In dieser romanhaften Autobiographie schreibt Stefan Andres mit hinreißendem Einfallsreichtum und Humor über seine Kindheit. Als jüngstes von sechs Geschwistern erlebt der kleine Steff eine Zeit voller Spannungen zwischen seiner neugierigen Lust auf das Leben und den Hemmungen enger religiöser und konventioneller Grenzen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2012Es gibt kein Patentrezept für die Gegenwart und auch nicht für die Zukunft
Von den fatalen Beziehungen zwischen den Menschen und der Politik: Der Wallstein Verlag versucht das Werk des Dichters Stefan Andres dem Gestern zu entreißen.
Dem Namen Stefan Andres sind wohl alle literarisch interessierten Bürger unseres Landes irgendwo, irgendwann begegnet. Aber kennen sie auch die Bücher dieses Schriftstellers? Einige Literaturfreunde gewiss, die Mehrheit möglicherweise nicht. Doch wenn es so wäre, läge das sicherlich nur in wenigen Fällen daran, dass die Bereitschaft zum Lesen geringer war als das Bedürfnis, als Leser eines anerkannten Dichters von dessen Glamour auch ein bisschen abzubekommen.
Man kommt der Realität näher, wenn man sie in des Schriftstellers Lebenszeit sucht: Stefan Andres wurde 1906 geboren, geriet als junger Erwachsener in das politisch-moralische Chaos der Hitler-Ära und vor allem unter den Druck der braunen Zensur. Und er ist 1970 gestorben, ihm blieb nach den verheerenden Kriegs- und den bitteren Nachkriegsjahren nicht übermäßig viel Zeit, vielleicht auch nicht mehr allzu viel Kraft, um auszugleichen, was die Diktatur angerichtet hatte.
Dass er es versuchte, und zwar auch schon in den peinlichen zwölf Hitler-Jahren, davon zeugen jene Buchausgaben, die in unserer Gegenwart erscheinen. Was uns die Herausgeber der Buchausgaben vorlegen, zeugt vom Respekt vor dem Wort- und Gedankenkünstler, den sie betreuen. Und vom Verantwortungsgefühl gegenüber einem Mitmenschen, dem nicht genügend Zeit blieb zu sagen, was er unbedingt noch sagen, auf jeden Fall aber deutlicher als bisher zur Sprache bringen wollte: zum Beispiel die Fülle fataler Beziehungen zwischen Menschenschicksal und Politik. Diese Aufklärungsarbeit und noch viel mehr leisten nun die Herausgeber in ihren Anteilen an den Editionen. Zusammenfassend ließe sich sagen: Wenn man alles sorgsam studiert, was sie dem Leser an Hintergrundwissen bieten, dann kennt man sich in deutscher Politik- und deutscher Literaturgeschichte genügend aus, um sich für den Rest der Lektüre dem eigentlichen Genuss hinzugeben, den ein Buch bereiten kann - nämlich sich durch spannende Fabeln und kluge Metaphern belehren und zugleich gut unterhalten zu lassen.
Die etwas ältere Andres-Ausgabe versammelt "Prosa aus den Jahren 1933 bis 1945", gibt also einen Überblick über jene Zeit, in der das Schaffen deutscher Schriftsteller zum riskanten Balanceakt wurde - wenn es überhaupt noch möglich war. Liest man die Andres-Geschichten, so stößt man immer wieder auf Passagen, die eine funktionierende nationalsozialistische Zensur eigentlich nicht hätte durchlassen dürfen. Dies besonders nicht bei einem Autor, der 1932 eine Halbjüdin geheiratet und sich auch dann nicht von ihr getrennt hatte, als ihm nach 1933 die nun herrschende Weltanschauung schmerzhaft deutlich geworden war. Schließlich verstieß ihn 1937 die Reichsschrifttumskammer, was die Erteilung von Aufträgen, folglich auch die Zahlung von Honoraren nicht eben förderte. Wovon sollten die Eltern Andres und ihre Kinder leben?
Es bot zwar Hilfe, aber beileibe keinen Ausgleich, dass Stefan Andres viele Jahre im Ausland verbrachte, 1934 in Ägypten und in Griechenland, ab 1937 - also nach dem Fußtritt aus der Reichsschrifttumskammer - im italienischen Positano. In jenen Jahren erschien auch in Deutschland hin und wieder eine seiner Geschichten, manchmal begleitet von der Empfehlung eines Literatur-Funktionärs.
Entsprangen solche Freundlichkeiten dem Fehlschluss, des Autors Kritik an Person und Gesinnung gelte immer nur dem Fremden, dem Nichtdeutschen, den seine jeweils neue Geschichte gerade vorführte, und sei kein Spiegelbild deutschen Wesens, gar deutscher Zustände? Eine derartige Blindheit, echt oder vorgetäuscht, konnte es durchaus gegeben haben. Sicherer aber wäre der Schluss, dass Hitlers Diktatur nur über sechs Friedensjahre verfügte, um zum vollendeten Schrecken zu reifen. Andere Politmodelle hatten dafür mehr Zeit. Stalin zum Beispiel blieben siebzehn Jahre, von Lenins Tod 1924 bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941, um die stählerne Basis für sein Gewaltreich zu schmieden. Hätte - Gott behüte! - Hitler seinen Krieg gewonnen, dann hätte er, nach zwölf Jahren Arbeit daran, in Sachen vollendetes Grauen mit Stalin absolut konkurrieren können.
Die Deutschen mussten zum Glück solchen Wettbewerb, gar Hitlers Wett-Sieg, nicht erleben. Und Stefan Andres musste nicht darüber schreiben, weder verschlüsselt noch offen. Stattdessen hinterließ er uns einen Roman mit dem Titel "Der Knabe im Brunnen", und der füllt das andere Buch, das der Wallstein Verlag jetzt herausbrachte. Die Handlung ist, wie so vieles im Schaffen Andres', aus dem eigenen Leben geschöpft. Das heißt, der Dichter erzählt seine Jugendgeschichte, geschmückt mit den märchenhaften Träumen, die ihm einst durch den Kinderkopf wehten, und angesiedelt in der Realität vor dem Ersten Weltkrieg und zur Kriegszeit. Wann genau Andres seine Schreckmärchen aus der Bauernheimat rund um Trier zu Papier brachte, geht aus den Mitteilungen des Verlages nicht hervor. Die Erstausgabe jedenfalls erschien 1953, also zu einer Zeit, da Hitler nur noch Erinnerung war und Deutschland - wenigstens dessen Westen - ein Ursprungsland, das sich nicht mehr nach Macht sehnte, sondern nach Frieden und Wirtschaftswunder.
Der Roman freilich reicht, wie schon gesagt, noch weiter zurück. Die Erzählweise des Autors, die den Leser durch das Buch begleitet wie ein sanft murmelnder Bach den Wandersmann, führt uns abwechselnd ins Vergangene und wieder ins Jetzt, lässt ferne Kinderwelten neu erstehen und das Kommende teils ersehnen, teils fürchten. Eine Erkenntnis jedoch verkündet diese Lektüre mit dem Nachdruck der Gewissheit: Es gibt kein Patentrezept zur Herstellung einer erträglichen Gegenwart oder einer besseren Zukunft. Diese Werte muss man sich erarbeiten, in jeder Generation neu. Man muss es für sich selbst tun, aber nicht minder für die anderen. Eine Menschengesellschaft, deren Mitglieder einander Hilfe und Sicherheit bieten, ist genau das, was die Roman- und Novellenhelden erstreben, selbst wenn sie das nicht immer vordergründig auszudrücken wissen. Das gilt, wie für alle große Dichtung, auch für die Meistergeschichten von Stefan Andres.
SABINE BRANDT
Stefan Andres: "Der Knabe im Brunnen". Roman.
Hrsg. von Christa Basten und Hermann Erschens. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 314 S., geb., 28,- [Euro].
Stefan Andres: "Wir sind Utopia". Prosa aus den Jahren 1933 - 1945.
Hrsg. von Erwin Rotermund und Heidrun Ehrke-Rotermund. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 314 S., geb., 28,- [Euro].
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Von den fatalen Beziehungen zwischen den Menschen und der Politik: Der Wallstein Verlag versucht das Werk des Dichters Stefan Andres dem Gestern zu entreißen.
Dem Namen Stefan Andres sind wohl alle literarisch interessierten Bürger unseres Landes irgendwo, irgendwann begegnet. Aber kennen sie auch die Bücher dieses Schriftstellers? Einige Literaturfreunde gewiss, die Mehrheit möglicherweise nicht. Doch wenn es so wäre, läge das sicherlich nur in wenigen Fällen daran, dass die Bereitschaft zum Lesen geringer war als das Bedürfnis, als Leser eines anerkannten Dichters von dessen Glamour auch ein bisschen abzubekommen.
Man kommt der Realität näher, wenn man sie in des Schriftstellers Lebenszeit sucht: Stefan Andres wurde 1906 geboren, geriet als junger Erwachsener in das politisch-moralische Chaos der Hitler-Ära und vor allem unter den Druck der braunen Zensur. Und er ist 1970 gestorben, ihm blieb nach den verheerenden Kriegs- und den bitteren Nachkriegsjahren nicht übermäßig viel Zeit, vielleicht auch nicht mehr allzu viel Kraft, um auszugleichen, was die Diktatur angerichtet hatte.
Dass er es versuchte, und zwar auch schon in den peinlichen zwölf Hitler-Jahren, davon zeugen jene Buchausgaben, die in unserer Gegenwart erscheinen. Was uns die Herausgeber der Buchausgaben vorlegen, zeugt vom Respekt vor dem Wort- und Gedankenkünstler, den sie betreuen. Und vom Verantwortungsgefühl gegenüber einem Mitmenschen, dem nicht genügend Zeit blieb zu sagen, was er unbedingt noch sagen, auf jeden Fall aber deutlicher als bisher zur Sprache bringen wollte: zum Beispiel die Fülle fataler Beziehungen zwischen Menschenschicksal und Politik. Diese Aufklärungsarbeit und noch viel mehr leisten nun die Herausgeber in ihren Anteilen an den Editionen. Zusammenfassend ließe sich sagen: Wenn man alles sorgsam studiert, was sie dem Leser an Hintergrundwissen bieten, dann kennt man sich in deutscher Politik- und deutscher Literaturgeschichte genügend aus, um sich für den Rest der Lektüre dem eigentlichen Genuss hinzugeben, den ein Buch bereiten kann - nämlich sich durch spannende Fabeln und kluge Metaphern belehren und zugleich gut unterhalten zu lassen.
Die etwas ältere Andres-Ausgabe versammelt "Prosa aus den Jahren 1933 bis 1945", gibt also einen Überblick über jene Zeit, in der das Schaffen deutscher Schriftsteller zum riskanten Balanceakt wurde - wenn es überhaupt noch möglich war. Liest man die Andres-Geschichten, so stößt man immer wieder auf Passagen, die eine funktionierende nationalsozialistische Zensur eigentlich nicht hätte durchlassen dürfen. Dies besonders nicht bei einem Autor, der 1932 eine Halbjüdin geheiratet und sich auch dann nicht von ihr getrennt hatte, als ihm nach 1933 die nun herrschende Weltanschauung schmerzhaft deutlich geworden war. Schließlich verstieß ihn 1937 die Reichsschrifttumskammer, was die Erteilung von Aufträgen, folglich auch die Zahlung von Honoraren nicht eben förderte. Wovon sollten die Eltern Andres und ihre Kinder leben?
Es bot zwar Hilfe, aber beileibe keinen Ausgleich, dass Stefan Andres viele Jahre im Ausland verbrachte, 1934 in Ägypten und in Griechenland, ab 1937 - also nach dem Fußtritt aus der Reichsschrifttumskammer - im italienischen Positano. In jenen Jahren erschien auch in Deutschland hin und wieder eine seiner Geschichten, manchmal begleitet von der Empfehlung eines Literatur-Funktionärs.
Entsprangen solche Freundlichkeiten dem Fehlschluss, des Autors Kritik an Person und Gesinnung gelte immer nur dem Fremden, dem Nichtdeutschen, den seine jeweils neue Geschichte gerade vorführte, und sei kein Spiegelbild deutschen Wesens, gar deutscher Zustände? Eine derartige Blindheit, echt oder vorgetäuscht, konnte es durchaus gegeben haben. Sicherer aber wäre der Schluss, dass Hitlers Diktatur nur über sechs Friedensjahre verfügte, um zum vollendeten Schrecken zu reifen. Andere Politmodelle hatten dafür mehr Zeit. Stalin zum Beispiel blieben siebzehn Jahre, von Lenins Tod 1924 bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941, um die stählerne Basis für sein Gewaltreich zu schmieden. Hätte - Gott behüte! - Hitler seinen Krieg gewonnen, dann hätte er, nach zwölf Jahren Arbeit daran, in Sachen vollendetes Grauen mit Stalin absolut konkurrieren können.
Die Deutschen mussten zum Glück solchen Wettbewerb, gar Hitlers Wett-Sieg, nicht erleben. Und Stefan Andres musste nicht darüber schreiben, weder verschlüsselt noch offen. Stattdessen hinterließ er uns einen Roman mit dem Titel "Der Knabe im Brunnen", und der füllt das andere Buch, das der Wallstein Verlag jetzt herausbrachte. Die Handlung ist, wie so vieles im Schaffen Andres', aus dem eigenen Leben geschöpft. Das heißt, der Dichter erzählt seine Jugendgeschichte, geschmückt mit den märchenhaften Träumen, die ihm einst durch den Kinderkopf wehten, und angesiedelt in der Realität vor dem Ersten Weltkrieg und zur Kriegszeit. Wann genau Andres seine Schreckmärchen aus der Bauernheimat rund um Trier zu Papier brachte, geht aus den Mitteilungen des Verlages nicht hervor. Die Erstausgabe jedenfalls erschien 1953, also zu einer Zeit, da Hitler nur noch Erinnerung war und Deutschland - wenigstens dessen Westen - ein Ursprungsland, das sich nicht mehr nach Macht sehnte, sondern nach Frieden und Wirtschaftswunder.
Der Roman freilich reicht, wie schon gesagt, noch weiter zurück. Die Erzählweise des Autors, die den Leser durch das Buch begleitet wie ein sanft murmelnder Bach den Wandersmann, führt uns abwechselnd ins Vergangene und wieder ins Jetzt, lässt ferne Kinderwelten neu erstehen und das Kommende teils ersehnen, teils fürchten. Eine Erkenntnis jedoch verkündet diese Lektüre mit dem Nachdruck der Gewissheit: Es gibt kein Patentrezept zur Herstellung einer erträglichen Gegenwart oder einer besseren Zukunft. Diese Werte muss man sich erarbeiten, in jeder Generation neu. Man muss es für sich selbst tun, aber nicht minder für die anderen. Eine Menschengesellschaft, deren Mitglieder einander Hilfe und Sicherheit bieten, ist genau das, was die Roman- und Novellenhelden erstreben, selbst wenn sie das nicht immer vordergründig auszudrücken wissen. Das gilt, wie für alle große Dichtung, auch für die Meistergeschichten von Stefan Andres.
SABINE BRANDT
Stefan Andres: "Der Knabe im Brunnen". Roman.
Hrsg. von Christa Basten und Hermann Erschens. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 314 S., geb., 28,- [Euro].
Stefan Andres: "Wir sind Utopia". Prosa aus den Jahren 1933 - 1945.
Hrsg. von Erwin Rotermund und Heidrun Ehrke-Rotermund. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 314 S., geb., 28,- [Euro].
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