Robert Walsers wunderbare Tiergeschichten sind ebenso eigenartig wie einzigartig. Seine Katzen und Mäuschen, Spatzen und Stachelschweine sind mal tierisch ernst, mal überraschend menschlich. Walser zeigt sich fasziniert von ihrer durch Zähmung erlangten Dienstfertigkeit ebenso wie von ihrem unerreichbaren Sich-selbst-Sein. In der »Andersartigkeit« des Tiers erkennen wir nicht zuletzt das Verhältnis des Individuums zu Kultur und Gesellschaft, etwa wenn ein Schriftsteller sich »zum Affen macht« oder »für die Katz schreibt«.Der vorliegende Band versammelt Robert Walsers unzählige Geschichten über Tiere erstmals zu einem kleinen »Bestiarium«.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.05.2014Fabelhafte Feuilletons:
Robert Walser über Tiere
Schriftnahe Tiere sind zum Beispiel die Brieftauben, seit Jahrtausenden schon. Aber sie selbst bekommen nie Post, und in den Fabeln sind sie auch nicht anzutreffen. Dort müssen sie nach Trauben schielen, mit anderen Tieren in Streit geraten und in irgendeiner Naturlandschaft agieren, um ihre Aufgabe als Menschendarsteller zu erfüllen. Als sie das leid waren, verließen sie die Fabeln und entdeckten das Feuilleton. Nun erhielten sie Post, zum Beispiel von Robert Walser, dessen brieftaubenhaft leichter Text „Liebe kleine Schwalbe“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 8. Juni 1919 erschien. Dass die Adressatin leseunkundig war, setzte er voraus, ließ sich dadurch aber von seinen Komplimenten über das Nicht-Anstoßen an Mauern und Schornsteinen und das Fliegen in Kreis und Wellenlinie nicht abhalten: „Wir am Boden haftenden, von Befürchtungen gefesselten, schwerfälligen Menschen wissen nichts von beschwingtem Dasein.“ Den Brief an die Schwalbe hätte Walser gern zum Titelstück eines „Miniatur-Buchs“ mit Texten über Tiere gemacht, das er einem Heidelberger Verlag anbot. Es wurde aber nichts daraus. Jetzt aber gibt es im Insel Verlag eine Anthologie, die in Zeitungen Gedrucktes – aber auch Gedichte und Passagen aus Romanen – mit Tierstücken aus den ungedruckten „Mikrogrammen“ zusammenspannt. Straße und Interieur, der Zoo und der stadtnahe Wald gehören zu den Schauplätzen, menschennahe Tiere wie Katze und Hund stehen im Vordergrund, aber ohne Löwen und Elefanten geht es natürlich nicht. Manche entpuppen sich als Schauspieler, manche, wie Storch und Stachelschwein, geraten in einen Dialog, aber sie sprechen nicht mehr wie Fabeltiere. Der Ton des plaudernden „Ich“, des Kunstwesens, das in Robert Walsers Feuilletons das Wort führt, hat auf sie abgefärbt. Ihn muss die Eule – sie ist der Philosophie entflogen – im Sinn haben, wenn sie sagt: „Ich lese einen Dichter, der sich um seiner Zartheit willen eignet, von Eulen verdaut zu werden. Etwas Süßes ist in seiner Art, etwas Verschleiertes, Undefinierbares, item, er passt mir.“ LOTHAR MÜLLER
Robert Walser: Der kleine Tierpark. Herausgegeben von Lucas Marco Gisi und und Reto Sorg. Insel Verlag, Berlin 2014. 160 Seiten, 7 Euro.
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Robert Walser über Tiere
Schriftnahe Tiere sind zum Beispiel die Brieftauben, seit Jahrtausenden schon. Aber sie selbst bekommen nie Post, und in den Fabeln sind sie auch nicht anzutreffen. Dort müssen sie nach Trauben schielen, mit anderen Tieren in Streit geraten und in irgendeiner Naturlandschaft agieren, um ihre Aufgabe als Menschendarsteller zu erfüllen. Als sie das leid waren, verließen sie die Fabeln und entdeckten das Feuilleton. Nun erhielten sie Post, zum Beispiel von Robert Walser, dessen brieftaubenhaft leichter Text „Liebe kleine Schwalbe“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 8. Juni 1919 erschien. Dass die Adressatin leseunkundig war, setzte er voraus, ließ sich dadurch aber von seinen Komplimenten über das Nicht-Anstoßen an Mauern und Schornsteinen und das Fliegen in Kreis und Wellenlinie nicht abhalten: „Wir am Boden haftenden, von Befürchtungen gefesselten, schwerfälligen Menschen wissen nichts von beschwingtem Dasein.“ Den Brief an die Schwalbe hätte Walser gern zum Titelstück eines „Miniatur-Buchs“ mit Texten über Tiere gemacht, das er einem Heidelberger Verlag anbot. Es wurde aber nichts daraus. Jetzt aber gibt es im Insel Verlag eine Anthologie, die in Zeitungen Gedrucktes – aber auch Gedichte und Passagen aus Romanen – mit Tierstücken aus den ungedruckten „Mikrogrammen“ zusammenspannt. Straße und Interieur, der Zoo und der stadtnahe Wald gehören zu den Schauplätzen, menschennahe Tiere wie Katze und Hund stehen im Vordergrund, aber ohne Löwen und Elefanten geht es natürlich nicht. Manche entpuppen sich als Schauspieler, manche, wie Storch und Stachelschwein, geraten in einen Dialog, aber sie sprechen nicht mehr wie Fabeltiere. Der Ton des plaudernden „Ich“, des Kunstwesens, das in Robert Walsers Feuilletons das Wort führt, hat auf sie abgefärbt. Ihn muss die Eule – sie ist der Philosophie entflogen – im Sinn haben, wenn sie sagt: „Ich lese einen Dichter, der sich um seiner Zartheit willen eignet, von Eulen verdaut zu werden. Etwas Süßes ist in seiner Art, etwas Verschleiertes, Undefinierbares, item, er passt mir.“ LOTHAR MÜLLER
Robert Walser: Der kleine Tierpark. Herausgegeben von Lucas Marco Gisi und und Reto Sorg. Insel Verlag, Berlin 2014. 160 Seiten, 7 Euro.
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