Julien, vier Jahre alt, spricht nicht, mit niemandem. Er darf nichts preisgeben, vor allem nicht seinen Plan, zum eigenen Ursprung zurückzukehren, zurück in den Mutterleib, zurück in sein verlorenes Königreich. Die Welt der Gleichaltrigen interessiert ihn nicht, ihre Spiele widern ihn an. Doch als er sechs wird, beschließt Julien, seine einsame Festung zu verlassen. In einem unerhörten Kraftakt trennt er sich von Julien und wird zu Hugo, einem Jungen, der spricht und doch radikal anders bleibt als die Welt und die Menschen, die ihn umgeben. Hugo Horiot ist es gelungen, mit Asperger-Syndrom selbstbestimmt und frei zu leben. In diesem Buch gibt er dem Kind, das er war, eine literarische Stimme.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2016Vom Gesang der Abflussrohre
"Ich heiße Julien. Julien Hugo Sylvestre Horiot, aber man nennt mich Julien. Ich bin vier Jahre alt und viel zu brav. Wenn mir etwas nicht passt, werde ich wütend. Viel zu wütend. Und dann schreie ich, aber ohne Worte. Ich spreche nicht. Ich wiederhole oft immer gleiche Gesten." Was der Junge zu Beginn von Hugo Horiots Buch "Der König bin ich" beschreibt, ist das Asperger-Syndrom, eine milde Variante von Autismus. Das Wort fällt erst im Nachwort von Françoise Lefèvre, der Schriftstellerin und Mutter des Autors. Horiot selbst hütet sich, es in den Mund zu nehmen: Er begnügt sich mit einer präzisen Beschreibung.
Der 1982 Geborene berichtet von seiner Kindheit in einem burgundischen Dorf. Der Band, zwischen Erzählung und Erfahrungsbericht angesiedelt, hat die große Stärke, einen Innenblick auf eine eigenartige Welt zu gewähren: "Und ich drehe an Rädern. Sooft es geht, von morgens bis abends. Die ganze Welt dreht sich, also mache ich mit. Ich gebe den Pulsschlag der verstreichenden Zeit an." In szenischen Beschreibungen, die lose chronologisch fortschreiten, beleuchtet Horiot die Verbindung aus klarer Logik und obskuren Motiven, welche Denken und Verhalten des Jungen zugrunde liegt. Er gibt zu verstehen, wie das stundenlange Räderdrehen oder das Horchen an Abflussrohren lebenswichtig werden kann oder warum Julien schreit, wenn Tauben gurren: "Sei still, Turteltaube! Hör auf, mich an mein Menschsein, an mein Gefangensein zu erinnern. Du bist frei, kannst fliegen und singen. Und ich kann weder das eine noch das andere."
Passagen wie diese zeigen, dass die literarische Qualität nicht immer gehalten wird. Überzeugender ist Horiots Text als Bericht vom Zweifrontenkampf: gegen eine wenig verständnisvolle Umwelt und gegen sich selbst. Härter als der äußere Feind, starre Institutionen und intolerante Mitschüler, ist der Feind im Inneren: Julien, der Purist, der Separatist, der von einer Loslösung von der Außenwelt träumt, will besiegt werden. Langsam gelingt es Horiot, Abstand zu sich zu gewinnen. Er lernt, zu reden, zu lachen, sich zu verteidigen. Heute ist Horiot Schauspieler, Regisseur, Schriftsteller und hat einen doppelten Sieg errungen: die Krankheit einzuhegen und andere in sie schlüpfen zu lassen wie in ein Kostüm aus Worten.
nibe.
Hugo Horiot: "Der König bin ich". Aus dem Französischen von Bettina Bach. Hanser Verlag, Berlin 2015. 172 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ich heiße Julien. Julien Hugo Sylvestre Horiot, aber man nennt mich Julien. Ich bin vier Jahre alt und viel zu brav. Wenn mir etwas nicht passt, werde ich wütend. Viel zu wütend. Und dann schreie ich, aber ohne Worte. Ich spreche nicht. Ich wiederhole oft immer gleiche Gesten." Was der Junge zu Beginn von Hugo Horiots Buch "Der König bin ich" beschreibt, ist das Asperger-Syndrom, eine milde Variante von Autismus. Das Wort fällt erst im Nachwort von Françoise Lefèvre, der Schriftstellerin und Mutter des Autors. Horiot selbst hütet sich, es in den Mund zu nehmen: Er begnügt sich mit einer präzisen Beschreibung.
Der 1982 Geborene berichtet von seiner Kindheit in einem burgundischen Dorf. Der Band, zwischen Erzählung und Erfahrungsbericht angesiedelt, hat die große Stärke, einen Innenblick auf eine eigenartige Welt zu gewähren: "Und ich drehe an Rädern. Sooft es geht, von morgens bis abends. Die ganze Welt dreht sich, also mache ich mit. Ich gebe den Pulsschlag der verstreichenden Zeit an." In szenischen Beschreibungen, die lose chronologisch fortschreiten, beleuchtet Horiot die Verbindung aus klarer Logik und obskuren Motiven, welche Denken und Verhalten des Jungen zugrunde liegt. Er gibt zu verstehen, wie das stundenlange Räderdrehen oder das Horchen an Abflussrohren lebenswichtig werden kann oder warum Julien schreit, wenn Tauben gurren: "Sei still, Turteltaube! Hör auf, mich an mein Menschsein, an mein Gefangensein zu erinnern. Du bist frei, kannst fliegen und singen. Und ich kann weder das eine noch das andere."
Passagen wie diese zeigen, dass die literarische Qualität nicht immer gehalten wird. Überzeugender ist Horiots Text als Bericht vom Zweifrontenkampf: gegen eine wenig verständnisvolle Umwelt und gegen sich selbst. Härter als der äußere Feind, starre Institutionen und intolerante Mitschüler, ist der Feind im Inneren: Julien, der Purist, der Separatist, der von einer Loslösung von der Außenwelt träumt, will besiegt werden. Langsam gelingt es Horiot, Abstand zu sich zu gewinnen. Er lernt, zu reden, zu lachen, sich zu verteidigen. Heute ist Horiot Schauspieler, Regisseur, Schriftsteller und hat einen doppelten Sieg errungen: die Krankheit einzuhegen und andere in sie schlüpfen zu lassen wie in ein Kostüm aus Worten.
nibe.
Hugo Horiot: "Der König bin ich". Aus dem Französischen von Bettina Bach. Hanser Verlag, Berlin 2015. 172 S., geb., 18,90 [Euro].
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"Eine furiose und poetische Abrechnung mit Institutionen und Personen, die Autisten das Leben erschweren." Sigrid Brinkmann, Deutschlandradio Kultur, 14.09.15