"Meisterhaft: ein Kuriositäten- und Genusskabinett voller kleiner Wunder" Ian McEwan. "Unkonventionell, entwaffnend und zutiefst menschlich. 'Der Kolibri' ist eine neue Art der Familiensaga." Jhumpa Lahiri
Ein Schock, der heftigste vielleicht in einem an Schocks reichen Leben: Vom Psychoanalytiker seiner Frau erfährt der Augenarzt Marco Carrera, dass sie ihn wegen eines deutschen Piloten verlassen werde, von dem sie schwanger ist. Damit beginnt Sandro Veronesis mit dem Premio Strega ausgezeichneter Roman "Der Kolibri". Auf psychologisch raffinierte Weise erzählt er darin von einer Achterbahn der Gefühle, die das Schicksal dieses sensiblen Mannes prägen, von unvergleichlichen Charakteren, denen er auf dem Tennisplatz oder am Spieltisch begegnet, von familiärem Unglück und von einer großen, lebenslänglichen Liebe ... Marcos Dasein gleicht dabei dem eines Kolibris: Auf der Suche nach Ruhe ist er ständig in Bewegung.
Ein großartiger polyphoner Roman, ein Jonathan Franzen Italian Style.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Ein Schock, der heftigste vielleicht in einem an Schocks reichen Leben: Vom Psychoanalytiker seiner Frau erfährt der Augenarzt Marco Carrera, dass sie ihn wegen eines deutschen Piloten verlassen werde, von dem sie schwanger ist. Damit beginnt Sandro Veronesis mit dem Premio Strega ausgezeichneter Roman "Der Kolibri". Auf psychologisch raffinierte Weise erzählt er darin von einer Achterbahn der Gefühle, die das Schicksal dieses sensiblen Mannes prägen, von unvergleichlichen Charakteren, denen er auf dem Tennisplatz oder am Spieltisch begegnet, von familiärem Unglück und von einer großen, lebenslänglichen Liebe ... Marcos Dasein gleicht dabei dem eines Kolibris: Auf der Suche nach Ruhe ist er ständig in Bewegung.
Ein großartiger polyphoner Roman, ein Jonathan Franzen Italian Style.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Es klingt ein bisschen nach Kolportage, was Rezensent Andreas Rossmann von Sandro Veronesis wendungsreichem Roman erzählt: Es geht darin um den Augenarzt Marco, der gegen den Wandel der Zeit die guten alten Werte aufrechterhält: Flugzeugunglück, unerfüllte große Liebe, untreue Ehefrau, warmherzige Tochter, ein Wunderkind als Enkelin, alles bewältigt Marco mit Sinn für Tradition und gutem Geschmack. Mögen seine Freunde ihn als Kolibri belächeln, er verwendet gern seine Energie darauf, dort zu bleiben, wo er steht. Rossmann wird das mitunter zu kitschig und zu aufdringlich in der Symbolik, aber Veronesis Erzählkunst tröstet ihn darüber hinweg, ebenso die intelligent Komposition des Romans und seine tiefgründigen Dialoge. Die vielen Schnitzer verzeiht Rossmann der eigentlich eleganten Übersetzung aber nur halb.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2021Ficht die Enkelin es besser aus?
Das Leben ein Puzzle: Im Roman "Der Kolibri" erzählt Sandro Veronesi von einem Leben gegen den Lauf der Zeit
Der Autor und der Protagonist des Romans, Sandro Veronesi und Marco Carrera, sind gleich alt: Jahrgang 1959. Beide wuchsen in Akademikerfamilien in Florenz auf und haben in Rom gelebt, beide verbringen den August im Ferienhaus am Meer, beide haben in ihrer Jugend die gleichen Platten gehört (Crosby, Stills, Nash & Young, Joni Mitchell, Fabrizio De André), die gleichen Filme gesehen, das gleiche Design geliebt sowie die sportlichen Hobbys (Skilaufen, Tennis) geteilt. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. "Der Kolibri" ist kein autobiographischer Roman, im Gegenteil: So, ganz anders, hätte das Leben auch verlaufen können.
Sandro Veronesi hat Architektur studiert, Marco Carrera ist Augenarzt. Die Konstruktion bestimmt den Roman stärker als die Wahrnehmung, wiewohl er auch über den Blick als "ästhetischen Akt" räsoniert und den Maler Alexandre Hollan zitiert: "Ich bin, was ich sehe." Am Anfang steht ein Regelverstoß: In seiner Praxis wird Marco Carrera von Daniele Corradori aufgesucht, dem Psychoanalytiker seiner Frau, der etwas tut, was "verboten ist", und ihm eröffnet, dass seine Frau Marina ein weiteres Kind erwartet, "aber es wird nicht von Ihnen sein".
Mit dem Bruch der ärztlichen Schweigepflicht beginnt die "Via Crucis" des Marco Carrera, aber nicht die Geschichte. Denn der Roman umspannt sein ganzes Leben, von der glücklichen Kindheit bis zum Tod, doch folgt er ihm nicht chronologisch, sondern in Zeit- und Textsprüngen, die, alle mit Titel und Jahr, von 1960 bis 2030 reichen und aus Episoden und Gedichten, Szenen und Dialogen, aus Briefen, Postkarten, Telefonaten, Tagebuchnotizen, Mails, Whatsapps und SMS bestehen. Ein Puzzle, das "zwei tödliche Zufälle" enthält: Der erste erzählt, wie Marco mit Duccio 1979 in Pisa eine Chartermaschine nach Ljubljana besteigt, um dort im Casino zu zocken, als sein Kumpel eine Panikattacke bekommt, den Passagieren den Tod vorhersagt und aus dem Flugzeug stürmt, das dann tatsächlich abstürzt. Und der zweite Zufall, sechzig Seiten später, lässt den "hartnäckigen Fernsehverweigerer" Marco 1988 genau in dem Moment vor dem Bildschirm zu sich kommen, als die Stewardess Marina Molitor, "Italienerin slowenischer Abstammung", die für eben diesen Flug eingeteilt war, in einer Mittagsshow tränenreich gesteht, dass sie kurzfristig mit einer Kollegin den Dienst tauschte und deshalb noch am Leben ist. Woraufhin sich Marco augenblicklich in die "bewegende Schönheit" verliebt, sie aufspürt und heiratet. Dass Marina die Räuberpistole von vorn bis hinten erfunden hat, steht auf einem späteren Blatt.
Schon davor lernt der Leser den Kolibri kennen. Marco bekam diesen Spitznamen, als er mit vierzehn Jahren eine Wachstumsstörung hatte, die mit einer Hormonkur geheilt wurde, und er behielt ihn, "weil", so schreibt ihm Luisa, seine lebenslange, unerfüllte Liebe, "Du wie die Kolibris Deine ganze Energie dafür verwendest, auf der Stelle zu bleiben".
Die Designermöbel seiner Eltern, über die Marco nach deren Tod seinen Bruder Giacomo in Amerika informiert, sind da bereits inventarisiert, und auch die Wahrnehmungsstörung seiner Tochter Adele ist behandelt: Im Alter von drei Jahren erklärt sie ihrem Vater, dass in ihrem Rücken ein Faden hänge und sie, da ihn die anderen nicht sehen könnten, gezwungen sei, an der Wand zu bleiben, damit niemand sich darin verfängt. Der Psychotherapeut sieht darin ein "Band mit ihrem Papa", den sie zu verlieren fürchte, und so wächst Adele nach einem Jahr bei der Mutter, die mit dem Lufthansa-Piloten, von dem sie das Kind bekam, nach München zog, beim Vater auf.
Die Lebensgeschichte des Helden spiegelt Zeitgeschichte: Italien seit den Sechzigerjahren, als die Konventionen sich lockern und die Konsumorientierung vielfältiger wird, Anschläge und Umweltskandale das Land erschüttern. Marco Carrera geht weniger mit der Zeit, als dass er versucht, sie anzuhalten: Er umsorgt seine Eltern, die kurz nacheinander an Krebs sterben, kümmert sich ums Erbe und das Haus, bemüht sich, die Erinnerung wachzuhalten. Die Rolle des alleinerziehenden Vaters gefällt ihm, er steckt beruflich zurück, die Tochter bedeutet ihm alles. Als sie mit 21 Jahren ein Kind zur Welt bringt, ist er bei der Wassergeburt dabei. Geboren, darauf legt sie Wert, am 20.10.2010 (!), erhält es den Namen Miraijin, japanisch für Mensch der Zukunft, und noch in der Wanne erklärt Adele: "Siehst du, Papà? Es fängt gut an. Der Mensch der Zukunft ist eine Frau." Auf die Frage nach dem Vater aber bekommt er keine Antwort.
Als Adele zwei Jahre später beim Klettern tödlich verunglückt, wird der alleinerziehende Vater zum alleinerziehenden Großvater, der Miraijin überall, zu Tagungen wie zum Glücksspiel, hin mitschleppt. Der Roman nimmt eine Wendung ins Esoterische, Miraijin wird zur Lichtgestalt verklärt, die die Welt in sich vereint: "Sie ist dunkelhäutig, na ja, Mulattin, hat japanische Gesichtszüge, lockiges Haar und blaue Augen." Die aufdringliche Symbolik gilt einem Wunderkind, dem alles nur so zufliegt, einer Kopfgeburt aus Greta Thunberg und Chiara Ferragni, ausersehen, die Welt zu retten. Die Enkelin ficht's besser aus? Die vielen falschen Freiheiten, gegen die zu kämpfen der Opa ihr aufgibt, erschöpfen sich in einer Suada aus gut gemeinten Absichten. Das Ende, an dem die ins Jahr 2030 verlegte Euthanasie des krebskranken Marco als feierliches Ritual inszeniert wird, trieft vor Kitsch.
In Italien bekam "Der Kolibri" 2020 den Premio Strega, den Sandro Veronesi als erster Autor zum zweiten Mal erhielt. Die gewandte Übersetzung leistet sich Schnitzer und Schlampereien: So heißt die belgische Stadt Löwen einmal italienisch Lovanio, ein andermal flämisch Leuven, und selbst Adressen ("Strada delle Fornaco" statt "delle Fornaci") sind falsch geschrieben. Intelligent komponiert, gedanken- und anspielungsreich, mit tiefgründigen Dialogen und einem Protagonisten, der, aufmerksam und emotional durchlässig, für sich einnimmt, beweist auch dieser neunte Roman Veronesis Erzählkunst. Die anderen Figuren bleiben jedoch blass. Die Jugendliebe Luisa etwa gewinnt auf der fünftletzten Seite etwas Farbe, aber keine Kontur: "Ihre salbeifarbenen Augen. Ihr immer noch glänzendes kastanienbraunes, von der Sonne durchflutetes Haar." Vielleicht lässt die Verfilmung des Romans, die im Frühjahr herauskommt, sie besser kennenlernen. ANDREAS ROSSMANN
Sandro Veronesi: "Der Kolibri". Roman.
Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2021. 348 S., geb., 25, - Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Leben ein Puzzle: Im Roman "Der Kolibri" erzählt Sandro Veronesi von einem Leben gegen den Lauf der Zeit
Der Autor und der Protagonist des Romans, Sandro Veronesi und Marco Carrera, sind gleich alt: Jahrgang 1959. Beide wuchsen in Akademikerfamilien in Florenz auf und haben in Rom gelebt, beide verbringen den August im Ferienhaus am Meer, beide haben in ihrer Jugend die gleichen Platten gehört (Crosby, Stills, Nash & Young, Joni Mitchell, Fabrizio De André), die gleichen Filme gesehen, das gleiche Design geliebt sowie die sportlichen Hobbys (Skilaufen, Tennis) geteilt. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. "Der Kolibri" ist kein autobiographischer Roman, im Gegenteil: So, ganz anders, hätte das Leben auch verlaufen können.
Sandro Veronesi hat Architektur studiert, Marco Carrera ist Augenarzt. Die Konstruktion bestimmt den Roman stärker als die Wahrnehmung, wiewohl er auch über den Blick als "ästhetischen Akt" räsoniert und den Maler Alexandre Hollan zitiert: "Ich bin, was ich sehe." Am Anfang steht ein Regelverstoß: In seiner Praxis wird Marco Carrera von Daniele Corradori aufgesucht, dem Psychoanalytiker seiner Frau, der etwas tut, was "verboten ist", und ihm eröffnet, dass seine Frau Marina ein weiteres Kind erwartet, "aber es wird nicht von Ihnen sein".
Mit dem Bruch der ärztlichen Schweigepflicht beginnt die "Via Crucis" des Marco Carrera, aber nicht die Geschichte. Denn der Roman umspannt sein ganzes Leben, von der glücklichen Kindheit bis zum Tod, doch folgt er ihm nicht chronologisch, sondern in Zeit- und Textsprüngen, die, alle mit Titel und Jahr, von 1960 bis 2030 reichen und aus Episoden und Gedichten, Szenen und Dialogen, aus Briefen, Postkarten, Telefonaten, Tagebuchnotizen, Mails, Whatsapps und SMS bestehen. Ein Puzzle, das "zwei tödliche Zufälle" enthält: Der erste erzählt, wie Marco mit Duccio 1979 in Pisa eine Chartermaschine nach Ljubljana besteigt, um dort im Casino zu zocken, als sein Kumpel eine Panikattacke bekommt, den Passagieren den Tod vorhersagt und aus dem Flugzeug stürmt, das dann tatsächlich abstürzt. Und der zweite Zufall, sechzig Seiten später, lässt den "hartnäckigen Fernsehverweigerer" Marco 1988 genau in dem Moment vor dem Bildschirm zu sich kommen, als die Stewardess Marina Molitor, "Italienerin slowenischer Abstammung", die für eben diesen Flug eingeteilt war, in einer Mittagsshow tränenreich gesteht, dass sie kurzfristig mit einer Kollegin den Dienst tauschte und deshalb noch am Leben ist. Woraufhin sich Marco augenblicklich in die "bewegende Schönheit" verliebt, sie aufspürt und heiratet. Dass Marina die Räuberpistole von vorn bis hinten erfunden hat, steht auf einem späteren Blatt.
Schon davor lernt der Leser den Kolibri kennen. Marco bekam diesen Spitznamen, als er mit vierzehn Jahren eine Wachstumsstörung hatte, die mit einer Hormonkur geheilt wurde, und er behielt ihn, "weil", so schreibt ihm Luisa, seine lebenslange, unerfüllte Liebe, "Du wie die Kolibris Deine ganze Energie dafür verwendest, auf der Stelle zu bleiben".
Die Designermöbel seiner Eltern, über die Marco nach deren Tod seinen Bruder Giacomo in Amerika informiert, sind da bereits inventarisiert, und auch die Wahrnehmungsstörung seiner Tochter Adele ist behandelt: Im Alter von drei Jahren erklärt sie ihrem Vater, dass in ihrem Rücken ein Faden hänge und sie, da ihn die anderen nicht sehen könnten, gezwungen sei, an der Wand zu bleiben, damit niemand sich darin verfängt. Der Psychotherapeut sieht darin ein "Band mit ihrem Papa", den sie zu verlieren fürchte, und so wächst Adele nach einem Jahr bei der Mutter, die mit dem Lufthansa-Piloten, von dem sie das Kind bekam, nach München zog, beim Vater auf.
Die Lebensgeschichte des Helden spiegelt Zeitgeschichte: Italien seit den Sechzigerjahren, als die Konventionen sich lockern und die Konsumorientierung vielfältiger wird, Anschläge und Umweltskandale das Land erschüttern. Marco Carrera geht weniger mit der Zeit, als dass er versucht, sie anzuhalten: Er umsorgt seine Eltern, die kurz nacheinander an Krebs sterben, kümmert sich ums Erbe und das Haus, bemüht sich, die Erinnerung wachzuhalten. Die Rolle des alleinerziehenden Vaters gefällt ihm, er steckt beruflich zurück, die Tochter bedeutet ihm alles. Als sie mit 21 Jahren ein Kind zur Welt bringt, ist er bei der Wassergeburt dabei. Geboren, darauf legt sie Wert, am 20.10.2010 (!), erhält es den Namen Miraijin, japanisch für Mensch der Zukunft, und noch in der Wanne erklärt Adele: "Siehst du, Papà? Es fängt gut an. Der Mensch der Zukunft ist eine Frau." Auf die Frage nach dem Vater aber bekommt er keine Antwort.
Als Adele zwei Jahre später beim Klettern tödlich verunglückt, wird der alleinerziehende Vater zum alleinerziehenden Großvater, der Miraijin überall, zu Tagungen wie zum Glücksspiel, hin mitschleppt. Der Roman nimmt eine Wendung ins Esoterische, Miraijin wird zur Lichtgestalt verklärt, die die Welt in sich vereint: "Sie ist dunkelhäutig, na ja, Mulattin, hat japanische Gesichtszüge, lockiges Haar und blaue Augen." Die aufdringliche Symbolik gilt einem Wunderkind, dem alles nur so zufliegt, einer Kopfgeburt aus Greta Thunberg und Chiara Ferragni, ausersehen, die Welt zu retten. Die Enkelin ficht's besser aus? Die vielen falschen Freiheiten, gegen die zu kämpfen der Opa ihr aufgibt, erschöpfen sich in einer Suada aus gut gemeinten Absichten. Das Ende, an dem die ins Jahr 2030 verlegte Euthanasie des krebskranken Marco als feierliches Ritual inszeniert wird, trieft vor Kitsch.
In Italien bekam "Der Kolibri" 2020 den Premio Strega, den Sandro Veronesi als erster Autor zum zweiten Mal erhielt. Die gewandte Übersetzung leistet sich Schnitzer und Schlampereien: So heißt die belgische Stadt Löwen einmal italienisch Lovanio, ein andermal flämisch Leuven, und selbst Adressen ("Strada delle Fornaco" statt "delle Fornaci") sind falsch geschrieben. Intelligent komponiert, gedanken- und anspielungsreich, mit tiefgründigen Dialogen und einem Protagonisten, der, aufmerksam und emotional durchlässig, für sich einnimmt, beweist auch dieser neunte Roman Veronesis Erzählkunst. Die anderen Figuren bleiben jedoch blass. Die Jugendliebe Luisa etwa gewinnt auf der fünftletzten Seite etwas Farbe, aber keine Kontur: "Ihre salbeifarbenen Augen. Ihr immer noch glänzendes kastanienbraunes, von der Sonne durchflutetes Haar." Vielleicht lässt die Verfilmung des Romans, die im Frühjahr herauskommt, sie besser kennenlernen. ANDREAS ROSSMANN
Sandro Veronesi: "Der Kolibri". Roman.
Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2021. 348 S., geb., 25, - Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Intelligent komponiert, gedanken- und anspielungsreich, mit tiefgründigen Dialogen und einem Protagonisten, der, aufmerksam und emotional durchlässig, für sich einnimmt, beweist auch dieser neunte Roman Veronesis Erzählkunst." Andreas Rossmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.11.21
"Passagen, die Fragen aufwerfen und offen lassen, geben dieser mit viel Leichtigkeit erzählten Familiensaga ihre menschliche Tiefe ... Der Roman ist voll mit kostbaren Momentaufnahmen, oft in zärtliche Bilder verpackt ... Marcos Geschichte liest man in einem Zug, taucht in sie ein, spürt die Atmosphäre des stürmischen letzten halben Jahrhunderts in Italien." Susanna Bastaroli, Die Presse am Sonntag, 03.10.21
"Veronesi zeigt sich ungeheuer feinfühlig und psychologisch ... Insgesamt ist die Prosa wirklich höchst elegant, sehr feinsinnig, sehr lässig, oft wie hingetupft, sehr scharfsichtig." Irene Binal, Ö1 'ex libris', 19.09.21
"Dieses unfassbar grandios geschriebene Buch, das zwischen Überdruss und Überfluss pendelt, zwischen filigranen Flügelschlägen und deftigen Trommelwirbeln, dieses Wunder von einem Buch ist immer in Bewegung, ohne dass dem Autor jemals der Schweiß auf der Stirn steht." Bernd Melichar, Kleine Zeitung, 04.09.21
"Wir haben es nicht mit einer fiktiven Biografie zu tun, sondern mit einem Familienepos, das an Raffinesse seinesgleichen sucht. [...] Wer die frisch erschienene Übersetzung in die Hände bekommt, liest sie wie im Schwirrflug aus. [...] Sandro Veronesi liest sich wie ein Mario Vargas Llosa in Bestform und im Italo-Style." Juliane Fischer, Salzburger Nachrichten, 03.09.21
"Was ist Zufall, was ist Schicksal? ... Damit spielt Veronesi sehr subtil. ... Von diesen Spannunen profitiert das Buch." Julian Schütt, SRF2 Kultur, 30.08.21
"Dieser Roman ist auch eine Anamnese: Die Anamnese einer Familiengeschichte." Salomé Meier, SRF2 Kultur, 30.08.21
"Ein sehr vielschichtiger Roman, auch mit einer gesellschaftskritischen Note." Esther Schneider, SRF2 Kultur, 30.08.21
"Aus dem Unglück seiner Romanfiguren schöpft Sandro Veronesi seinen Erfolg - und das Glück seiner Leserinnen und Leser. ... 'Der Kolibri' ist das kurzweilige Erzählwerk eines wachen Zeitgenossen, der nebenbei auch dem kränkelnden Italien des letzten halben Jahrhunderts stets den Puls fühlt. ... Ein dunkel-brillianter Roman ..., der stets den richtigen Ton zwischen Ethik und Lakonik trifft." Franz Haas, Neue Zürcher Zeitung, 26.08.21
"Seine tragischen Figuren erinnern an Mario Vargas Llosas Helden. Der raffinierte, vielstimmige Roman springt zwischen den Jahren und beglückt mit musikalischen und filmischen Referenzen." Juliane Fischer, Falter, 25.08.21
"Ein todtrauriges poetisches Buch, das wie eine antike Tragödie über einem zusammenbricht. Und das man dennoch mit einem Lächeln im Gesicht liest." Frank Pommer, Die Rheinpfalz, 23.08.21
"Veronesi ist einer der raffiniertesten Erzähler der Gegenwart. So ist denn auch 'Der Kolibri' eine äußerst bemerkenswerte ... Romanepopöe, ein Wirbel beständig kaleidoskopisch wechselnder Blickwinkel." Alexander Kluy, Standard Album, 14.08.21
"Unkonventionell, entwaffnend und zutiefst menschlich. Der Kolibri ist eine neue Art der Familiensaga." Jhumpa Lahiri
"Ein Geschenk an die Welt." Michael Cunningham
"Meisterhaft: ein Kuriositäten- und Genusskabinett voller kleiner Wunder" Ian McEwan
"Alles, was einen Roman wertvoll und fesselnd macht, ist hier: Wärme, Witz, Intelligenz, Liebe, Tod, hoher Ernst, niedrige Komik, Philosophie, subtile persönliche Beziehungen und das komplexe Innenleben des Menschen." The Guardian
"'Der Kolibri' ist der inspirierteste Roman von einem unserer inspiriertesten Schriftsteller. In ihm steckt der ganze Veronesi. Er ist eine Folge von immer elektrisierenderen Arien. Die Lebendigkeit eines jeden Bildes ist fast zum Weinen." Corriere della Sera
"Sandro Veronesi denkt über die Nutzlosigkeit der großen Veränderungen nach und darüber, wie gut es ist, wenn man den Schmerz richtig zu leiten weiß." El País
"'Der Kolibri' ist kämpferisch und amüsant, ist Komödie und Tragödie zugleich, mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Veronesi erfindet das Genre Familienroman neu." Le Monde
"Die Höhen und die Tiefen eines einzigen Lebens mit solchem Einfallsreichtum und einer solchen Zärtlichkeit festzuhalten, ist schon lange keinem Roman gelungen." Financial Times
"Passagen, die Fragen aufwerfen und offen lassen, geben dieser mit viel Leichtigkeit erzählten Familiensaga ihre menschliche Tiefe ... Der Roman ist voll mit kostbaren Momentaufnahmen, oft in zärtliche Bilder verpackt ... Marcos Geschichte liest man in einem Zug, taucht in sie ein, spürt die Atmosphäre des stürmischen letzten halben Jahrhunderts in Italien." Susanna Bastaroli, Die Presse am Sonntag, 03.10.21
"Veronesi zeigt sich ungeheuer feinfühlig und psychologisch ... Insgesamt ist die Prosa wirklich höchst elegant, sehr feinsinnig, sehr lässig, oft wie hingetupft, sehr scharfsichtig." Irene Binal, Ö1 'ex libris', 19.09.21
"Dieses unfassbar grandios geschriebene Buch, das zwischen Überdruss und Überfluss pendelt, zwischen filigranen Flügelschlägen und deftigen Trommelwirbeln, dieses Wunder von einem Buch ist immer in Bewegung, ohne dass dem Autor jemals der Schweiß auf der Stirn steht." Bernd Melichar, Kleine Zeitung, 04.09.21
"Wir haben es nicht mit einer fiktiven Biografie zu tun, sondern mit einem Familienepos, das an Raffinesse seinesgleichen sucht. [...] Wer die frisch erschienene Übersetzung in die Hände bekommt, liest sie wie im Schwirrflug aus. [...] Sandro Veronesi liest sich wie ein Mario Vargas Llosa in Bestform und im Italo-Style." Juliane Fischer, Salzburger Nachrichten, 03.09.21
"Was ist Zufall, was ist Schicksal? ... Damit spielt Veronesi sehr subtil. ... Von diesen Spannunen profitiert das Buch." Julian Schütt, SRF2 Kultur, 30.08.21
"Dieser Roman ist auch eine Anamnese: Die Anamnese einer Familiengeschichte." Salomé Meier, SRF2 Kultur, 30.08.21
"Ein sehr vielschichtiger Roman, auch mit einer gesellschaftskritischen Note." Esther Schneider, SRF2 Kultur, 30.08.21
"Aus dem Unglück seiner Romanfiguren schöpft Sandro Veronesi seinen Erfolg - und das Glück seiner Leserinnen und Leser. ... 'Der Kolibri' ist das kurzweilige Erzählwerk eines wachen Zeitgenossen, der nebenbei auch dem kränkelnden Italien des letzten halben Jahrhunderts stets den Puls fühlt. ... Ein dunkel-brillianter Roman ..., der stets den richtigen Ton zwischen Ethik und Lakonik trifft." Franz Haas, Neue Zürcher Zeitung, 26.08.21
"Seine tragischen Figuren erinnern an Mario Vargas Llosas Helden. Der raffinierte, vielstimmige Roman springt zwischen den Jahren und beglückt mit musikalischen und filmischen Referenzen." Juliane Fischer, Falter, 25.08.21
"Ein todtrauriges poetisches Buch, das wie eine antike Tragödie über einem zusammenbricht. Und das man dennoch mit einem Lächeln im Gesicht liest." Frank Pommer, Die Rheinpfalz, 23.08.21
"Veronesi ist einer der raffiniertesten Erzähler der Gegenwart. So ist denn auch 'Der Kolibri' eine äußerst bemerkenswerte ... Romanepopöe, ein Wirbel beständig kaleidoskopisch wechselnder Blickwinkel." Alexander Kluy, Standard Album, 14.08.21
"Unkonventionell, entwaffnend und zutiefst menschlich. Der Kolibri ist eine neue Art der Familiensaga." Jhumpa Lahiri
"Ein Geschenk an die Welt." Michael Cunningham
"Meisterhaft: ein Kuriositäten- und Genusskabinett voller kleiner Wunder" Ian McEwan
"Alles, was einen Roman wertvoll und fesselnd macht, ist hier: Wärme, Witz, Intelligenz, Liebe, Tod, hoher Ernst, niedrige Komik, Philosophie, subtile persönliche Beziehungen und das komplexe Innenleben des Menschen." The Guardian
"'Der Kolibri' ist der inspirierteste Roman von einem unserer inspiriertesten Schriftsteller. In ihm steckt der ganze Veronesi. Er ist eine Folge von immer elektrisierenderen Arien. Die Lebendigkeit eines jeden Bildes ist fast zum Weinen." Corriere della Sera
"Sandro Veronesi denkt über die Nutzlosigkeit der großen Veränderungen nach und darüber, wie gut es ist, wenn man den Schmerz richtig zu leiten weiß." El País
"'Der Kolibri' ist kämpferisch und amüsant, ist Komödie und Tragödie zugleich, mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Veronesi erfindet das Genre Familienroman neu." Le Monde
"Die Höhen und die Tiefen eines einzigen Lebens mit solchem Einfallsreichtum und einer solchen Zärtlichkeit festzuhalten, ist schon lange keinem Roman gelungen." Financial Times
Ficht die Enkelin es besser aus?
Das Leben ein Puzzle: Im Roman "Der Kolibri" erzählt Sandro Veronesi von einem Leben gegen den Lauf der Zeit
Der Autor und der Protagonist des Romans, Sandro Veronesi und Marco Carrera, sind gleich alt: Jahrgang 1959. Beide wuchsen in Akademikerfamilien in Florenz auf und haben in Rom gelebt, beide verbringen den August im Ferienhaus am Meer, beide haben in ihrer Jugend die gleichen Platten gehört (Crosby, Stills, Nash & Young, Joni Mitchell, Fabrizio De André), die gleichen Filme gesehen, das gleiche Design geliebt sowie die sportlichen Hobbys (Skilaufen, Tennis) geteilt. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. "Der Kolibri" ist kein autobiographischer Roman, im Gegenteil: So, ganz anders, hätte das Leben auch verlaufen können.
Sandro Veronesi hat Architektur studiert, Marco Carrera ist Augenarzt. Die Konstruktion bestimmt den Roman stärker als die Wahrnehmung, wiewohl er auch über den Blick als "ästhetischen Akt" räsoniert und den Maler Alexandre Hollan zitiert: "Ich bin, was ich sehe." Am Anfang steht ein Regelverstoß: In seiner Praxis wird Marco Carrera von Daniele Corradori aufgesucht, dem Psychoanalytiker seiner Frau, der etwas tut, was "verboten ist", und ihm eröffnet, dass seine Frau Marina ein weiteres Kind erwartet, "aber es wird nicht von Ihnen sein".
Mit dem Bruch der ärztlichen Schweigepflicht beginnt die "Via Crucis" des Marco Carrera, aber nicht die Geschichte. Denn der Roman umspannt sein ganzes Leben, von der glücklichen Kindheit bis zum Tod, doch folgt er ihm nicht chronologisch, sondern in Zeit- und Textsprüngen, die, alle mit Titel und Jahr, von 1960 bis 2030 reichen und aus Episoden und Gedichten, Szenen und Dialogen, aus Briefen, Postkarten, Telefonaten, Tagebuchnotizen, Mails, Whatsapps und SMS bestehen. Ein Puzzle, das "zwei tödliche Zufälle" enthält: Der erste erzählt, wie Marco mit Duccio 1979 in Pisa eine Chartermaschine nach Ljubljana besteigt, um dort im Casino zu zocken, als sein Kumpel eine Panikattacke bekommt, den Passagieren den Tod vorhersagt und aus dem Flugzeug stürmt, das dann tatsächlich abstürzt. Und der zweite Zufall, sechzig Seiten später, lässt den "hartnäckigen Fernsehverweigerer" Marco 1988 genau in dem Moment vor dem Bildschirm zu sich kommen, als die Stewardess Marina Molitor, "Italienerin slowenischer Abstammung", die für eben diesen Flug eingeteilt war, in einer Mittagsshow tränenreich gesteht, dass sie kurzfristig mit einer Kollegin den Dienst tauschte und deshalb noch am Leben ist. Woraufhin sich Marco augenblicklich in die "bewegende Schönheit" verliebt, sie aufspürt und heiratet. Dass Marina die Räuberpistole von vorn bis hinten erfunden hat, steht auf einem späteren Blatt.
Schon davor lernt der Leser den Kolibri kennen. Marco bekam diesen Spitznamen, als er mit vierzehn Jahren eine Wachstumsstörung hatte, die mit einer Hormonkur geheilt wurde, und er behielt ihn, "weil", so schreibt ihm Luisa, seine lebenslange, unerfüllte Liebe, "Du wie die Kolibris Deine ganze Energie dafür verwendest, auf der Stelle zu bleiben".
Die Designermöbel seiner Eltern, über die Marco nach deren Tod seinen Bruder Giacomo in Amerika informiert, sind da bereits inventarisiert, und auch die Wahrnehmungsstörung seiner Tochter Adele ist behandelt: Im Alter von drei Jahren erklärt sie ihrem Vater, dass in ihrem Rücken ein Faden hänge und sie, da ihn die anderen nicht sehen könnten, gezwungen sei, an der Wand zu bleiben, damit niemand sich darin verfängt. Der Psychotherapeut sieht darin ein "Band mit ihrem Papa", den sie zu verlieren fürchte, und so wächst Adele nach einem Jahr bei der Mutter, die mit dem Lufthansa-Piloten, von dem sie das Kind bekam, nach München zog, beim Vater auf.
Die Lebensgeschichte des Helden spiegelt Zeitgeschichte: Italien seit den Sechzigerjahren, als die Konventionen sich lockern und die Konsumorientierung vielfältiger wird, Anschläge und Umweltskandale das Land erschüttern. Marco Carrera geht weniger mit der Zeit, als dass er versucht, sie anzuhalten: Er umsorgt seine Eltern, die kurz nacheinander an Krebs sterben, kümmert sich ums Erbe und das Haus, bemüht sich, die Erinnerung wachzuhalten. Die Rolle des alleinerziehenden Vaters gefällt ihm, er steckt beruflich zurück, die Tochter bedeutet ihm alles. Als sie mit 21 Jahren ein Kind zur Welt bringt, ist er bei der Wassergeburt dabei. Geboren, darauf legt sie Wert, am 20.10.2010 (!), erhält es den Namen Miraijin, japanisch für Mensch der Zukunft, und noch in der Wanne erklärt Adele: "Siehst du, Papà? Es fängt gut an. Der Mensch der Zukunft ist eine Frau." Auf die Frage nach dem Vater aber bekommt er keine Antwort.
Als Adele zwei Jahre später beim Klettern tödlich verunglückt, wird der alleinerziehende Vater zum alleinerziehenden Großvater, der Miraijin überall, zu Tagungen wie zum Glücksspiel, hin mitschleppt. Der Roman nimmt eine Wendung ins Esoterische, Miraijin wird zur Lichtgestalt verklärt, die die Welt in sich vereint: "Sie ist dunkelhäutig, na ja, Mulattin, hat japanische Gesichtszüge, lockiges Haar und blaue Augen." Die aufdringliche Symbolik gilt einem Wunderkind, dem alles nur so zufliegt, einer Kopfgeburt aus Greta Thunberg und Chiara Ferragni, ausersehen, die Welt zu retten. Die Enkelin ficht's besser aus? Die vielen falschen Freiheiten, gegen die zu kämpfen der Opa ihr aufgibt, erschöpfen sich in einer Suada aus gut gemeinten Absichten. Das Ende, an dem die ins Jahr 2030 verlegte Euthanasie des krebskranken Marco als feierliches Ritual inszeniert wird, trieft vor Kitsch.
In Italien bekam "Der Kolibri" 2020 den Premio Strega, den Sandro Veronesi als erster Autor zum zweiten Mal erhielt. Die gewandte Übersetzung leistet sich Schnitzer und Schlampereien: So heißt die belgische Stadt Löwen einmal italienisch Lovanio, ein andermal flämisch Leuven, und selbst Adressen ("Strada delle Fornaco" statt "delle Fornaci") sind falsch geschrieben. Intelligent komponiert, gedanken- und anspielungsreich, mit tiefgründigen Dialogen und einem Protagonisten, der, aufmerksam und emotional durchlässig, für sich einnimmt, beweist auch dieser neunte Roman Veronesis Erzählkunst. Die anderen Figuren bleiben jedoch blass. Die Jugendliebe Luisa etwa gewinnt auf der fünftletzten Seite etwas Farbe, aber keine Kontur: "Ihre salbeifarbenen Augen. Ihr immer noch glänzendes kastanienbraunes, von der Sonne durchflutetes Haar." Vielleicht lässt die Verfilmung des Romans, die im Frühjahr herauskommt, sie besser kennenlernen. ANDREAS ROSSMANN
Sandro Veronesi: "Der Kolibri". Roman.
Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2021. 348 S., geb., 25, - Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Leben ein Puzzle: Im Roman "Der Kolibri" erzählt Sandro Veronesi von einem Leben gegen den Lauf der Zeit
Der Autor und der Protagonist des Romans, Sandro Veronesi und Marco Carrera, sind gleich alt: Jahrgang 1959. Beide wuchsen in Akademikerfamilien in Florenz auf und haben in Rom gelebt, beide verbringen den August im Ferienhaus am Meer, beide haben in ihrer Jugend die gleichen Platten gehört (Crosby, Stills, Nash & Young, Joni Mitchell, Fabrizio De André), die gleichen Filme gesehen, das gleiche Design geliebt sowie die sportlichen Hobbys (Skilaufen, Tennis) geteilt. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. "Der Kolibri" ist kein autobiographischer Roman, im Gegenteil: So, ganz anders, hätte das Leben auch verlaufen können.
Sandro Veronesi hat Architektur studiert, Marco Carrera ist Augenarzt. Die Konstruktion bestimmt den Roman stärker als die Wahrnehmung, wiewohl er auch über den Blick als "ästhetischen Akt" räsoniert und den Maler Alexandre Hollan zitiert: "Ich bin, was ich sehe." Am Anfang steht ein Regelverstoß: In seiner Praxis wird Marco Carrera von Daniele Corradori aufgesucht, dem Psychoanalytiker seiner Frau, der etwas tut, was "verboten ist", und ihm eröffnet, dass seine Frau Marina ein weiteres Kind erwartet, "aber es wird nicht von Ihnen sein".
Mit dem Bruch der ärztlichen Schweigepflicht beginnt die "Via Crucis" des Marco Carrera, aber nicht die Geschichte. Denn der Roman umspannt sein ganzes Leben, von der glücklichen Kindheit bis zum Tod, doch folgt er ihm nicht chronologisch, sondern in Zeit- und Textsprüngen, die, alle mit Titel und Jahr, von 1960 bis 2030 reichen und aus Episoden und Gedichten, Szenen und Dialogen, aus Briefen, Postkarten, Telefonaten, Tagebuchnotizen, Mails, Whatsapps und SMS bestehen. Ein Puzzle, das "zwei tödliche Zufälle" enthält: Der erste erzählt, wie Marco mit Duccio 1979 in Pisa eine Chartermaschine nach Ljubljana besteigt, um dort im Casino zu zocken, als sein Kumpel eine Panikattacke bekommt, den Passagieren den Tod vorhersagt und aus dem Flugzeug stürmt, das dann tatsächlich abstürzt. Und der zweite Zufall, sechzig Seiten später, lässt den "hartnäckigen Fernsehverweigerer" Marco 1988 genau in dem Moment vor dem Bildschirm zu sich kommen, als die Stewardess Marina Molitor, "Italienerin slowenischer Abstammung", die für eben diesen Flug eingeteilt war, in einer Mittagsshow tränenreich gesteht, dass sie kurzfristig mit einer Kollegin den Dienst tauschte und deshalb noch am Leben ist. Woraufhin sich Marco augenblicklich in die "bewegende Schönheit" verliebt, sie aufspürt und heiratet. Dass Marina die Räuberpistole von vorn bis hinten erfunden hat, steht auf einem späteren Blatt.
Schon davor lernt der Leser den Kolibri kennen. Marco bekam diesen Spitznamen, als er mit vierzehn Jahren eine Wachstumsstörung hatte, die mit einer Hormonkur geheilt wurde, und er behielt ihn, "weil", so schreibt ihm Luisa, seine lebenslange, unerfüllte Liebe, "Du wie die Kolibris Deine ganze Energie dafür verwendest, auf der Stelle zu bleiben".
Die Designermöbel seiner Eltern, über die Marco nach deren Tod seinen Bruder Giacomo in Amerika informiert, sind da bereits inventarisiert, und auch die Wahrnehmungsstörung seiner Tochter Adele ist behandelt: Im Alter von drei Jahren erklärt sie ihrem Vater, dass in ihrem Rücken ein Faden hänge und sie, da ihn die anderen nicht sehen könnten, gezwungen sei, an der Wand zu bleiben, damit niemand sich darin verfängt. Der Psychotherapeut sieht darin ein "Band mit ihrem Papa", den sie zu verlieren fürchte, und so wächst Adele nach einem Jahr bei der Mutter, die mit dem Lufthansa-Piloten, von dem sie das Kind bekam, nach München zog, beim Vater auf.
Die Lebensgeschichte des Helden spiegelt Zeitgeschichte: Italien seit den Sechzigerjahren, als die Konventionen sich lockern und die Konsumorientierung vielfältiger wird, Anschläge und Umweltskandale das Land erschüttern. Marco Carrera geht weniger mit der Zeit, als dass er versucht, sie anzuhalten: Er umsorgt seine Eltern, die kurz nacheinander an Krebs sterben, kümmert sich ums Erbe und das Haus, bemüht sich, die Erinnerung wachzuhalten. Die Rolle des alleinerziehenden Vaters gefällt ihm, er steckt beruflich zurück, die Tochter bedeutet ihm alles. Als sie mit 21 Jahren ein Kind zur Welt bringt, ist er bei der Wassergeburt dabei. Geboren, darauf legt sie Wert, am 20.10.2010 (!), erhält es den Namen Miraijin, japanisch für Mensch der Zukunft, und noch in der Wanne erklärt Adele: "Siehst du, Papà? Es fängt gut an. Der Mensch der Zukunft ist eine Frau." Auf die Frage nach dem Vater aber bekommt er keine Antwort.
Als Adele zwei Jahre später beim Klettern tödlich verunglückt, wird der alleinerziehende Vater zum alleinerziehenden Großvater, der Miraijin überall, zu Tagungen wie zum Glücksspiel, hin mitschleppt. Der Roman nimmt eine Wendung ins Esoterische, Miraijin wird zur Lichtgestalt verklärt, die die Welt in sich vereint: "Sie ist dunkelhäutig, na ja, Mulattin, hat japanische Gesichtszüge, lockiges Haar und blaue Augen." Die aufdringliche Symbolik gilt einem Wunderkind, dem alles nur so zufliegt, einer Kopfgeburt aus Greta Thunberg und Chiara Ferragni, ausersehen, die Welt zu retten. Die Enkelin ficht's besser aus? Die vielen falschen Freiheiten, gegen die zu kämpfen der Opa ihr aufgibt, erschöpfen sich in einer Suada aus gut gemeinten Absichten. Das Ende, an dem die ins Jahr 2030 verlegte Euthanasie des krebskranken Marco als feierliches Ritual inszeniert wird, trieft vor Kitsch.
In Italien bekam "Der Kolibri" 2020 den Premio Strega, den Sandro Veronesi als erster Autor zum zweiten Mal erhielt. Die gewandte Übersetzung leistet sich Schnitzer und Schlampereien: So heißt die belgische Stadt Löwen einmal italienisch Lovanio, ein andermal flämisch Leuven, und selbst Adressen ("Strada delle Fornaco" statt "delle Fornaci") sind falsch geschrieben. Intelligent komponiert, gedanken- und anspielungsreich, mit tiefgründigen Dialogen und einem Protagonisten, der, aufmerksam und emotional durchlässig, für sich einnimmt, beweist auch dieser neunte Roman Veronesis Erzählkunst. Die anderen Figuren bleiben jedoch blass. Die Jugendliebe Luisa etwa gewinnt auf der fünftletzten Seite etwas Farbe, aber keine Kontur: "Ihre salbeifarbenen Augen. Ihr immer noch glänzendes kastanienbraunes, von der Sonne durchflutetes Haar." Vielleicht lässt die Verfilmung des Romans, die im Frühjahr herauskommt, sie besser kennenlernen. ANDREAS ROSSMANN
Sandro Veronesi: "Der Kolibri". Roman.
Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2021. 348 S., geb., 25, - Euro.
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