Eine Krone kann man nicht teilen
Zwei Brüder, die wie Könige über eine kleine norwegische Gemeinde herrschen, das lässt schon im Vorhinein ein interessantes und außergewöhnliches Thema für einen Kriminalroman erahnen. Tatsächlich geht Jo Nesbøs neuer Bestseller „Der König“ weit über die Grenzen
des herkömmliches Kriminalromans hinaus. Im Vordergrund der Geschichte stehen die beiden Brüder Roy…mehrEine Krone kann man nicht teilen
Zwei Brüder, die wie Könige über eine kleine norwegische Gemeinde herrschen, das lässt schon im Vorhinein ein interessantes und außergewöhnliches Thema für einen Kriminalroman erahnen. Tatsächlich geht Jo Nesbøs neuer Bestseller „Der König“ weit über die Grenzen des herkömmliches Kriminalromans hinaus. Im Vordergrund der Geschichte stehen die beiden Brüder Roy und Carl, die alles andere als typische rechtschaffene Protagonisten sind, denn ihr Verhalten und ihre Handlungen sind moralisch fragwürdig und in vielerlei Hinsicht skrupellos. Um ihre Ziele zu erreichen, scheuen sie weder vor Manipulation noch vor Mord zurück. Was ihre Taten besonders faszinierend macht, ist die allmähliche Enthüllung ihrer düsteren Vergangenheit. Nach und nach erfahren die Leser von Roys Verbrechen, die der Autor gekonnt in die Haupthandlung einflicht, wodurch ein Spannungsbogen entsteht, der weniger auf actiongeladene Szenen als auf psychologische Tiefe und die schrittweise Enthüllung familiärer Abgründe setzt.
Als Schauplatz dient die Kleinstadt Os im Norden Norwegens, dem eine bedeutende Rolle in der Geschichte zukommt. Die Gemeinde ist nicht einfach nur Kulisse, sondern ein komplexes Gebilde, dessen Bewohner eigene, tragische Geschichten und Geheimnisse verbergen. Neben Roy und Carl werden auch die Nebenfiguren detailliert und authentisch geschildert, was dem Roman eine zusätzliche Ebene der Tiefe verleiht. Die Stadtbewohner sind keine Statisten; sie haben ihre eigenen Lebensträume, Geheimnisse und Abgründe, die Jo Nesbø in zahlreichen kleinen Anekdoten und Rückblenden kunstvoll erzählt. Themen wie Korruption, Missbrauch, Familie, Sport, Achterbahnen, Wirtschaftspolitik und Liebe verweben sich dabei zu einem vielschichtigen Bild, das weniger durch klassische Spannung als durch die Stärke seiner Charakterzeichnungen und Themen überzeugt.
Interessant ist auch die dynamische Entwicklung der Brüder Roy und Carl im Laufe der Handlung. Anfangs wirken sie wie unzertrennliche Verbündete, die gemeinsam für ihre Ziele kämpfen. Doch im Verlauf der Geschichte beginnt diese Verbundenheit zu bröckeln. Die beiden Brüder entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen, ihre Ziele und Wertvorstellungen driften auseinander, und schon bald stehen sie sich als Gegner gegenüber. Die Beziehung der Brüder ist dabei alles andere als das Klischee einer typischen Bruderbeziehung. Auf den ersten Blick scheint vor allem Carl der wahre „König“ von Os zu sein, der charismatisch und ideenreich das Leben in der Kleinstadt dominiert. Doch hinter dieser Fassade ist es vor allem Roy, der die Fäden in der Hand hält. Der stille und loyal wirkende Bruder entwickelt sich zu einem eiskalten Vollstrecker, der keine Grenzen kennt, wenn es darum geht, seine Familie und deren Geheimnisse zu schützen. Dabei wird er jedoch nicht als gefühllose Killermaschine dargestellt. Jo Nesbø gelingt es, die Leser seine Beweggründe und inneren Konflikte verstehen zu lassen, sodass Roys Handlungen im Kontext der Geschichte beinahe nachvollziehbar erscheinen. Trotz seiner Skrupellosigkeit ist er eine komplexe Figur mit einem moralischen Kompass, der zwar verbogen, aber nicht vollständig zerstört ist. Seine Loyalität gegenüber seinem Bruder und seine tiefe Verbundenheit zur Familie machen ihn zu einem faszinierenden und zugleich verstörenden Charakter, der uns als Leser zwischen Mitleid und Abscheu schwanken lässt.
Jo Nesbø inszeniert in „Der König“ ein intensives Drama um Macht und Einfluss, das sich nicht wie so oft in Großstädten oder Metropolen abspielt, sondern in einer kleinen, überschaubaren Gemeinde unter einfachen Menschen. Gerade diese bodenständige Darstellung des Kampfes um Geld und Macht verleiht der Geschichte Glaubwürdigkeit und macht sie so eindringlich. Durch das Setting im ländlichen Norwegen gelingt es Nesbø, ein authentisches und realitätsnahes Bild der Gesellschaft zu zeichnen, das dem Leser eine ungewöhnliche Perspektive auf die Mechanismen von Macht und Korruption bietet.
Insgesamt entwirft der Autor ein finsteres Gesellschaftsbild, das zwar erschreckend ist, jedoch durch seine trostlose Darstellung eine gewisse Authentizität gewinnt und die Konsequenzen einer empathielosen Welt eindringlich darstellt.
„Der König“ weist dabei auch deutliche Züge eines Gesellschaftsromans auf, in dem Nesbø tief in die Strukturen und Geheimnisse der Kleinstadt eintaucht. Trotz dieser Schwere und Tiefe kommt jedoch auch die Spannung nicht zu kurz: Liebhaber von Kriminalromanen werden trotz der unkonventionellen Erzählweise am Ende des Tages voll auf ihre Kosten kommen.