Sie reisen in entlegene Winkel am Schwarzen Meer, spüren Pelikane auf und reden über die Freiheit. Sie begegnen sich auf Rummelplätzen wie Figuren aus einem vertrauten Märchenstück. Und im nebeldichten Oderhaff bringen sie ihr schmales Ruderboot zum Kentern, um endlich dem wahren Leben näherzukommen. - Die Helden und Heldinnen in Julia Schochs Geschichten widersetzen sich einfallsreich und unbeirrbar allen Erwartungen, sie suchen das Glück und finden dabei nicht zuletzt die eigenen Erinnerungen: Erinnerungen an einen untergegangenen Staat im Osten, an seine seltsam vertraute Ferne und seine tragikomischen Momente.
Julia Schoch erzählt von der Liebe und der Vergänglichkeit. Und in dem souveränen, kraftvollen Rhythmus ihrer Sätze liegen Humor und Lakonie, Härte und Empfindsamkeit untrennbar miteinander verbunden.
Julia Schoch erzählt von der Liebe und der Vergänglichkeit. Und in dem souveränen, kraftvollen Rhythmus ihrer Sätze liegen Humor und Lakonie, Härte und Empfindsamkeit untrennbar miteinander verbunden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2001Ein Molch und eine Seele
Tierlieb: Julia Schochs Erzählband „Der Körper des Salamanders”
Der Osten ist Himmelsrichtung, Ort und Vergangenheit zugleich. Noch im östlichsten Sibirien gibt es einen Osten, irgendwo hinter dem Meer liegt Kanada; der Osten des Westens erstreckt sich von Mitteleuropa bis zur Beringsee; Budapest erinnert heute in vielerlei Hinsicht an das Wien um 1900. In dem Erzählband „Der Körper des Salamanders” von Julia Schoch, 1974 im Nordosten Deutschlands geboren und heute Dozentin für französische Literatur an der Universität Potsdam, wird der Osten in allen drei Dimensionen greifbar. Die zum größten Teil weiblichen Protagonisten ihrer Geschichten begeben sich dorthin auf die Suche nach der Vergangenheit („Der Exot”), suchen ostwärts fliegend ihr Glück („Herr Quantitschek will fliegen”) oder leisten fragwürdige Aufbauarbeit an genau jenem Ort, der in Europa am östlichsten liegt („Im Delta”).
Gedichtausbruch
Alle suchen sich selbst. Viele loten dabei Grenzen aus. Manche durchbrechen sie. In der Titelgeschichte „Der Körper des Salamanders” ist es die jugendliche Steuerfrau eines Ruderbootes, die in einem Sportleistungszentrum der DDR, umgeben von auf Schrankbreite getrimmten Mädchenrücken, die deplatzierte Existenz eines körperlichen Nichts führt. Sie will ausbrechen aus der Fremdheit der auf ihr animalisches Potenzial heruntergezüchteten Kameradinnen, probiert es, indem sie Gedichte zu schreiben versucht. Der lyrische Selbstrettungsversuch scheitert, und so sucht sie nach anderen Wegen. Sie, die das Steuerruder führt, schließt dann die Augen und träumt, während das Boot aus der Bahn und auf Grund läuft.
Erst ist es eine Vogelinsel, die das Ruderboot rammt. Später führt ihre Fahrlässigkeit beinahe zu einer Grenzverletzung an der Glienicker Brücke. Schließlich bringt sie das Boot auf Kollisionskurs mit einem Dampfer, den sie im Nebel vermutet. „Phantasie und Zufall” sind diesmal nicht im Spiel, als es zur Katastrophe kommt, die Ruder in der Schiffschraube zersplittern und das kleine Boot kentert, nicht bevor die Protagonistin sich durch einen Sprung in Sicherheit gebracht hat.
Julia Schoch erzählt ihre Geschichten in raunendem Ton, und sie verliert sich dabei bisweilen in einem Gemurmel, dessen Metaphern viel zu bockbeinig sind, als dass man annehmen könnte, sie wollten verstanden werden. Schochs latentes Unbehagen an der eigenen Erzählkultur wird manifest, wenn sie in „Herr Quantitschek will fliegen”, einer Geschichte über das Altwerden und die Unzerstörbarkeit der Hoffnung, in die Welt eines Opfer-Ichs flieht, in der Betulichkeit nur ein vermeintlicher Erzählbonus ist. In der letzten Geschichte, „Cinema Aurora”, hat die Rückkehr zum konventionellen Ton bereits stattgefunden, die Resignation der Erzählerin angesichts eines „ins Rheinland” entschwundenen Freundes erhält ihr formales Äquivalent.
Tierspuren ziehen sich durch Julia Schochs Geschichten und verbinden sie, wiedererkennbare und neue. Der Molch im Ruderboot symbolisiert das ungeliebte Leben, von dem man sich wünscht, es einfach versenken zu können. In einer anderen Geschichte sucht die Heldin nach einem Pelikan, Ausdruck der Sehnsucht nach Hoffnung inmitten der Trostlosigkeit. Mit großer Verlässlichkeit spiegeln diese Tiere die Gemütszustände ihrer mal kindlichen, mal widerspenstigen Betrachterinnen, denen nicht selten zu wünschen wäre, sich auch anders als durch den Beistand von Vogel, Pelikan und Salamander offenbaren zu können. In ihren gelungensten Geschichten glückt es Julia Schoch, jenseits von Sentimentalität und Tiermystik ihren Heldinnen, die so wenige Worte über sich verlieren, Kontur zu verleihen. Dann wird glaubhaft, was sie an den Grenzen, in der Vergangenheit, im Osten suchen.
KAIMARTIN
WIEGANDT
JULIA SCHOCH: Der Körper des Salamanders. Erzählungen. Piper Verlag, München 2001. 174 Seiten, 29,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Tierlieb: Julia Schochs Erzählband „Der Körper des Salamanders”
Der Osten ist Himmelsrichtung, Ort und Vergangenheit zugleich. Noch im östlichsten Sibirien gibt es einen Osten, irgendwo hinter dem Meer liegt Kanada; der Osten des Westens erstreckt sich von Mitteleuropa bis zur Beringsee; Budapest erinnert heute in vielerlei Hinsicht an das Wien um 1900. In dem Erzählband „Der Körper des Salamanders” von Julia Schoch, 1974 im Nordosten Deutschlands geboren und heute Dozentin für französische Literatur an der Universität Potsdam, wird der Osten in allen drei Dimensionen greifbar. Die zum größten Teil weiblichen Protagonisten ihrer Geschichten begeben sich dorthin auf die Suche nach der Vergangenheit („Der Exot”), suchen ostwärts fliegend ihr Glück („Herr Quantitschek will fliegen”) oder leisten fragwürdige Aufbauarbeit an genau jenem Ort, der in Europa am östlichsten liegt („Im Delta”).
Gedichtausbruch
Alle suchen sich selbst. Viele loten dabei Grenzen aus. Manche durchbrechen sie. In der Titelgeschichte „Der Körper des Salamanders” ist es die jugendliche Steuerfrau eines Ruderbootes, die in einem Sportleistungszentrum der DDR, umgeben von auf Schrankbreite getrimmten Mädchenrücken, die deplatzierte Existenz eines körperlichen Nichts führt. Sie will ausbrechen aus der Fremdheit der auf ihr animalisches Potenzial heruntergezüchteten Kameradinnen, probiert es, indem sie Gedichte zu schreiben versucht. Der lyrische Selbstrettungsversuch scheitert, und so sucht sie nach anderen Wegen. Sie, die das Steuerruder führt, schließt dann die Augen und träumt, während das Boot aus der Bahn und auf Grund läuft.
Erst ist es eine Vogelinsel, die das Ruderboot rammt. Später führt ihre Fahrlässigkeit beinahe zu einer Grenzverletzung an der Glienicker Brücke. Schließlich bringt sie das Boot auf Kollisionskurs mit einem Dampfer, den sie im Nebel vermutet. „Phantasie und Zufall” sind diesmal nicht im Spiel, als es zur Katastrophe kommt, die Ruder in der Schiffschraube zersplittern und das kleine Boot kentert, nicht bevor die Protagonistin sich durch einen Sprung in Sicherheit gebracht hat.
Julia Schoch erzählt ihre Geschichten in raunendem Ton, und sie verliert sich dabei bisweilen in einem Gemurmel, dessen Metaphern viel zu bockbeinig sind, als dass man annehmen könnte, sie wollten verstanden werden. Schochs latentes Unbehagen an der eigenen Erzählkultur wird manifest, wenn sie in „Herr Quantitschek will fliegen”, einer Geschichte über das Altwerden und die Unzerstörbarkeit der Hoffnung, in die Welt eines Opfer-Ichs flieht, in der Betulichkeit nur ein vermeintlicher Erzählbonus ist. In der letzten Geschichte, „Cinema Aurora”, hat die Rückkehr zum konventionellen Ton bereits stattgefunden, die Resignation der Erzählerin angesichts eines „ins Rheinland” entschwundenen Freundes erhält ihr formales Äquivalent.
Tierspuren ziehen sich durch Julia Schochs Geschichten und verbinden sie, wiedererkennbare und neue. Der Molch im Ruderboot symbolisiert das ungeliebte Leben, von dem man sich wünscht, es einfach versenken zu können. In einer anderen Geschichte sucht die Heldin nach einem Pelikan, Ausdruck der Sehnsucht nach Hoffnung inmitten der Trostlosigkeit. Mit großer Verlässlichkeit spiegeln diese Tiere die Gemütszustände ihrer mal kindlichen, mal widerspenstigen Betrachterinnen, denen nicht selten zu wünschen wäre, sich auch anders als durch den Beistand von Vogel, Pelikan und Salamander offenbaren zu können. In ihren gelungensten Geschichten glückt es Julia Schoch, jenseits von Sentimentalität und Tiermystik ihren Heldinnen, die so wenige Worte über sich verlieren, Kontur zu verleihen. Dann wird glaubhaft, was sie an den Grenzen, in der Vergangenheit, im Osten suchen.
KAIMARTIN
WIEGANDT
JULIA SCHOCH: Der Körper des Salamanders. Erzählungen. Piper Verlag, München 2001. 174 Seiten, 29,80 Mark.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2001Der Schmerz des eisernen Dickhäuters
Julia Schochs grandioses Debüt · Von Richard Kämmerlings
Das Elefantengerüst gibt es nicht mehr. Auch nicht die Stangen, an denen man sich die Kniekehlen wundgerieben hatte, auch nicht den "albernen Autoreifensteg". Als die junge Frau in Julia Schochs Geschichte "Der Exot" nach Jahren in ihren Heimatort in Mecklenburg zurückkehrt, ist von ihrer Kindheit nicht einmal mehr ein verrosteter Spielplatz übriggeblieben. Kein Gummigeruch wird zum Anlaß einer mémoire involontaire, keine Rostflecken auf der Haut lösen eine Reise in die Vergangenheit aus, so daß man die Augen gleich vor der tristen Einkaufszentrumswelt zwischen den Wohnblocks verschließen kann. "Gleichzeitig war ich aber erleichtert, daß von meiner Geschichte nicht mehr übriggeblieben war als ich selbst." Denn erst der unwiederbringliche Verlust der Vergangenheit setzt die Imagination frei.
Julia Schoch wurde 1974 geboren und wuchs "in einer Kleinstadt im Nordosten Deutschlands" auf. Schon diese Angabe im Klappentext ist verräterisch ungenau. Denn zwischen dem Land ihrer Kindheit, das eben nicht Deutschland war, und der Gegenwart liegt eine ganze Epoche; der Übergang ins Erwachsenenalter kam für ihre Generation verfrüht, mit Gewalt, als "Wende" statt als Reifeprozeß. Es wäre daher falsch, diesen Blick auf den Realsozialismus als Ostalgie zu verstehen. Es ist eher ein Phantomschmerz, den man verspürt, wo ein Stück des Eigenen fehlt, zu dem man zuvor gar kein Verhältnis von Nähe oder Distanz aufbauen konnte.
In der großartigen Titelerzählung "Der Körper des Salamanders" wird ein Leistungsport-Internat für Ruderer zum Sinnbild eines rücksichtslosen Staatsapparates. Wenn die Mädchen hier bis zum Heulkrampf gedrillt werden, ist das weniger eine nachträglich wohlfeile Kritik an einer im Wettlauf der Ideologien gründenden Ausbeutung als vielmehr der Versuch, sich nachträglich eine Identität im und zugleich am Rande des Systems zuzuschreiben. Die Erzählerin gehört nicht zu "den Mädchen", sondern ist als Steuerfrau selbst ein kleines Schwungrad im Disziplinierungsgetriebe. Der Bann, der über dieser Welt seelischer und körperlicher Qualen liegt, kann nur durch ein Verbrechen gebrochen werden; mit einem fahrlässigen Manöver bringt sie ihr Boot zum Kentern. Die Erlösung aus der Hölle der Krafträume und Trainingsbecken ist die tödliche Aufhebung der Grenze zwischen den Elementen: "Ich sah: Das Boot lag mit dem Rumpf nach oben, und unten im Wasser, unter der Nebelwand, saßen die Mädchen im Boot wie ein Spiegelbild, als wollten sie - eine stumm gewordene Galeere - ihre Berufung in die Unterwelt retten."
So schillern Schochs Erzählungen in einem double bind zwischen der Rettung einer Vergangenheit und einer Gegenwart, die diese kühl verdammt, oder noch schlimmer: verschweigt, ohne sie in eine biographische oder historische Kontinuität aufheben zu können. In "Himmelfahrt" begeht der Vater der Erzählerin, ein ehemaliger NVA-Offizier, Selbstmord. Die Geschichte beginnt mit den Sätzen: "So sind die Peinlichkeiten dem Vater wenigstens erspart geblieben. Und mir auch. Daß ich hätte mit ansehen müssen, wie er schnell wieder mit allem zurechtgekommen wäre". Die Besichtigung der Wohnung mit dem Leichnam wird zur Gondelfahrt in die Vergangenheit, die mit dem Freitod gerade nicht abgeschlossen wird, sondern sich als Domäne des Möglichkeitssinns erweist: "Daß die Geschichte ihren eigenen Lauf nehmen würde, ein Vater tun und lassen könnte, was er wollte, hier liegen oder dort, ich ihn mir würde aussuchen können, wie er war, was für ein herrlicher Ausgang."
Ein weiterer Selbstmord wird am Ende von "Schießübung" angedeutet, einer Prosaszene wie von Horváth: Ein junges Mädchen und ein Soldat lernen sich am Schießstand auf dem Rummelplatz kennen und träumen in der Plattenbauwohnung von Paris. "Dieser Ernst gefiel dem Mädchen, weil er so leichthin etwas festlegte. Als wäre solch eine Reise nicht nur eine Idee. Es gefiel dem Mädchen, daß er plötzlich über die Zukunft bestimmte, als würde sie von Menschenhand gemacht." Dieser existentialistische Gestus - dem Soldat, der Sartre liest, bleibt wohl am Ende nur eine freie Wahl - bestimmt auch Schochs Poetik, die sich nicht zu ihren Erfahrungen selbst, wohl aber zum Umgang mit den Altstoffen ihrer Herkunft verhalten kann.
Warum nun sucht die Frau in der erwähnten Story den Kletterelefanten? Als Kind eines Geheimnisträgers waren ihr früher jegliche Westkontakte untersagt. Eines Tages, eben auf jenem Gerüst, begegnete sie einem Jungen, dem "Exoten", und stellte ihm die verbotene Frage "Wie ist denn der Kapitalismus so?" Nun, wo der Sozialismus exotisch geworden ist, warten viele auf die umgekehrte Frage. Wer sich auf dem Spielgerüst der Fiktion so virtuos bewegt wie diese hochtalentierte Autorin, konnte mit der Antwort nicht so lange warten.
Julia Schoch: "Der Körper des Salamanders". Erzählungen. Piper Verlag, München 2001. 172 S., geb., 29,79 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Julia Schochs grandioses Debüt · Von Richard Kämmerlings
Das Elefantengerüst gibt es nicht mehr. Auch nicht die Stangen, an denen man sich die Kniekehlen wundgerieben hatte, auch nicht den "albernen Autoreifensteg". Als die junge Frau in Julia Schochs Geschichte "Der Exot" nach Jahren in ihren Heimatort in Mecklenburg zurückkehrt, ist von ihrer Kindheit nicht einmal mehr ein verrosteter Spielplatz übriggeblieben. Kein Gummigeruch wird zum Anlaß einer mémoire involontaire, keine Rostflecken auf der Haut lösen eine Reise in die Vergangenheit aus, so daß man die Augen gleich vor der tristen Einkaufszentrumswelt zwischen den Wohnblocks verschließen kann. "Gleichzeitig war ich aber erleichtert, daß von meiner Geschichte nicht mehr übriggeblieben war als ich selbst." Denn erst der unwiederbringliche Verlust der Vergangenheit setzt die Imagination frei.
Julia Schoch wurde 1974 geboren und wuchs "in einer Kleinstadt im Nordosten Deutschlands" auf. Schon diese Angabe im Klappentext ist verräterisch ungenau. Denn zwischen dem Land ihrer Kindheit, das eben nicht Deutschland war, und der Gegenwart liegt eine ganze Epoche; der Übergang ins Erwachsenenalter kam für ihre Generation verfrüht, mit Gewalt, als "Wende" statt als Reifeprozeß. Es wäre daher falsch, diesen Blick auf den Realsozialismus als Ostalgie zu verstehen. Es ist eher ein Phantomschmerz, den man verspürt, wo ein Stück des Eigenen fehlt, zu dem man zuvor gar kein Verhältnis von Nähe oder Distanz aufbauen konnte.
In der großartigen Titelerzählung "Der Körper des Salamanders" wird ein Leistungsport-Internat für Ruderer zum Sinnbild eines rücksichtslosen Staatsapparates. Wenn die Mädchen hier bis zum Heulkrampf gedrillt werden, ist das weniger eine nachträglich wohlfeile Kritik an einer im Wettlauf der Ideologien gründenden Ausbeutung als vielmehr der Versuch, sich nachträglich eine Identität im und zugleich am Rande des Systems zuzuschreiben. Die Erzählerin gehört nicht zu "den Mädchen", sondern ist als Steuerfrau selbst ein kleines Schwungrad im Disziplinierungsgetriebe. Der Bann, der über dieser Welt seelischer und körperlicher Qualen liegt, kann nur durch ein Verbrechen gebrochen werden; mit einem fahrlässigen Manöver bringt sie ihr Boot zum Kentern. Die Erlösung aus der Hölle der Krafträume und Trainingsbecken ist die tödliche Aufhebung der Grenze zwischen den Elementen: "Ich sah: Das Boot lag mit dem Rumpf nach oben, und unten im Wasser, unter der Nebelwand, saßen die Mädchen im Boot wie ein Spiegelbild, als wollten sie - eine stumm gewordene Galeere - ihre Berufung in die Unterwelt retten."
So schillern Schochs Erzählungen in einem double bind zwischen der Rettung einer Vergangenheit und einer Gegenwart, die diese kühl verdammt, oder noch schlimmer: verschweigt, ohne sie in eine biographische oder historische Kontinuität aufheben zu können. In "Himmelfahrt" begeht der Vater der Erzählerin, ein ehemaliger NVA-Offizier, Selbstmord. Die Geschichte beginnt mit den Sätzen: "So sind die Peinlichkeiten dem Vater wenigstens erspart geblieben. Und mir auch. Daß ich hätte mit ansehen müssen, wie er schnell wieder mit allem zurechtgekommen wäre". Die Besichtigung der Wohnung mit dem Leichnam wird zur Gondelfahrt in die Vergangenheit, die mit dem Freitod gerade nicht abgeschlossen wird, sondern sich als Domäne des Möglichkeitssinns erweist: "Daß die Geschichte ihren eigenen Lauf nehmen würde, ein Vater tun und lassen könnte, was er wollte, hier liegen oder dort, ich ihn mir würde aussuchen können, wie er war, was für ein herrlicher Ausgang."
Ein weiterer Selbstmord wird am Ende von "Schießübung" angedeutet, einer Prosaszene wie von Horváth: Ein junges Mädchen und ein Soldat lernen sich am Schießstand auf dem Rummelplatz kennen und träumen in der Plattenbauwohnung von Paris. "Dieser Ernst gefiel dem Mädchen, weil er so leichthin etwas festlegte. Als wäre solch eine Reise nicht nur eine Idee. Es gefiel dem Mädchen, daß er plötzlich über die Zukunft bestimmte, als würde sie von Menschenhand gemacht." Dieser existentialistische Gestus - dem Soldat, der Sartre liest, bleibt wohl am Ende nur eine freie Wahl - bestimmt auch Schochs Poetik, die sich nicht zu ihren Erfahrungen selbst, wohl aber zum Umgang mit den Altstoffen ihrer Herkunft verhalten kann.
Warum nun sucht die Frau in der erwähnten Story den Kletterelefanten? Als Kind eines Geheimnisträgers waren ihr früher jegliche Westkontakte untersagt. Eines Tages, eben auf jenem Gerüst, begegnete sie einem Jungen, dem "Exoten", und stellte ihm die verbotene Frage "Wie ist denn der Kapitalismus so?" Nun, wo der Sozialismus exotisch geworden ist, warten viele auf die umgekehrte Frage. Wer sich auf dem Spielgerüst der Fiktion so virtuos bewegt wie diese hochtalentierte Autorin, konnte mit der Antwort nicht so lange warten.
Julia Schoch: "Der Körper des Salamanders". Erzählungen. Piper Verlag, München 2001. 172 S., geb., 29,79 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Richard Kämmerlings ist hingerissen, wie virtuos sich diese Autorin auf dem "Spielgerüst der Fiktion" bewegen kann. Ihre Erzählungen schillerten in paradoxer Schwebe zwischen der Rettung einer Vergangenheit und einer Gegenwart, die diese Vergangenheit verdammen oder sogar verschweigen würde. Als Hintergrund der Erzählungen wird die Erfahrung der 1974 geborenen Autorin beschrieben, den Übergang ins Erwachsenenalter nicht als Reifeprozess, sondern als Wende erlebt zu haben. So ließ sich Vergangenheit nicht in einer historischen oder biografischen Kontinuität aufheben. Anhand einiger Erzählungen, von denen manche einen tödlichen Ausgang haben, deutet er an, wie das gemeint ist. Besonders fasziniert war der Rezensent von der "großartigen" Titelerzählung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein großartiger Geschichtenband. Richard Kämmerlings Die Welt, Literarische Welt 20220206