Berlioz, Rossini, Meyerbeer, Wagner, Chopin, Offenbach, Pauline Viardot - diese und viele andere Künstler leben, lieben, leiden in der musikalischen Hauptstadt des 19. Jahrhunderts und schreiben mit an der Partitur einer Metropole zwischen Revolution und Elektrizität, Eisenbahn und Kaiserreich.
Erstmals wird Paris in diesem Buch als Zentrum europäischer Musik im 19. Jahrhundert erkundet, zugleich die Musik auf ihre Umgebung bezogen. Den Aufbruch in die Moderne, der sich hier in beispiellosem Tempo vollzieht, von Napoleons Tod bis zum Zweiten Kaiserreich, erleben wir hautnah, wenn Rossini sich fotografieren lässt, Berlioz die Miete nicht zahlen kann, Meyerbeer Hollywood vorwegnimmt und Chopin im Zug fährt, wenn Balzac, Flaubert, Baudelaire die Oper besuchen und Offenbach die Zensur austrickst.
Soziales Elend und teure Soiréen, Alltag und Umbruch, Liebe und Kunst bringt dieses Panorama zusammen; Spurensuchen in der Gegenwart verbinden uns mit dem Vormittag unserer Epoche. Ihm kommen wir in der Musik so nah wie sonst nirgends: im Klang von Paris.
Erstmals wird Paris in diesem Buch als Zentrum europäischer Musik im 19. Jahrhundert erkundet, zugleich die Musik auf ihre Umgebung bezogen. Den Aufbruch in die Moderne, der sich hier in beispiellosem Tempo vollzieht, von Napoleons Tod bis zum Zweiten Kaiserreich, erleben wir hautnah, wenn Rossini sich fotografieren lässt, Berlioz die Miete nicht zahlen kann, Meyerbeer Hollywood vorwegnimmt und Chopin im Zug fährt, wenn Balzac, Flaubert, Baudelaire die Oper besuchen und Offenbach die Zensur austrickst.
Soziales Elend und teure Soiréen, Alltag und Umbruch, Liebe und Kunst bringt dieses Panorama zusammen; Spurensuchen in der Gegenwart verbinden uns mit dem Vormittag unserer Epoche. Ihm kommen wir in der Musik so nah wie sonst nirgends: im Klang von Paris.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2019In der Kutsche hat Chopin gelächelt
Als wäre er dabei gewesen: Volker Hagedorn setzt in seinem Buch über das Musikleben im Paris des neunzehnten Jahrhunderts ganz auf die Suggestion von Nähe.
Hübsch gesetzt mit behutsam romanisierter Jugendstil-Fraktur, liebevoll illustriert mit Stichen und Fotos und ganze siebzig Seiten schlank ist das Buch "Paris als Musikstadt" von Romain Rolland, in der von Richard Strauss herausgegebenen Reihe "Die Musik" in Berlin 1905 erschienen. In klarer Sprache, hochverdichtet, aber einfach, führt hier ein großer Romancier, um strikte Sachlichkeit bemüht, durch das Musikleben einer Stadt zwischen 1870 und 1904, stellt die wichtigsten Institutionen des Konzert- und Opernlebens sowie der musikalischen Ausbildung vor, um bei Gelegenheit auch auf deren Hauptakteure zu sprechen zu kommen. Ein scharf umrissenes, zugleich kontrastreiches Bild von "Paris als Musikstadt" ist dabei entstanden, von dem man sich wünscht, dass es auch einmal für die Zeit davor gemalt würde.
Volker Hagedorn wendet sich mit seinem Buch "Der Klang von Paris" genau dieser Zeit zu, den Jahren von 1821 bis 1867, als Hector Berlioz in Paris lebte, und sein Verlag verspricht auf dem Einband eine "Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts". Es ist also kein Versuch einer Sozial- und Mentalitätsgeschichte von "Paris als Musikstadt", worin Fragen der Institutionalisierung, Urbanisierung, Verbürgerlichung, Kommerzialisierung und Professionalisierung des Musiklebens analysiert würden. Es ist auch keine klanghistorische Untersuchung, worin Besonderheiten des Instrumentenbaus (vom kurzen Besuch bei einem Klavierrestaurator abgesehen) im Verhältnis zu Raumgrößen und generellem Geräuschpegel, auch zur Ereignisdichte von Konzerterlebnissen erforscht würden. Nein, es ist stattdessen der Erlebnisbericht von einem, der nicht dabei war, aber vorgibt, dabei gewesen zu sein.
Hagedorn weiß schon auf der ersten Seite, dass Berlioz mit seinem schönen Bariton singt, während er als Student der Medizin eine Leiche seziert und deren Schädel zersägt. Er weiß, dass "Chopin lächelt", als der Komponist am 7. April 1849 mit Eugène Delacroix in der Kutsche ausfährt, denn "das Gespräch tut ihm gut". Er weiß auch, fast taktgenau, woran Giacomo Meyerbeer denkt, während er zum ersten Mal die späte Messe von Gioacchino Rossini hört. Enorm! Dutzende von Forschern, besonders am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, müssen ihn beneiden um diese Kenntnisse einer Intimitätsgeschichte musikalischen Hörens und Erlebens.
Natürlich weiß Hagedorn das alles so genau nicht. Es sind Ausschmückungen seines Reiseberichts, die gewissermaßen auf Hochrechnungen qualitativer Daten aus historischen Quellen beruhen, aus Briefen, Tagebüchern, Memoiren, Zeitungsreportagen, die er tatsächlich gut kennt, die er aber keineswegs quellenkritisch auf ihre Verlässlichkeit und Gültigkeit, auch nicht auf die Manipulation von Daten hinsichtlich der ursprünglich adressierten Leser hin geprüft hat. Das nämlich tut er nur in einem Fall, beim üblichen Verdächtigen Richard Wagner, der über seine Zeit in Paris ein völlig anderes Bild entwirft, als es die Notizen Meyerbeers und des Verlegers Maurice Schlesinger hergeben. Alle Bedenken wissenschaftlicher Biographik über den Umgang mit Zitaten werden hier in den Wind geschlagen und einer erzählerischen Suggestion geopfert, der Suggestion von Nähe, von "Musikgeschichte zum Anfassen".
Dieses Verfahren ist zeittypisch. Jedes Ausstellungskonzept in Musikermuseen muss heute "einen emotionalen Zugang" eröffnen und einen "hohen Erlebniswert" anstreben. Und wenn man dann noch etwas drücken, schieben oder betasten darf, sind die Konzeptualisten einer didaktischen Infantilisierung erst richtig happy. Bei Hagedorn wird die sprachliche Anstrengung zum Äquivalent des Drückens, Schiebens oder Betastens. War eine historische Hermeneutik früher um die Reflexion des Zeitenabstandes und die Bestimmung der eigenen Stellung im wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein bemüht, so radiert Hagedorn diesen Zeitenabstand aus. Statt begreifen zu wollen, was eine Zeit an sich selbst noch nicht begriff, wird das Erleben einer Epoche aus ihrer eigenen Erfahrungswelt heraus - sehr geschickt übrigens mit Paraphrasen und Zitaten aus Romanen von Honoré de Balzac oder Feuilletons von Heinrich Heine - revitalisiert.
Interessant dabei ist, dass Hagedorn ins historische Präsens seines Epochenromans Reportagen aus der Niederschriftzeit seines Buches interpoliert, Reportagen aus dem Paris von 2017, in denen häufig das Wort "ich" vorkommt. Hagedorn hat die bekannten Adressen des neunzehnten Jahrhunderts noch einmal aufgesucht, findet Eingabetasten für Zahlencodes anstelle von Namensschildern an den Haustüren vor und manchmal auch Topfpflanzen vor den Fenstern, hinter denen einst ein Großer der Musik gelebt hat. Alle diese Reportagen aus der Jetztzeit müssen angestrengt bezeugen, dass es das Historische "wirklich" gegeben hat. Wo der Stil der historischen Darstellung das Faktische fiktionalisiert, muss eine wiederum gesteigert erlebnishafte Beglaubigung des Faktischen den Verdacht der Fiktion entkräften.
Hagedorn, der als Musikkritiker der Wochenzeitung "Die Zeit" zu den sensibelsten und genauesten der Zunft gehört, beschreibt viel Bemerkenswertes in seinem Buch: etwa den drastischen Realismus in der Malerei jener Zeit, den er im Inszenierungsstil der Pariser Oper wiederfindet. Doch er stellt sich die Frage nicht, warum der Realismus der Malerei so gegenwartsbezogen war, die Oper hingegen einen entschiedenen Historismus pflegte und die Aktualisierungsleistung dem Publikum überließ.
Wir erfahren vom enormen Etat der Pariser Oper für die Erstaufführung von Wagners "Tannhäuser" und den Zuwendungen der Fürstin von Metternich für dieses Ereignis. Aber wir erfahren nicht, wie die Oper sich grundsätzlich finanziert hat. Allein von Karteneinnahmen? Gab es staatliche Zuwendungen? Private Spenden? Mussten Sängerinnen und Tänzerinnen auch in Paris - wie in Wien - für ihre Bühnengarderobe selbst aufkommen?
Hagedorns Reise durch Paris folgt gut erprobten Führern. Sie erzählt bereits erzählte Geschichte gefühlsecht nach. Es ist im Wesentlichen die Geschichte der Oper: Rossini, Meyerbeer, Berlioz, Wagner, ein bisschen Jacques Offenbach, am Rande noch Chopin und Liszt. Am Ende konstatiert er mit Camille Saint-Saëns einen "neuen Aufbruch der Kammermusik, die in Frankreich, im Schatten der Oper, so lange keine Rolle spielte". Das ist schlichtweg falsch, betet nur die rhetorische Selbstinszenierung von Saint-Saëns nach. Durch die Arbeit des Palazzetto Bru Zane wissen wir seit einigen Jahren, dass es eine rege Kammermusikszene in Paris gegeben hat mit George Onslow und Johann Nepomuk Hummel, mit Théodore Gouvy sowie dem Frühwerk von Charles-Marie Widor und César Franck.
Und wenn das Buch beim Jahr 1867 mit der Bemerkung schließt, es seien keine drei Jahre mehr, "bis eine neue Zeit der Nationen und der Kriege beginnt", so befremdet das sehr. Hatte denn nicht Frankreich tüchtig im Krimkrieg mitgemetzelt? Hatte es nicht Preußens Kriege gegen Dänemark und Österreich gegeben, Garibaldis Feldzüge durch Italien? Es ist doch vielmehr so, dass erst auf den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 eine ungewöhnlich lange Friedenszeit in Europa folgt.
"Der Klang von Paris" hätte eine Gegenerzählung werden können zur offiziösen Geschichtsschreibung über diese Epoche, in deren Zentrum bislang mächtige Männer und deren Institutionen wie die Opéra und das Conservatoire standen. Es hätte eine Erzählung über die Gegenöffentlichkeit der Salons werden können, über den antibürgerlichen, antikommerziellen Widerstand Chopins, der - politisch quasi ein Rechtsaußen - als Legitimist die schärfste Form des Monarchismus vertrat, und über den Erfolg einer Frau wie Louise Farrenc, die sich als Klavierprofessorin und Komponistin am Konservatorium durchsetzte. Stattdessen wird Altbekanntes nur unterhaltsam neu verpackt. Hier ist von einem, der es weitaus besser gekonnt hätte, eine Chance vertan worden.
JAN BRACHMANN
Volker Hagedorn: "Der Klang von Paris". Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 416 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als wäre er dabei gewesen: Volker Hagedorn setzt in seinem Buch über das Musikleben im Paris des neunzehnten Jahrhunderts ganz auf die Suggestion von Nähe.
Hübsch gesetzt mit behutsam romanisierter Jugendstil-Fraktur, liebevoll illustriert mit Stichen und Fotos und ganze siebzig Seiten schlank ist das Buch "Paris als Musikstadt" von Romain Rolland, in der von Richard Strauss herausgegebenen Reihe "Die Musik" in Berlin 1905 erschienen. In klarer Sprache, hochverdichtet, aber einfach, führt hier ein großer Romancier, um strikte Sachlichkeit bemüht, durch das Musikleben einer Stadt zwischen 1870 und 1904, stellt die wichtigsten Institutionen des Konzert- und Opernlebens sowie der musikalischen Ausbildung vor, um bei Gelegenheit auch auf deren Hauptakteure zu sprechen zu kommen. Ein scharf umrissenes, zugleich kontrastreiches Bild von "Paris als Musikstadt" ist dabei entstanden, von dem man sich wünscht, dass es auch einmal für die Zeit davor gemalt würde.
Volker Hagedorn wendet sich mit seinem Buch "Der Klang von Paris" genau dieser Zeit zu, den Jahren von 1821 bis 1867, als Hector Berlioz in Paris lebte, und sein Verlag verspricht auf dem Einband eine "Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts". Es ist also kein Versuch einer Sozial- und Mentalitätsgeschichte von "Paris als Musikstadt", worin Fragen der Institutionalisierung, Urbanisierung, Verbürgerlichung, Kommerzialisierung und Professionalisierung des Musiklebens analysiert würden. Es ist auch keine klanghistorische Untersuchung, worin Besonderheiten des Instrumentenbaus (vom kurzen Besuch bei einem Klavierrestaurator abgesehen) im Verhältnis zu Raumgrößen und generellem Geräuschpegel, auch zur Ereignisdichte von Konzerterlebnissen erforscht würden. Nein, es ist stattdessen der Erlebnisbericht von einem, der nicht dabei war, aber vorgibt, dabei gewesen zu sein.
Hagedorn weiß schon auf der ersten Seite, dass Berlioz mit seinem schönen Bariton singt, während er als Student der Medizin eine Leiche seziert und deren Schädel zersägt. Er weiß, dass "Chopin lächelt", als der Komponist am 7. April 1849 mit Eugène Delacroix in der Kutsche ausfährt, denn "das Gespräch tut ihm gut". Er weiß auch, fast taktgenau, woran Giacomo Meyerbeer denkt, während er zum ersten Mal die späte Messe von Gioacchino Rossini hört. Enorm! Dutzende von Forschern, besonders am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, müssen ihn beneiden um diese Kenntnisse einer Intimitätsgeschichte musikalischen Hörens und Erlebens.
Natürlich weiß Hagedorn das alles so genau nicht. Es sind Ausschmückungen seines Reiseberichts, die gewissermaßen auf Hochrechnungen qualitativer Daten aus historischen Quellen beruhen, aus Briefen, Tagebüchern, Memoiren, Zeitungsreportagen, die er tatsächlich gut kennt, die er aber keineswegs quellenkritisch auf ihre Verlässlichkeit und Gültigkeit, auch nicht auf die Manipulation von Daten hinsichtlich der ursprünglich adressierten Leser hin geprüft hat. Das nämlich tut er nur in einem Fall, beim üblichen Verdächtigen Richard Wagner, der über seine Zeit in Paris ein völlig anderes Bild entwirft, als es die Notizen Meyerbeers und des Verlegers Maurice Schlesinger hergeben. Alle Bedenken wissenschaftlicher Biographik über den Umgang mit Zitaten werden hier in den Wind geschlagen und einer erzählerischen Suggestion geopfert, der Suggestion von Nähe, von "Musikgeschichte zum Anfassen".
Dieses Verfahren ist zeittypisch. Jedes Ausstellungskonzept in Musikermuseen muss heute "einen emotionalen Zugang" eröffnen und einen "hohen Erlebniswert" anstreben. Und wenn man dann noch etwas drücken, schieben oder betasten darf, sind die Konzeptualisten einer didaktischen Infantilisierung erst richtig happy. Bei Hagedorn wird die sprachliche Anstrengung zum Äquivalent des Drückens, Schiebens oder Betastens. War eine historische Hermeneutik früher um die Reflexion des Zeitenabstandes und die Bestimmung der eigenen Stellung im wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein bemüht, so radiert Hagedorn diesen Zeitenabstand aus. Statt begreifen zu wollen, was eine Zeit an sich selbst noch nicht begriff, wird das Erleben einer Epoche aus ihrer eigenen Erfahrungswelt heraus - sehr geschickt übrigens mit Paraphrasen und Zitaten aus Romanen von Honoré de Balzac oder Feuilletons von Heinrich Heine - revitalisiert.
Interessant dabei ist, dass Hagedorn ins historische Präsens seines Epochenromans Reportagen aus der Niederschriftzeit seines Buches interpoliert, Reportagen aus dem Paris von 2017, in denen häufig das Wort "ich" vorkommt. Hagedorn hat die bekannten Adressen des neunzehnten Jahrhunderts noch einmal aufgesucht, findet Eingabetasten für Zahlencodes anstelle von Namensschildern an den Haustüren vor und manchmal auch Topfpflanzen vor den Fenstern, hinter denen einst ein Großer der Musik gelebt hat. Alle diese Reportagen aus der Jetztzeit müssen angestrengt bezeugen, dass es das Historische "wirklich" gegeben hat. Wo der Stil der historischen Darstellung das Faktische fiktionalisiert, muss eine wiederum gesteigert erlebnishafte Beglaubigung des Faktischen den Verdacht der Fiktion entkräften.
Hagedorn, der als Musikkritiker der Wochenzeitung "Die Zeit" zu den sensibelsten und genauesten der Zunft gehört, beschreibt viel Bemerkenswertes in seinem Buch: etwa den drastischen Realismus in der Malerei jener Zeit, den er im Inszenierungsstil der Pariser Oper wiederfindet. Doch er stellt sich die Frage nicht, warum der Realismus der Malerei so gegenwartsbezogen war, die Oper hingegen einen entschiedenen Historismus pflegte und die Aktualisierungsleistung dem Publikum überließ.
Wir erfahren vom enormen Etat der Pariser Oper für die Erstaufführung von Wagners "Tannhäuser" und den Zuwendungen der Fürstin von Metternich für dieses Ereignis. Aber wir erfahren nicht, wie die Oper sich grundsätzlich finanziert hat. Allein von Karteneinnahmen? Gab es staatliche Zuwendungen? Private Spenden? Mussten Sängerinnen und Tänzerinnen auch in Paris - wie in Wien - für ihre Bühnengarderobe selbst aufkommen?
Hagedorns Reise durch Paris folgt gut erprobten Führern. Sie erzählt bereits erzählte Geschichte gefühlsecht nach. Es ist im Wesentlichen die Geschichte der Oper: Rossini, Meyerbeer, Berlioz, Wagner, ein bisschen Jacques Offenbach, am Rande noch Chopin und Liszt. Am Ende konstatiert er mit Camille Saint-Saëns einen "neuen Aufbruch der Kammermusik, die in Frankreich, im Schatten der Oper, so lange keine Rolle spielte". Das ist schlichtweg falsch, betet nur die rhetorische Selbstinszenierung von Saint-Saëns nach. Durch die Arbeit des Palazzetto Bru Zane wissen wir seit einigen Jahren, dass es eine rege Kammermusikszene in Paris gegeben hat mit George Onslow und Johann Nepomuk Hummel, mit Théodore Gouvy sowie dem Frühwerk von Charles-Marie Widor und César Franck.
Und wenn das Buch beim Jahr 1867 mit der Bemerkung schließt, es seien keine drei Jahre mehr, "bis eine neue Zeit der Nationen und der Kriege beginnt", so befremdet das sehr. Hatte denn nicht Frankreich tüchtig im Krimkrieg mitgemetzelt? Hatte es nicht Preußens Kriege gegen Dänemark und Österreich gegeben, Garibaldis Feldzüge durch Italien? Es ist doch vielmehr so, dass erst auf den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 eine ungewöhnlich lange Friedenszeit in Europa folgt.
"Der Klang von Paris" hätte eine Gegenerzählung werden können zur offiziösen Geschichtsschreibung über diese Epoche, in deren Zentrum bislang mächtige Männer und deren Institutionen wie die Opéra und das Conservatoire standen. Es hätte eine Erzählung über die Gegenöffentlichkeit der Salons werden können, über den antibürgerlichen, antikommerziellen Widerstand Chopins, der - politisch quasi ein Rechtsaußen - als Legitimist die schärfste Form des Monarchismus vertrat, und über den Erfolg einer Frau wie Louise Farrenc, die sich als Klavierprofessorin und Komponistin am Konservatorium durchsetzte. Stattdessen wird Altbekanntes nur unterhaltsam neu verpackt. Hier ist von einem, der es weitaus besser gekonnt hätte, eine Chance vertan worden.
JAN BRACHMANN
Volker Hagedorn: "Der Klang von Paris". Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 416 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jan Brachmann ist enttäuscht: Volker Hagedorn, Musikkritiker der Zeit, kann besser über Musik schreiben, meint er. Zwar erkennt Brachmann durchaus das Bemühen des Autors, seinen Streifzug durch das musikalische Paris des 19. Jahrhunderts so lebensnah wie möglich zu gestalten, Erkenntnisgewinn zieht er daraus indes nicht. Wenn ihm Hagedorn vom Lächeln Chopins, dem tönenden Bariton des Leichen sezierenden Medizinstudenten Berlioz oder den Träumen von Giacomo Meyerbeer erzählt, vermisst der Kritiker Wissenschaftlichkeit. Dass der Autor darüber hinaus Erlebnisberichte seiner Recherchereisen einstreut, von sich und seinen Beobachtungen im Paris der Gegenwart erzählt, findet Brachmann ebenfalls verzichtbar. Kluge Beobachtungen, etwa zum Realismus in der Malerei jener Zeit oder zum "enormen Etat" der Pariser Oper für die Erstaufführung von Wagners "Tannhäuser", nimmt der Rezensent zwar mit, ein stimmiges Gesamtbild mit neuen Erkenntnissen gelingt Hagedorn allerdings nicht, schließt Brachmann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Hagedorns Methode ist sichtlich von Techniken des Films beeinflusst: Er folgt einzelnen Akteuren wie mit einer Handkamera, schwenkt über große Entfernungen und Massenszenen, zoomt an Interieurs und Begegnungen heran, jongliert mit Schnitten und Überblendungen, bewegt sich barrierefrei zwischen dem Paris der Vergangenheit und dem heutigen ... Die Dramaturgie ist von geradezu musikalischer Eleganz. Kristina Maidt-Zinke Süddeutsche Zeitung 20190319