindergarten Hochkonjunktur haben - wenn nicht der Tiefstand in den Gemeindekassen die Befolgung des Gesetzes behinderte. Der Ausweg aus beiden widersprüchlichen Bedingungen liegt nahe. Fertigteilindustrie und Generalunternehmer werden den Kommunen ihre standardisierten Billiglösungen aufdrängen. Und die finanzschwachen Gemeinden werden nachgeben, bestenfalls widerstrebend, überwiegend aber, weil sie ohnehin den strapaziösen Umgang mit der Qualität scheuen.
Phantasievolles Bauen wie in einzelnen süddeutschen Gemeinden und wie beim Kindertagesstättenprogramm der Stadt Frankfurt am Main war immer die Ausnahme. Manuel Cuadra schickt seinem aus der Defensive geschriebenen Kindergartenbuch einen historischen Überblick voraus. Er belegt, wie sogar in den reformbewußten zwanziger Jahren und erst recht in den folgenden Jahrzehnten Kindergärten als Behälter aufgefaßt wurden, die DIN-Normen, Sicherheitsregeln, Besonnungs-und Hygienestandards berücksichtigten, doch nicht mehr. Baukunst fängt erst jenseits von Unfallverhütungsvorschriften an. Von ihr war bei den Häusern für die Jüngsten selten die Rede.
In den besten Beispielen des Bandes wird der Bau zum Lebensraum. Er zeigt, was man mit der Welt anfangen kann. Er verdeutlicht, wie Dinge gemacht, wie Verbindungen hergestellt sind. Er lehrt Unterschiede begreifen: zwischen dem Rauhen und dem Glatten, dem Weichen und dem Harten, dem Geschlossenen und dem Offenen, dem Gedämpften und dem Hallenden, dem Innen und dem Außen. Cuadra zitiert seinen Lehrer Günter Behnisch: Was bestimme unsere Erinnerungen an unsere Kindheit? Erinnerten wir uns etwa an den Grundriß der Wohnung? Seien es nicht vielmehr der Duft des Holzes, die abgetretenen Sandsteinstufen, die Sonnenflecken und der Schatten unter einer von Glyzinien überwucherten Pergola?
Oft fördert gerade das, was dem Sicherheitsdenken zuwiderläuft, die Kreativität. Nischen, die den Kontrollblicken des Personals entzogen sind, erlauben zeitweisen Rückzug, vorübergehend notwendige Vereinzelung. Treppen und Emporen, vermeintliche Risikofaktoren, machen das Oben und das Unten erlebbar. Manche Räume, schwerer zugänglich als andere, bieten der kindlichen Angstlust Stoff und die Gelegenheit, Mut zu trainieren. Nicht zuletzt gehört zum gelungenen Bauwerk eine Vorstellung vom Ganzen, das Unverwechselbare, Einprägsame, das Haus-Gesicht, an dem man den eigenen Ort erkennt.
Manche Kindergärten des letzten Jahrzehnts, die in Grundriß und Baufigur Neues wagten, haben im Drang nach Originalität zuviel getan und der Sache geschadet. So wuchs sich das Frankfurter Kindergartenprogramm fast zu einer internationalen Bauausstellung mit eigenem Architekturtourismus aus. Hundertwassers goldglänzendes Märchenschloß auf einer Frankfurter Industriebrache, aber auch das untergehende Schiff aus dem Büro Behnisch, gestrandet in Stuttgarter Weinbergen, präsentierten ausformulierte Bilder und vorgefertigte Visionen. Sie ließen nicht Möglichkeiten offen, sondern legten von vornherein Metaphern fest, an die sich die kindliche Imagination zu halten hatte.
Von den beiden Büchern zum Thema ist das jüngere, von Cuadra, das strenger geordnete. Der Autor präsentiert zwanzig aktuelle Beispiele aus der Bundesrepublik, kommentiert sie kritisch und teilt alle notwendigen Daten über Raumgrößen und Baukosten mit. Walter Kroner, der Autor des älteren Bandes, mischt zwischen die Kindergärten andere für Kinder bestimmte Bauten, zieht internationale Vergleiche, überläßt Werturteile den Nutzern und scheint sich hinsichtlich der formalen Qualität seiner Auswahl nicht Cuadras Skrupeln unterzogen zu haben. Nur vier Beispiele der beiden Bände sind identisch.
Aber originell und naheliegend zugleich war Kroners Entschluß, die Experten in eigener Sache, die Kinder, zu Wort kommen zu lassen. Ihre Meinungen werden referiert und zitiert, und dazu artikulieren sie sich in Zeichnungen. Verblüffend genau geben Kinder die Eigenarten ihrer Domizile wieder, wenn auch nicht in korrekter Architektenperspektive. Manchmal sind ihre Skizzen mit Grundrissen versehen und stets von archetypischen Vorstellungen überlagert: Was ist ein Haus, ein Turm, was gewährt Schutz, wo steht die Sonne, wie verhält sich Natur zum Bau? Immer beurteilen sie Gebäude nach deren Gebrauchs- und Gefühlswert. Aber hegen Erwachsene, wenn sie ehrlich sind, andere Wünsche gegenüber der Architektur ihres Alltags?
Durch beide Bücher mäandert der Begriff "kindgerecht". Ach, dieses Wort! Ein Bauen der sinnlichen Faßbarkeit, Architektur, die sich dem Licht, den Bäumen öffnet und sich an anderen Stellen schützend verschließt, die altern kann und sich verändern läßt, die Geschichte erträgt und zu Geschichten auffordert - was heißt da "kindgerecht"? So zu bauen wäre nicht allein kindgerecht. Es wäre menschengerecht. WOLFGANG PEHNT
Manuel Cuadra: "Der Kindergarten". Seine Architektur in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von der Architektenkammer Hessen. Verlag Ernst & Sohn, Berlin 1997. 175 S., 296 Abb., geb., 98,- DM.
Walter Kroner: "Architektur für Kinder". Karl Krämer Verlag, Stuttgart, Zürich 1994. 176 S., 500 Farb- und S/W-Abb., geb., 145,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Plädoyers für Kindergärten mit Charakter und Haus-Gesicht
Seit es in der Bundesrepublik einen gesetzlichen Anspruch auf einen Kindergartenplatz für jedes Kind gibt, müßte die Bauaufgabe Kindergarten Hochkonjunktur haben - wenn nicht der Tiefstand in den Gemeindekassen die Befolgung des Gesetzes behinderte. Der Ausweg aus beiden widersprüchlichen Bedingungen liegt nahe. Fertigteilindustrie und Generalunternehmer werden den Kommunen ihre standardisierten Billiglösungen aufdrängen. Und die finanzschwachen Gemeinden werden nachgeben, bestenfalls widerstrebend, überwiegend aber, weil sie ohnehin den strapaziösen Umgang mit der Qualität scheuen.
Phantasievolles Bauen wie in einzelnen süddeutschen Gemeinden und wie beim Kindertagesstättenprogramm der Stadt Frankfurt am Main war immer die Ausnahme. Manuel Cuadra schickt seinem aus der Defensive geschriebenen Kindergartenbuch einen historischen Überblick voraus. Er belegt, wie sogar in den reformbewußten zwanziger Jahren und erst recht in den folgenden Jahrzehnten Kindergärten als Behälter aufgefaßt wurden, die DIN-Normen, Sicherheitsregeln, Besonnungs-und Hygienestandards berücksichtigten, doch nicht mehr. Baukunst fängt erst jenseits von Unfallverhütungsvorschriften an. Von ihr war bei den Häusern für die Jüngsten selten die Rede.
In den besten Beispielen des Bandes wird der Bau zum Lebensraum. Er zeigt, was man mit der Welt anfangen kann. Er verdeutlicht, wie Dinge gemacht, wie Verbindungen hergestellt sind. Er lehrt Unterschiede begreifen: zwischen dem Rauhen und dem Glatten, dem Weichen und dem Harten, dem Geschlossenen und dem Offenen, dem Gedämpften und dem Hallenden, dem Innen und dem Außen. Cuadra zitiert seinen Lehrer Günter Behnisch: Was bestimme unsere Erinnerungen an unsere Kindheit? Erinnerten wir uns etwa an den Grundriß der Wohnung? Seien es nicht vielmehr der Duft des Holzes, die abgetretenen Sandsteinstufen, die Sonnenflecken und der Schatten unter einer von Glyzinien überwucherten Pergola?
Oft fördert gerade das, was dem Sicherheitsdenken zuwiderläuft, die Kreativität. Nischen, die den Kontrollblicken des Personals entzogen sind, erlauben zeitweisen Rückzug, vorübergehend notwendige Vereinzelung. Treppen und Emporen, vermeintliche Risikofaktoren, machen das Oben und das Unten erlebbar. Manche Räume, schwerer zugänglich als andere, bieten der kindlichen Angstlust Stoff und die Gelegenheit, Mut zu trainieren. Nicht zuletzt gehört zum gelungenen Bauwerk eine Vorstellung vom Ganzen, das Unverwechselbare, Einprägsame, das Haus-Gesicht, an dem man den eigenen Ort erkennt.
Manche Kindergärten des letzten Jahrzehnts, die in Grundriß und Baufigur Neues wagten, haben im Drang nach Originalität zuviel getan und der Sache geschadet. So wuchs sich das Frankfurter Kindergartenprogramm fast zu einer internationalen Bauausstellung mit eigenem Architekturtourismus aus. Hundertwassers goldglänzendes Märchenschloß auf einer Frankfurter Industriebrache, aber auch das untergehende Schiff aus dem Büro Behnisch, gestrandet in Stuttgarter Weinbergen, präsentierten ausformulierte Bilder und vorgefertigte Visionen. Sie ließen nicht Möglichkeiten offen, sondern legten von vornherein Metaphern fest, an die sich die kindliche Imagination zu halten hatte.
Von den beiden Büchern zum Thema ist das jüngere, von Cuadra, das strenger geordnete. Der Autor präsentiert zwanzig aktuelle Beispiele aus der Bundesrepublik, kommentiert sie kritisch und teilt alle notwendigen Daten über Raumgrößen und Baukosten mit. Walter Kroner, der Autor des älteren Bandes, mischt zwischen die Kindergärten andere für Kinder bestimmte Bauten, zieht internationale Vergleiche, überläßt Werturteile den Nutzern und scheint sich hinsichtlich der formalen Qualität seiner Auswahl nicht Cuadras Skrupeln unterzogen zu haben. Nur vier Beispiele der beiden Bände sind identisch.
Aber originell und naheliegend zugleich war Kroners Entschluß, die Experten in eigener Sache, die Kinder, zu Wort kommen zu lassen. Ihre Meinungen werden referiert und zitiert, und dazu artikulieren sie sich in Zeichnungen. Verblüffend genau geben Kinder die Eigenarten ihrer Domizile wieder, wenn auch nicht in korrekter Architektenperspektive. Manchmal sind ihre Skizzen mit Grundrissen versehen und stets von archetypischen Vorstellungen überlagert: Was ist ein Haus, ein Turm, was gewährt Schutz, wo steht die Sonne, wie verhält sich Natur zum Bau? Immer beurteilen sie Gebäude nach deren Gebrauchs- und Gefühlswert. Aber hegen Erwachsene, wenn sie ehrlich sind, andere Wünsche gegenüber der Architektur ihres Alltags?
Durch beide Bücher mäandert der Begriff "kindgerecht". Ach, dieses Wort! Ein Bauen der sinnlichen Faßbarkeit, Architektur, die sich dem Licht, den Bäumen öffnet und sich an anderen Stellen schützend verschließt, die altern kann und sich verändern läßt, die Geschichte erträgt und zu Geschichten auffordert - was heißt da "kindgerecht"? So zu bauen wäre nicht allein kindgerecht. Es wäre menschengerecht. WOLFGANG PEHNT
Manuel Cuadra: "Der Kindergarten". Seine Architektur in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von der Architektenkammer Hessen. Verlag Ernst & Sohn, Berlin 1997. 175 S., 296 Abb., geb., 98,- DM.
Walter Kroner: "Architektur für Kinder". Karl Krämer Verlag, Stuttgart, Zürich 1994. 176 S., 500 Farb- und S/W-Abb., geb., 145,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der vorliegende Band leistet Erstaunliches und verdient das Prädikat 'wertvoll'. Jeder Architekt, plötzlich mit der Aufgabe 'Kindergarten' konfrontiert beziehungsweise betraut, erhält hier wichtige Grundinformationen, die im Kontext konzeptioneller Arbeit unverzichtbar sind und eine schnelle Einarbeitung in die verschiedenen theoretischen Ansätze dieser Bauaufgabe erlauben." (md)