Schillers Todestag jährt sich im Mai 2005 zum 200. Mal - ein Jubiläum, das die üblichen publizistischen Feierlichkeiten und Weihen nach sich zieht. Burkhard Müller will den Untiefen der Jubiläumsliteratur entgehen. Weder läßt er Schiller ein weiteres biographisches Begräbnis erster Klasse zuteil werden. Noch tut er ihn als "Idealisten" ab, also als sympathischen Spinner. Stattdessen geht er von dem aus, was Schillers Größe ausmacht: der leidenschaftlichen Sprache des Dichters, in der er seine Bühnenfiguren erschafft und sie zu ihren Taten vorantreibt. Wie in seinem dramatischen Werk läßt Schiller sich auch in seinen philosophischen und historischen Schriften vom szenischen Sprachdenken fortreißen, halsbrecherisch kommen seine Thesen daher; sie gleichen Verschwörungen des Geistes, wobei der ausgefuchste Plan immerfort durch die kühne Improvisation überholt wird. "Wie oft habe ich den Regisseur verflucht, der die Schauspieler, die ersichtlich ihr Handwerk könnten, wenn man sie nur ließe, für seine Mätzchen verbrät wie ein stümperhafter Koch, der aus lauter erstklassigen Zutaten einen Fraß anrichtet und dafür gar noch gelobt werden will! Das Theater wird nur dann eine Zukunft haben, wenn es wieder zum Theater der Schauspieler wird und dem Regisseur den Platz anweist, der ihm zukommt, irgendwo zwischen Garderobenfrau und Beleuchter" (Burkhard Müller)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2005Klassiker, entkoffeiniert
Wiederbelebungsversuche: Was uns das Schiller-Jahr beschert hat
Jubeljahre sind freundliche Einladungen, aufs Ganze zu gehen, ohne daß man sich umständlich rechtfertigen muß. Ungebunden wie Solitäre, die nichts voneinander wissen (wollen), kommen so die Beiträge zum Schiller-Jahr daher. Gern verzichtet man auf Auskünfte über Forschungslagen und verbannt die Fachliteratur ins Schattendasein des Anhangs. Ein unverbrauchter, ein frischer Schiller soll es sein, nicht unbedingt einer für Kenner. Übrigens ist er durchweg erfreulich wohlfeil.
Burkhard Müller gibt sich als Essayist, der die Nachteile der Historie von vornherein kassiert - wie Neuerscheinungen möchte er Schillers Werke betrachten. Naturgemäß interessiert dann der Privatmann ebensowenig wie der "Idealist" ("ganz nett, ein bißchen verschroben vielleicht") oder zeitgenössische Zusammenhänge. So entsteht der Freiraum für ein paar behende und lesenswerte Streifzüge. Müller liebt starke Urteile, die nicht immer neu sein müssen. Der Lyriker Schiller ist ihm ein Graus, ausgenommen die "Nänie", der Müller, ein Metriker der feinen Observanz, ein paar vorzügliche Seiten widmet. Auch die Ballade muß als Irrweg gelten, stellt sie sich doch jünger und dümmer, als man ist. "Die Bürgschaft" ist deshalb gleich siebenfach "tot", um so trauriger, daß die beiden Klassiker mit ihren Balladen "eine Volksausgabe ihrer selbst" herausgebracht haben. Bleibt für die Gattung nur die Aufgabe, die ihr denn auch zu Recht zugefallen ist: Training des Gedächtnisses. Fasziniert zeigt sich Müller von der rhetorischen Eleganz des Dramatikers. Hier nimmt er es sogar mit den bekannten Voten Adornos auf ("Schwabenstreiche"). Müller schätzt (und zeigt) insbesondere den Witz und die Rapidität des "Fiesko" - ohne daß der Begriff fällt, hat er dabei den Manieristen Schiller beschrieben, und dies vorzüglich.
Der Antimelancholiker
Eine Größe schon, doch eine problematische, so hält es Müller mit Schiller. Und nach und nach treten die problematischen Züge hervor. Sie konzentrieren sich in einer vermeintlichen Mißachtung des Individuums zugunsten des Großen Allgemeinen und entlocken Müller ein ganzes Register an Schmähungen: "Frechheit", "Phantasielosigkeit", "Potential des Teuflischen". Im Zentrum der Anklage steht die Jenaer Antrittsrede von 1789, also das Konzept der Universalhistorie - hier nun muß Schiller offenkundig für eine ganze Phalanx von Geschichtsphilosophen büßen. Fragt sich nur, ob damit der Richtige getroffen ist. Daß auch das Erhabene sogleich Müllers Zorn verfällt, versteht sich von selbst. So ist es ja üblich, nichts ist der Gegenwart fremder und anstößiger als dieses Theorem. Schade nur, daß Müller (wie viele andere) das Befremdliche gar nicht erst verständlich zu machen sucht, sondern gleich dem Vorurteil preisgibt.
Ohne sich mit Vorreden und Absichtserklärungen aufzuhalten, erzählt Friedrich Dieckmann die Emanzipationsgeschichte des jungen Schiller, die fünf Jahre von der Flucht aus Stuttgart bis zur Abreise aus dem Zirkel der sächsischen Freunde. Und man darf sich daran erinnern, daß etwa zur gleichen Zeit (und nicht ohne Parallelen) Wilhelm Meister seine Romanlaufbahn absolviert. Allerdings ist Dieckmann nicht Erzähler, sondern Analytiker. Neue Quellen stehen ihm nicht zur Verfügung. Eigene Recherchen kompensiert er durch lange Exkurse, leider durchweg aus zweiter Hand, die allerlei historische Bezugsfelder öffnen, so die Freimaurerei (Schiller war einer der ganz wenigen Intellektuellen, "die nicht in die Partei eintraten, die Kaderorganisation des allgemeinen Fortschritts") oder das spätaufklärerische Schwärmerwesen.
Die Markierungen für den Weg des jungen Schiller liefert freilich der Fundus der Psychoanalyse. Man ist überrascht, wie umstandslos Dieckmann das Personal der frühen Stücke, lauter "Selbstprojektionen", mit der psychoanalytisch-ödipalen Szene verrechnet. Das ergibt viele Gleichheitszeichen. Dazu kommt, wohl aus der Goethe-Biographik importiert, das Inzest-Motiv, die "Tiefenbindung" an die Schwester Christophine. Deshalb also töten die frühen Helden Schillers jeweils ihre Geliebte - die Tabuschranke verhindert jede Vereinigung. Und deshalb wird der "Don Karlos" zur großen Therapie, der die "inzestuöse Selbstblockade" überwindet und den Bann der Väter und Überväter zerbricht.
Lieber folgt man dem zweiten Leitmotiv, das Dieckmann ins Spiel bringt: "Schiller ist der Inbegriff eines antimelancholischen Poeten." Die übliche Fixierung auf allerlei Miseren wird damit abgewehrt. Das Lied an die Freude darf den Ton angeben und mit ihm eine "Theologie der Freude", ein "Evangelium der Lebensbejahung". Deshalb auch findet der "Idealist" bei Dieckmann keine Gnade, der ist zu ernst und zu "anämisch". Tatsächlich ist sein Schiller witzig, heiter, humorvoll. Als Zeugnis des puren Übermuts druckt Dieckmann einen wenig bekannten Comic ab: "Aventiuren des neuen Telemachs oder Leben und Exsertionen Koerners" - Bilder von Schiller (darunter er selbst, einen Purzelbaum schlagend), Texte von Huber, verfertigt zum dreißigsten Geburtstag von Freund Körner. Die aufgeräumte Stimmung ergreift gelegentlich auch den Biographen. "Im übrigen mopst er sich fürchterlich" - ein solcher Satz ist in der Schiller-Literatur nicht eben üblich.
Undenkbar wäre er bei Kurt Wölfel. Denn Wölfel ist nicht nur ein Wortsparer, der es fertigbringt, den ganzen Schiller auf 180 Seiten zu präsentieren, er besitzt auch ein sicheres Gefühl für die alte Regel der Angemessenheit von Stil und Sache. Und das heißt, gleich die erste Seite, gehauen und gestochen wie ein Manifest, zeigt es: Wölfel läßt sich Schillers Größe und seinen Idealismus nicht einfach von "unserem Knirpstum" (Jacob Burckhardt) streitig machen, er läßt die Würde seines Gegenstandes gelten. Das ist nobel, ohne im geringsten altbacken zu wirken (auch das kann vorkommen: "Louise Miller ist an erotischer Ausstrahlung ein Kirchenlicht"). So schrieb man, als die Germanistik noch etwas galt - und sie galt etwas, weil man so zu schreiben verstand.
Nicht etwa, daß Wölfel mit einem neuen "Schillerbild" auftrumpfte. Doch er befreit Schiller aus Verkrustungen, die durch jahrhundertelange Abnutzung entstanden sind. Bis zur ödesten Floskelhaftigkeit heruntergekommene Zitate gewinnen in Wölfels bestimmten Argumentationsgängen ihr ursprüngliches Leben zurück. Vivifizierung nannte Novalis ein solches Verfahren. Man versteht, warum Schiller gern in eigener Sache Leisewitz zitierte: "In meinen Gebeinen ist Mark für Jahrhunderte." Man lernt das Spiel der intellektuellen, erotischen, moralischen und poetischen Energien kennen. Auf wenigen Seiten wird man doch umstandslos und ohne lästige Paraphrasen in die Zentren der Schillerschen Werke eingeweiht. Wölfels Loyalität seinem Autor gegenüber läßt auch dort nicht nach, wo es schwer wird - vor der späten Dramatik nach dem "Wallenstein", die meisterhaft umrissen wird, angesichts der Lyrik mit ihrer "populären Klassizität", die freilich besonders kurz wegkommt, oder im Blick auf den Theoretiker der ästhetischen Erziehung. Allenthalben bewegt sich Wölfel (implizit) auf dem neuesten Forschungsstand, ohne an Verständlichkeit einzubüßen.
Luzide kommt so die Verbindung von Geschichtsphilosophie und Ästhetik heraus. Treffend, wie Wölfel Schillers Prosa zum Schauplatz von Begriffskriegen macht. Oder wie er das "Höhenbewußtsein" des Klassikers, das Kollegen und Publikum mit Kriegserklärungen überzog, aus einer durchaus uneitlen "Künstlermoral" herleitet. Wer die Lust an Schiller bereits verloren hat oder wer sie noch sucht, dem kann geholfen werden: Er lese Wölfels Porträt (und dann Schiller).
Wer gründlich belehrt werden möchte, der greife zu Norbert Oellers. Wenn der vielfach bewährte Altmeister der Schiller-Forschung, der gerade auch den Briefwechsel Schillers mit seinem Widersacher August Wilhelm Schlegel mustergültig herausgebracht hat, eine umfangreiche Monographie vorlegt, dann walten Kennerschaft und Zuverlässigkeit in Person. Ordentlich folgen auf etwa einhundert Seiten "Leben" vierhundert Seiten "Werke". An illusionsloser Nüchternheit läßt sich Oellers nicht übertreffen - als einer der besten Kenner von Schillers Wirkungsgeschichte hat er die falsche Begeisterung hassen gelernt. Ein dekoffeinierter Schiller gewissermaßen - so das Lockangebot für Zeitgenossen, die Pathos und Langeweile fürchten. Die Herabstimmung bringt gelegentlich regelrechte Anti-Pathos-Formeln hervor: "und Fiesko spricht Hochpathetisches über Gott, die Natur, das Schicksal"; den Schluß von "Kabale und Liebe" dehnt Schiller, "um seinem Publikum mancherlei Dramatisches vorzuspielen und ihm einige Wahrheiten zu sagen"; "So geht's dann weiter" - die Rede vom Schicksal im "Wallenstein" nämlich. Niemand muß bei Oellers befürchten, daß er ins Schlepptau eines Idealisten gerät. Das "Lied an die Freude" findet Oellers herzlich schlecht. Den Begriff der Freiheit läßt er ganz im Hintergrund.
Zerfall der Universalgeschichte
Natürlich räumt Oellers den philosophischen Schriften passablen Raum ein, richtig wohl aber fühlt er sich in der "philosophischen Bude" nicht. Da wird Überspanntes moniert und zurechtgerückt, das Erhabene, natürlich, in seine Schranken gewiesen, die Idee der ästhetischen Erziehung als nicht von dieser Welt hingestellt. Wo Schiller gut ist, ist er realistisch. Das Zauberwort lautet "realistische Wende". Dazu bedarf es des Zusammenbruchs der Universalgeschichte und eines düsteren Geschichtspessimismus nach der revolutionären Enttäuschung - des "Elends der Geschichte". Erst dann kann der "Wallenstein" entstehen, das Meisterwerk schlechthin.
Im Weltzustand, der (mit einer Wendung zur Jungfrau von Orleans) "von den Göttern desertiert" ist, hilft aber dann einzig und allein die Kunst, eine "transzendierende Kunst". Deshalb "Glanz der Kunst". So wird die (nicht ganz eindeutige) Rede vom ernsten Leben und der heiteren Kunst für Oellers zu einer Art Generalschlüssel zu Schillers Welt. Zermalmende Geschichte und ästhetisches Reich - ein Kreuzungspunkt zeichnet sich ab, dessen Linien zu Büchner und zu Stefan George führen. Dem Rezensenten will es allerdings vorkommen, als würden solche modernen Assoziationen und Markierungen zu früh vergeben. Schiller bleibt ein Aufklärer, der nicht verzagt. Und er bleibt ein Künstler, der nicht zum Ästhetizismus desertiert. Wie dem auch sei: Der Schiller, den Oellers bietet, unruhig und beunruhigend, hat das Zeug zum Zeitgenossen.
Burkhard Müller: "Der König hat geweint". Schiller und das Drama der Weltgeschichte. zu Klampen Verlag, Springe 2005. 160 S., geb., 14,- [Euro].
Friedrich Dieckmann: "Diesen Kuß der ganzen Welt!" Der junge Mann Schiller. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2005. 450 S., 14 Farbtaf., geb., 22,90 [Euro].
Kurt Wölfel: "Friedrich Schiller". Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004 (dtv portrait). 187 S., br., 10,- [Euro].
Norbert Oellers: "Schiller". Elend der Geschichte, Glanz der Kunst. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 2005. 520 S., 38 Abb., geb., 19,90 [Euro].
Friedrich Schiller, August Wilhelm Schlegel: "Der Briefwechsel". Hrsg. von Norbert Oellers. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2005. 248 S., Reprint von 8 Briefen, geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wiederbelebungsversuche: Was uns das Schiller-Jahr beschert hat
Jubeljahre sind freundliche Einladungen, aufs Ganze zu gehen, ohne daß man sich umständlich rechtfertigen muß. Ungebunden wie Solitäre, die nichts voneinander wissen (wollen), kommen so die Beiträge zum Schiller-Jahr daher. Gern verzichtet man auf Auskünfte über Forschungslagen und verbannt die Fachliteratur ins Schattendasein des Anhangs. Ein unverbrauchter, ein frischer Schiller soll es sein, nicht unbedingt einer für Kenner. Übrigens ist er durchweg erfreulich wohlfeil.
Burkhard Müller gibt sich als Essayist, der die Nachteile der Historie von vornherein kassiert - wie Neuerscheinungen möchte er Schillers Werke betrachten. Naturgemäß interessiert dann der Privatmann ebensowenig wie der "Idealist" ("ganz nett, ein bißchen verschroben vielleicht") oder zeitgenössische Zusammenhänge. So entsteht der Freiraum für ein paar behende und lesenswerte Streifzüge. Müller liebt starke Urteile, die nicht immer neu sein müssen. Der Lyriker Schiller ist ihm ein Graus, ausgenommen die "Nänie", der Müller, ein Metriker der feinen Observanz, ein paar vorzügliche Seiten widmet. Auch die Ballade muß als Irrweg gelten, stellt sie sich doch jünger und dümmer, als man ist. "Die Bürgschaft" ist deshalb gleich siebenfach "tot", um so trauriger, daß die beiden Klassiker mit ihren Balladen "eine Volksausgabe ihrer selbst" herausgebracht haben. Bleibt für die Gattung nur die Aufgabe, die ihr denn auch zu Recht zugefallen ist: Training des Gedächtnisses. Fasziniert zeigt sich Müller von der rhetorischen Eleganz des Dramatikers. Hier nimmt er es sogar mit den bekannten Voten Adornos auf ("Schwabenstreiche"). Müller schätzt (und zeigt) insbesondere den Witz und die Rapidität des "Fiesko" - ohne daß der Begriff fällt, hat er dabei den Manieristen Schiller beschrieben, und dies vorzüglich.
Der Antimelancholiker
Eine Größe schon, doch eine problematische, so hält es Müller mit Schiller. Und nach und nach treten die problematischen Züge hervor. Sie konzentrieren sich in einer vermeintlichen Mißachtung des Individuums zugunsten des Großen Allgemeinen und entlocken Müller ein ganzes Register an Schmähungen: "Frechheit", "Phantasielosigkeit", "Potential des Teuflischen". Im Zentrum der Anklage steht die Jenaer Antrittsrede von 1789, also das Konzept der Universalhistorie - hier nun muß Schiller offenkundig für eine ganze Phalanx von Geschichtsphilosophen büßen. Fragt sich nur, ob damit der Richtige getroffen ist. Daß auch das Erhabene sogleich Müllers Zorn verfällt, versteht sich von selbst. So ist es ja üblich, nichts ist der Gegenwart fremder und anstößiger als dieses Theorem. Schade nur, daß Müller (wie viele andere) das Befremdliche gar nicht erst verständlich zu machen sucht, sondern gleich dem Vorurteil preisgibt.
Ohne sich mit Vorreden und Absichtserklärungen aufzuhalten, erzählt Friedrich Dieckmann die Emanzipationsgeschichte des jungen Schiller, die fünf Jahre von der Flucht aus Stuttgart bis zur Abreise aus dem Zirkel der sächsischen Freunde. Und man darf sich daran erinnern, daß etwa zur gleichen Zeit (und nicht ohne Parallelen) Wilhelm Meister seine Romanlaufbahn absolviert. Allerdings ist Dieckmann nicht Erzähler, sondern Analytiker. Neue Quellen stehen ihm nicht zur Verfügung. Eigene Recherchen kompensiert er durch lange Exkurse, leider durchweg aus zweiter Hand, die allerlei historische Bezugsfelder öffnen, so die Freimaurerei (Schiller war einer der ganz wenigen Intellektuellen, "die nicht in die Partei eintraten, die Kaderorganisation des allgemeinen Fortschritts") oder das spätaufklärerische Schwärmerwesen.
Die Markierungen für den Weg des jungen Schiller liefert freilich der Fundus der Psychoanalyse. Man ist überrascht, wie umstandslos Dieckmann das Personal der frühen Stücke, lauter "Selbstprojektionen", mit der psychoanalytisch-ödipalen Szene verrechnet. Das ergibt viele Gleichheitszeichen. Dazu kommt, wohl aus der Goethe-Biographik importiert, das Inzest-Motiv, die "Tiefenbindung" an die Schwester Christophine. Deshalb also töten die frühen Helden Schillers jeweils ihre Geliebte - die Tabuschranke verhindert jede Vereinigung. Und deshalb wird der "Don Karlos" zur großen Therapie, der die "inzestuöse Selbstblockade" überwindet und den Bann der Väter und Überväter zerbricht.
Lieber folgt man dem zweiten Leitmotiv, das Dieckmann ins Spiel bringt: "Schiller ist der Inbegriff eines antimelancholischen Poeten." Die übliche Fixierung auf allerlei Miseren wird damit abgewehrt. Das Lied an die Freude darf den Ton angeben und mit ihm eine "Theologie der Freude", ein "Evangelium der Lebensbejahung". Deshalb auch findet der "Idealist" bei Dieckmann keine Gnade, der ist zu ernst und zu "anämisch". Tatsächlich ist sein Schiller witzig, heiter, humorvoll. Als Zeugnis des puren Übermuts druckt Dieckmann einen wenig bekannten Comic ab: "Aventiuren des neuen Telemachs oder Leben und Exsertionen Koerners" - Bilder von Schiller (darunter er selbst, einen Purzelbaum schlagend), Texte von Huber, verfertigt zum dreißigsten Geburtstag von Freund Körner. Die aufgeräumte Stimmung ergreift gelegentlich auch den Biographen. "Im übrigen mopst er sich fürchterlich" - ein solcher Satz ist in der Schiller-Literatur nicht eben üblich.
Undenkbar wäre er bei Kurt Wölfel. Denn Wölfel ist nicht nur ein Wortsparer, der es fertigbringt, den ganzen Schiller auf 180 Seiten zu präsentieren, er besitzt auch ein sicheres Gefühl für die alte Regel der Angemessenheit von Stil und Sache. Und das heißt, gleich die erste Seite, gehauen und gestochen wie ein Manifest, zeigt es: Wölfel läßt sich Schillers Größe und seinen Idealismus nicht einfach von "unserem Knirpstum" (Jacob Burckhardt) streitig machen, er läßt die Würde seines Gegenstandes gelten. Das ist nobel, ohne im geringsten altbacken zu wirken (auch das kann vorkommen: "Louise Miller ist an erotischer Ausstrahlung ein Kirchenlicht"). So schrieb man, als die Germanistik noch etwas galt - und sie galt etwas, weil man so zu schreiben verstand.
Nicht etwa, daß Wölfel mit einem neuen "Schillerbild" auftrumpfte. Doch er befreit Schiller aus Verkrustungen, die durch jahrhundertelange Abnutzung entstanden sind. Bis zur ödesten Floskelhaftigkeit heruntergekommene Zitate gewinnen in Wölfels bestimmten Argumentationsgängen ihr ursprüngliches Leben zurück. Vivifizierung nannte Novalis ein solches Verfahren. Man versteht, warum Schiller gern in eigener Sache Leisewitz zitierte: "In meinen Gebeinen ist Mark für Jahrhunderte." Man lernt das Spiel der intellektuellen, erotischen, moralischen und poetischen Energien kennen. Auf wenigen Seiten wird man doch umstandslos und ohne lästige Paraphrasen in die Zentren der Schillerschen Werke eingeweiht. Wölfels Loyalität seinem Autor gegenüber läßt auch dort nicht nach, wo es schwer wird - vor der späten Dramatik nach dem "Wallenstein", die meisterhaft umrissen wird, angesichts der Lyrik mit ihrer "populären Klassizität", die freilich besonders kurz wegkommt, oder im Blick auf den Theoretiker der ästhetischen Erziehung. Allenthalben bewegt sich Wölfel (implizit) auf dem neuesten Forschungsstand, ohne an Verständlichkeit einzubüßen.
Luzide kommt so die Verbindung von Geschichtsphilosophie und Ästhetik heraus. Treffend, wie Wölfel Schillers Prosa zum Schauplatz von Begriffskriegen macht. Oder wie er das "Höhenbewußtsein" des Klassikers, das Kollegen und Publikum mit Kriegserklärungen überzog, aus einer durchaus uneitlen "Künstlermoral" herleitet. Wer die Lust an Schiller bereits verloren hat oder wer sie noch sucht, dem kann geholfen werden: Er lese Wölfels Porträt (und dann Schiller).
Wer gründlich belehrt werden möchte, der greife zu Norbert Oellers. Wenn der vielfach bewährte Altmeister der Schiller-Forschung, der gerade auch den Briefwechsel Schillers mit seinem Widersacher August Wilhelm Schlegel mustergültig herausgebracht hat, eine umfangreiche Monographie vorlegt, dann walten Kennerschaft und Zuverlässigkeit in Person. Ordentlich folgen auf etwa einhundert Seiten "Leben" vierhundert Seiten "Werke". An illusionsloser Nüchternheit läßt sich Oellers nicht übertreffen - als einer der besten Kenner von Schillers Wirkungsgeschichte hat er die falsche Begeisterung hassen gelernt. Ein dekoffeinierter Schiller gewissermaßen - so das Lockangebot für Zeitgenossen, die Pathos und Langeweile fürchten. Die Herabstimmung bringt gelegentlich regelrechte Anti-Pathos-Formeln hervor: "und Fiesko spricht Hochpathetisches über Gott, die Natur, das Schicksal"; den Schluß von "Kabale und Liebe" dehnt Schiller, "um seinem Publikum mancherlei Dramatisches vorzuspielen und ihm einige Wahrheiten zu sagen"; "So geht's dann weiter" - die Rede vom Schicksal im "Wallenstein" nämlich. Niemand muß bei Oellers befürchten, daß er ins Schlepptau eines Idealisten gerät. Das "Lied an die Freude" findet Oellers herzlich schlecht. Den Begriff der Freiheit läßt er ganz im Hintergrund.
Zerfall der Universalgeschichte
Natürlich räumt Oellers den philosophischen Schriften passablen Raum ein, richtig wohl aber fühlt er sich in der "philosophischen Bude" nicht. Da wird Überspanntes moniert und zurechtgerückt, das Erhabene, natürlich, in seine Schranken gewiesen, die Idee der ästhetischen Erziehung als nicht von dieser Welt hingestellt. Wo Schiller gut ist, ist er realistisch. Das Zauberwort lautet "realistische Wende". Dazu bedarf es des Zusammenbruchs der Universalgeschichte und eines düsteren Geschichtspessimismus nach der revolutionären Enttäuschung - des "Elends der Geschichte". Erst dann kann der "Wallenstein" entstehen, das Meisterwerk schlechthin.
Im Weltzustand, der (mit einer Wendung zur Jungfrau von Orleans) "von den Göttern desertiert" ist, hilft aber dann einzig und allein die Kunst, eine "transzendierende Kunst". Deshalb "Glanz der Kunst". So wird die (nicht ganz eindeutige) Rede vom ernsten Leben und der heiteren Kunst für Oellers zu einer Art Generalschlüssel zu Schillers Welt. Zermalmende Geschichte und ästhetisches Reich - ein Kreuzungspunkt zeichnet sich ab, dessen Linien zu Büchner und zu Stefan George führen. Dem Rezensenten will es allerdings vorkommen, als würden solche modernen Assoziationen und Markierungen zu früh vergeben. Schiller bleibt ein Aufklärer, der nicht verzagt. Und er bleibt ein Künstler, der nicht zum Ästhetizismus desertiert. Wie dem auch sei: Der Schiller, den Oellers bietet, unruhig und beunruhigend, hat das Zeug zum Zeitgenossen.
Burkhard Müller: "Der König hat geweint". Schiller und das Drama der Weltgeschichte. zu Klampen Verlag, Springe 2005. 160 S., geb., 14,- [Euro].
Friedrich Dieckmann: "Diesen Kuß der ganzen Welt!" Der junge Mann Schiller. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2005. 450 S., 14 Farbtaf., geb., 22,90 [Euro].
Kurt Wölfel: "Friedrich Schiller". Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004 (dtv portrait). 187 S., br., 10,- [Euro].
Norbert Oellers: "Schiller". Elend der Geschichte, Glanz der Kunst. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 2005. 520 S., 38 Abb., geb., 19,90 [Euro].
Friedrich Schiller, August Wilhelm Schlegel: "Der Briefwechsel". Hrsg. von Norbert Oellers. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2005. 248 S., Reprint von 8 Briefen, geb., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Christoph Türcke hat bei Burkhard Müller mit einigem Vergnügen gelernt, "wie das dramatische Feuer bei Schiller entflammt", und wie man sich als Leser dafür begeistert, anstatt wie üblich ratlos vor dem Klassiker zu stehen. Eine Grunderkenntnis Müllers: Nämliches Feuer räumte bei Schiller nach und nach der "Förmlichkeit" das Feld - vom "Fiasco" zum "Don Carlos". Paradebeispiel der förmlichen Dichtung, die der Autor dennoch nicht gering geschätzt wissen möchte: die Balladen, deren populäres Überleben sich das "unwillkürliche Gedächtnis" zu Nutze macht. Und noch einiges mehr an Erkenntnis steckt in Müllers Buch, versichert Türcke, der seinen "Gedanken- und Metaphernreichtum" lobt und "Kurzweil" beim Lesen verspricht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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