Maria Stepanova war schon vor dem internationalen Erfolg ihres ersten Prosawerks Nach dem Gedächtnis eine berühmte Autorin. Seit zwanzig Jahren hat sie die weltoffene Literaturszene Moskaus mitgeprägt und sich als produktive, experimentierfreudige Lyrikerin einen Namen gemacht, auch im angelsächsischen Raum. Die drei Langgedichte des vorliegenden Bandes, Erinnerungsarbeit in einer sich verdunkelnden Zeit, stehen in der Tradition der russischen und der amerikanischen Poesie der Moderne.
»Die Dichtung, dieses absurde, vieläugige / Wesen mit den vielen Mündern, / Lebt in vielen Körpern zugleich, / Ging durch viele Körper zuvor.« Stepanova lässt die Poesie als handelnde Gestalt auftreten: Wir hören und sehen, wie sie über die Schlachtfelder des 20. Jahrhunderts schreitet, ihr Ohr an die Erde legt, den Boden aufgräbt, in den die Körper der Gefallenen eingegangen sind. Eine zerbrochene Welt wird besichtigt, und jemand ist da, der oder die alle Teile einsammelt, aufliest - sie »liest« und neu zusammensetzt. Ein messianisches Projekt? Maria Stepanova geht es um die politische, die poetische und die erotische Dimension der Körper - und dass sie alle, die toten und die lebendigen, das gleiche Recht beanspruchen: von uns gesehen, von uns wahrgenommen zu werden.
»Die Dichtung, dieses absurde, vieläugige / Wesen mit den vielen Mündern, / Lebt in vielen Körpern zugleich, / Ging durch viele Körper zuvor.« Stepanova lässt die Poesie als handelnde Gestalt auftreten: Wir hören und sehen, wie sie über die Schlachtfelder des 20. Jahrhunderts schreitet, ihr Ohr an die Erde legt, den Boden aufgräbt, in den die Körper der Gefallenen eingegangen sind. Eine zerbrochene Welt wird besichtigt, und jemand ist da, der oder die alle Teile einsammelt, aufliest - sie »liest« und neu zusammensetzt. Ein messianisches Projekt? Maria Stepanova geht es um die politische, die poetische und die erotische Dimension der Körper - und dass sie alle, die toten und die lebendigen, das gleiche Recht beanspruchen: von uns gesehen, von uns wahrgenommen zu werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Christiane Pöhlmann liest die drei Langgedichte von Maria Stepanova in der zweisprachigen Ausgabe mit einiger Mühe. Allzu wild wuchert der "Verweiswald". Das geht zu Lasten des sinnlichen Eindrucks, findet Pöhlmann, wie auch der Interpretationslust, die die Rezensentin zunächst durchaus packt. Sie entdeckt Bezüge zu Anne Carson und Daniil Andrejew, erkennt das Motiv des Krieges und die Befassung mit dem Schreiben, Folkloristisches und Erhabenes. Solange all das mühelos geschieht und erahnbar ist, geht Pöhlmann mit, doch insgesamt scheint ihr der Interpretationsaufwand doch zu übermächtig zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2021Russische Parforce
Drei Langgedichte von Maria Stepanova
Fast ein halbes Jahrhundert schon erscheint in dieser Zeitung samstags ein Gedicht mit Interpretation. Jedes Wochenende also eine kleine Übung in der vermeintlich vernachlässigten Gattung Lyrik. Noch vor dieser eigenen Regelmäßigkeit liegt die Lektüre Paul Celans. Bei der "Todesfuge" wurde vielleicht das erste Mal spürbar, dass der Verstand allein einem Gedicht nicht gerecht werden kann. Bei aller thematischen Düsternis blieb Freude an Rhythmus, an lautlichen Verbindungen und der Schönheit von Bildern. Am Vagen, Doppeldeutigen und Offenen. Griffige Wendungen wie "das Unsagbare verhandeln" fehlten damals, es blieb die Frage, ob der Verstand an dem Text nicht scheitern sollte. Und es blieb ein Nachhall bis heute.
Die Russin Maria Stepanova wurde 1972 geboren und ist damit nur zwei Jahre älter als die Frankfurter Anthologie. Auch sie hat Paul Celan gelesen. Die Lektüre ihrer drei Langgedichte, die nun in einer zweisprachigen Ausgabe bei Suhrkamp vorliegen, endet ebenfalls in gewisser Weise irritierend, doch ist das Scheitern hier ein völlig anderes. Der sinnliche Eindruck, aber auch die Lust an der Interpretation verliert sich in einem echten Verweiswald. Zu Beginn des ersten Gedichts, "Der Körper kehrt wieder", heißt es: "So spricht die Dichtung, die in Kanada lebt, in weiblichem Körper, auf Englisch / Spricht sie so: once cleared the room writes itself". Es ist der Beginn, der Wissensdurst enorm. Ein wenig Recherche ergibt: Anne Carson, Lyrikerin und Gräzistin, ein Zitat aus "Economy of the Unlost (Reading Simonides of Keos with Paul Celan)".
So geht es weiter. Ein Beispiel noch aus "Spolia", dem zweiten Gedicht: "mein heimatland ich liebe deine weiten / wo täler, tische, wald vorübergleiten, / und auch den grausen uizraor / und den letzten zaren". Der "Uizraor" ist ein dämonisches Wesen aus dem Hauptwerk Daniil Andrejews, "Rose der Welt". Andrejew hat den Text nach langer Gefängnishaft ein Jahr vor seinem Tod 1959 abgeschlossen, vollständig erscheinen konnte er erst 1991. Der dritte und letzte Uizraor ist übrigens 1917 in Erscheinung getreten ...
Durch alle drei Gedichte zieht sich das Motiv des Krieges und des Todes. Das erste thematisiert allgemein die Bedingungen des Schreibens im Angesicht des historischen Wissens und formuliert ein Paradoxon: "Das Zimmer muss leergeräumt werden", denn "Aufgeräumt bis auf die Knochen, aufs Mark: muss sich selber schreiben, keiner schreibt keinem". Dann aber ist dieser Raum voller Stimmen, dem Nachhall der eigenen Lektüre, wie die erwähnte Carson zeigt.
Das zweite dreht sich eher um das konkrete eigene Schreiben, wobei das lyrische Ich mal männlich, mal weiblich ist, was in der Übersetzung verlorengeht. Das dritte hält das Programm im Titel fest: "Krieg der Tiere und Untiere". Es knüpft mit seiner Auferstehungsmotivik und der Formung eines neuen Menschen aus einzelnen Körperteilen an den ersten an, der Kreis schließt sich.
Es gibt einige eindrucksvolle Passagen, in denen Stepanova einzelne Zeilen aneinanderreiht, die wie Unterschriften in alten Fotoalben wirken. Heißt es in einer "Strophe" noch: "das haus der alten bolschewiki, zwei greisinnen auf der bank / (eine ist meine)", setzt die nächste fort: "krim achtunddreißig, kaskaden von urlauberinnen in bunt / (welche bist du)".
Ansonsten mischt Stepanova beherzt Groß- und Kleinschreibung, Erhabenes und Folkloristisches, spendiert sich Reime (hier holpert die ansonsten solide Übersetzung ein wenig) und Anglizismen. Manches ist mühelos zu erkennen: "wer reitet so spät durch tümpel und bach / bald fliegt er bald jagt er bald schläft er im bart", manches vielleicht zu erahnen oder assoziativ anzubinden, beispielsweise an die "Merseburger Zaubersprüche". Und nach diesem Parforceritt heißt es dann in der Mitte des dritten Gedichts: "der menschliche Körper / zergeht nicht wie seife / im öligen wasser / er ist nie ,er war' / immer jetzt immer da". Ob das Trost sein soll oder Enttäuschung, lässt sich kaum mehr sagen. Doch es interessiert auch kaum mehr.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Maria Stepanova: "Der Körper kehrt wieder". Gedichte.
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
138 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Drei Langgedichte von Maria Stepanova
Fast ein halbes Jahrhundert schon erscheint in dieser Zeitung samstags ein Gedicht mit Interpretation. Jedes Wochenende also eine kleine Übung in der vermeintlich vernachlässigten Gattung Lyrik. Noch vor dieser eigenen Regelmäßigkeit liegt die Lektüre Paul Celans. Bei der "Todesfuge" wurde vielleicht das erste Mal spürbar, dass der Verstand allein einem Gedicht nicht gerecht werden kann. Bei aller thematischen Düsternis blieb Freude an Rhythmus, an lautlichen Verbindungen und der Schönheit von Bildern. Am Vagen, Doppeldeutigen und Offenen. Griffige Wendungen wie "das Unsagbare verhandeln" fehlten damals, es blieb die Frage, ob der Verstand an dem Text nicht scheitern sollte. Und es blieb ein Nachhall bis heute.
Die Russin Maria Stepanova wurde 1972 geboren und ist damit nur zwei Jahre älter als die Frankfurter Anthologie. Auch sie hat Paul Celan gelesen. Die Lektüre ihrer drei Langgedichte, die nun in einer zweisprachigen Ausgabe bei Suhrkamp vorliegen, endet ebenfalls in gewisser Weise irritierend, doch ist das Scheitern hier ein völlig anderes. Der sinnliche Eindruck, aber auch die Lust an der Interpretation verliert sich in einem echten Verweiswald. Zu Beginn des ersten Gedichts, "Der Körper kehrt wieder", heißt es: "So spricht die Dichtung, die in Kanada lebt, in weiblichem Körper, auf Englisch / Spricht sie so: once cleared the room writes itself". Es ist der Beginn, der Wissensdurst enorm. Ein wenig Recherche ergibt: Anne Carson, Lyrikerin und Gräzistin, ein Zitat aus "Economy of the Unlost (Reading Simonides of Keos with Paul Celan)".
So geht es weiter. Ein Beispiel noch aus "Spolia", dem zweiten Gedicht: "mein heimatland ich liebe deine weiten / wo täler, tische, wald vorübergleiten, / und auch den grausen uizraor / und den letzten zaren". Der "Uizraor" ist ein dämonisches Wesen aus dem Hauptwerk Daniil Andrejews, "Rose der Welt". Andrejew hat den Text nach langer Gefängnishaft ein Jahr vor seinem Tod 1959 abgeschlossen, vollständig erscheinen konnte er erst 1991. Der dritte und letzte Uizraor ist übrigens 1917 in Erscheinung getreten ...
Durch alle drei Gedichte zieht sich das Motiv des Krieges und des Todes. Das erste thematisiert allgemein die Bedingungen des Schreibens im Angesicht des historischen Wissens und formuliert ein Paradoxon: "Das Zimmer muss leergeräumt werden", denn "Aufgeräumt bis auf die Knochen, aufs Mark: muss sich selber schreiben, keiner schreibt keinem". Dann aber ist dieser Raum voller Stimmen, dem Nachhall der eigenen Lektüre, wie die erwähnte Carson zeigt.
Das zweite dreht sich eher um das konkrete eigene Schreiben, wobei das lyrische Ich mal männlich, mal weiblich ist, was in der Übersetzung verlorengeht. Das dritte hält das Programm im Titel fest: "Krieg der Tiere und Untiere". Es knüpft mit seiner Auferstehungsmotivik und der Formung eines neuen Menschen aus einzelnen Körperteilen an den ersten an, der Kreis schließt sich.
Es gibt einige eindrucksvolle Passagen, in denen Stepanova einzelne Zeilen aneinanderreiht, die wie Unterschriften in alten Fotoalben wirken. Heißt es in einer "Strophe" noch: "das haus der alten bolschewiki, zwei greisinnen auf der bank / (eine ist meine)", setzt die nächste fort: "krim achtunddreißig, kaskaden von urlauberinnen in bunt / (welche bist du)".
Ansonsten mischt Stepanova beherzt Groß- und Kleinschreibung, Erhabenes und Folkloristisches, spendiert sich Reime (hier holpert die ansonsten solide Übersetzung ein wenig) und Anglizismen. Manches ist mühelos zu erkennen: "wer reitet so spät durch tümpel und bach / bald fliegt er bald jagt er bald schläft er im bart", manches vielleicht zu erahnen oder assoziativ anzubinden, beispielsweise an die "Merseburger Zaubersprüche". Und nach diesem Parforceritt heißt es dann in der Mitte des dritten Gedichts: "der menschliche Körper / zergeht nicht wie seife / im öligen wasser / er ist nie ,er war' / immer jetzt immer da". Ob das Trost sein soll oder Enttäuschung, lässt sich kaum mehr sagen. Doch es interessiert auch kaum mehr.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Maria Stepanova: "Der Körper kehrt wieder". Gedichte.
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
138 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Es gibt einige eindrucksvolle Passagen, in denen Stepanova einzelne Zeilen aneinanderreiht, die wie Unterschriften in alten Fotoalben wirken.« Christiane Pöhlmann Frankfurter Allgemeine Zeitung 20210428