»Der Kollege sagt, Unabhängige seien auf Abhängige angewiesen, um unabhängig zu bleiben.«
In knappen Skizzen und minutiös beobachtet, entwickelt Jörg Steiners Erzählung Der Kollege das Psychoprotokoll eines Arbeitslosen, den Prozeß der Ausgrenzung eines Menschen: eines Menschen, der zum Verschwinden gebracht wird.
Seit dem Tag, an dem für den Mechaniker Bernhard Greif und seinen Kollegen das Wort Feierabend seine Bedeutung verloren hat, seit »vierhundert Stempeltagen«, sind Greif und sein Freund ein unzertrennliches Paar. Jeder ihrer arbeitslosen Tage hat seinen Weg: an der Post entlang, in die Mensa des Gymnasiums, in der sie gelitten sind, in der öffentlichen Bedürfnisanstalt kann man sich rasieren, in einer Kneipe erhält man für das Ausfüllen von Lottoscheinen ein Glas Wein, um dann mit den eigenen Tippscheinen »kurz vor sechs« am Kiosk die Hoffnungen auf Glück abzugeben.
Jörg Steiners große Erzählkunst liegt in der Nichtanklage. »Jörg Steiner ist der Meister der gewaltigen Kleinigkeit«, sagt Peter von Matt: »Er weiß, daß in der Literatur die Hauptsachen nicht angesprochen werden.«
In knappen Skizzen und minutiös beobachtet, entwickelt Jörg Steiners Erzählung Der Kollege das Psychoprotokoll eines Arbeitslosen, den Prozeß der Ausgrenzung eines Menschen: eines Menschen, der zum Verschwinden gebracht wird.
Seit dem Tag, an dem für den Mechaniker Bernhard Greif und seinen Kollegen das Wort Feierabend seine Bedeutung verloren hat, seit »vierhundert Stempeltagen«, sind Greif und sein Freund ein unzertrennliches Paar. Jeder ihrer arbeitslosen Tage hat seinen Weg: an der Post entlang, in die Mensa des Gymnasiums, in der sie gelitten sind, in der öffentlichen Bedürfnisanstalt kann man sich rasieren, in einer Kneipe erhält man für das Ausfüllen von Lottoscheinen ein Glas Wein, um dann mit den eigenen Tippscheinen »kurz vor sechs« am Kiosk die Hoffnungen auf Glück abzugeben.
Jörg Steiners große Erzählkunst liegt in der Nichtanklage. »Jörg Steiner ist der Meister der gewaltigen Kleinigkeit«, sagt Peter von Matt: »Er weiß, daß in der Literatur die Hauptsachen nicht angesprochen werden.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.1996Flaneur wider Willen
Jörg Steiner beschreibt den Tod eines Tagträumers
Seltsam: Kaum ein anderes Thema ist in unseren Breiten aktueller, aber die schöne Literatur macht in der Regel eine weiten Bogen darum. Das Massenproblem der Arbeitslosigkeit scheint der Aufmerksamkeit von Sonntagsrednern und Politikern, Gewerkschaftlern und Journalisten vorbehalten. Wer nicht persönlich betroffen ist, schaut lieber weg. Die Betroffenen indes sind meist sprachlos, sprachlos zumindest aus Scham über vermeintliche Schuld an ihrem Schicksal. Naturgemäß können auch Schriftsteller nichts zur Besserung der Verhältnisse beitragen, ja ihre Scheu vor dem heiklen Sujet wirkt nur allzu verständlich. Denn groß ist die Gefahr des falschen Zungenschlags, von wohlmeinender Rhetorik oder Sentimentalität. All dem weicht der Schweizer Autor Jörg Steiner in seinem jüngsten Band äußerst geschickt aus. Mag die Erzählung "Der Kollege" vom Umfang her nicht mehr als eine Prosaminiatur sein, so ist sie doch zugleich das umfassende Porträt eines Selbstverlustes, ein poetisches Untergangsprotokoll.
Bernhard Greif aus Biel war Mechaniker, nun zählt er zu den Ausgesteuerten, den Sozialhilfeempfängern. Sein höchstes Ziel: nicht zu verwahrlosen, nicht auch noch auf die Stufe der Penner herabzusinken. Bei seinem Kampf um den letzten Rest von Menschenwürde, den er mit zwanghafter Disziplin führt, begleitet ihn ein ehemaliger, gleichfalls arbeitslos gewordener "Kollege". Die beiden sind offenbar unzertrenntlich, der Kollege folgt Greif wie ein Schatten. Erst langsam, durch raffinierte Andeutungstechnik, begreift der Leser: Schon längst ist der Gefährte von einst entschwunden - er ging in den See, um nicht wiederzukehren. Zurück blieb ein Phantom und der zugehörige Schmerz.
Jörg Steiner beschreibt den Tagesablauf seines todtraurigen Helden ebenso penibel wie unprätentiös. In der Tarnung des Passanten streift Bernhard Greif durch die Stadt, unter keinen Umständen will er auffallen, in seiner als sinnlos empfundenen Existenz erkannt oder gar dafür bemitleidet werden. Von der Welt der Beschäftigten, der sogenannten Tüchtigen und Konsumenten trennt ihn eine gläserne Wand. Für ihn gibt es die Normalität des Feierabends nicht mehr, das Einerlei des erzwungenen Zeittotschlagens deckt alles zu. Erinnerungen an Glücksmomente, an Augenblicke von Zärtlichkeit und Wärme tauchen auf. Allein, sie dienen bloß als Kontrastmittel, lassen unerträgliche Gegenwart um so stärker hervortreten - von Trost keine Spur. Bernhard Greif protestiert nicht, er begehrt nicht auf - er hat es wohl nie gelernt. Zum Schluß kommt er, ohne zu wissen, wie ihm geschieht, im wortwörtlichen Sinn unter die Räder. Es war der Unfall eines verzweifelten Tagträumers, weiter nichts.
Die Vorzüge von Jörg Steiners leiser, lakonischer Prosa liegen auf der Hand: Jede Nacherzählung der Geschichte fällt pathetischer aus als diese selbst. Die Differenz markiert den ästhetischen Unterschied zwischen löblicher Absicht und gelungenem Kunstprodukt. ULRICH WEINZIERL
Jörg Steiner: "Der Kollege". Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 72 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jörg Steiner beschreibt den Tod eines Tagträumers
Seltsam: Kaum ein anderes Thema ist in unseren Breiten aktueller, aber die schöne Literatur macht in der Regel eine weiten Bogen darum. Das Massenproblem der Arbeitslosigkeit scheint der Aufmerksamkeit von Sonntagsrednern und Politikern, Gewerkschaftlern und Journalisten vorbehalten. Wer nicht persönlich betroffen ist, schaut lieber weg. Die Betroffenen indes sind meist sprachlos, sprachlos zumindest aus Scham über vermeintliche Schuld an ihrem Schicksal. Naturgemäß können auch Schriftsteller nichts zur Besserung der Verhältnisse beitragen, ja ihre Scheu vor dem heiklen Sujet wirkt nur allzu verständlich. Denn groß ist die Gefahr des falschen Zungenschlags, von wohlmeinender Rhetorik oder Sentimentalität. All dem weicht der Schweizer Autor Jörg Steiner in seinem jüngsten Band äußerst geschickt aus. Mag die Erzählung "Der Kollege" vom Umfang her nicht mehr als eine Prosaminiatur sein, so ist sie doch zugleich das umfassende Porträt eines Selbstverlustes, ein poetisches Untergangsprotokoll.
Bernhard Greif aus Biel war Mechaniker, nun zählt er zu den Ausgesteuerten, den Sozialhilfeempfängern. Sein höchstes Ziel: nicht zu verwahrlosen, nicht auch noch auf die Stufe der Penner herabzusinken. Bei seinem Kampf um den letzten Rest von Menschenwürde, den er mit zwanghafter Disziplin führt, begleitet ihn ein ehemaliger, gleichfalls arbeitslos gewordener "Kollege". Die beiden sind offenbar unzertrenntlich, der Kollege folgt Greif wie ein Schatten. Erst langsam, durch raffinierte Andeutungstechnik, begreift der Leser: Schon längst ist der Gefährte von einst entschwunden - er ging in den See, um nicht wiederzukehren. Zurück blieb ein Phantom und der zugehörige Schmerz.
Jörg Steiner beschreibt den Tagesablauf seines todtraurigen Helden ebenso penibel wie unprätentiös. In der Tarnung des Passanten streift Bernhard Greif durch die Stadt, unter keinen Umständen will er auffallen, in seiner als sinnlos empfundenen Existenz erkannt oder gar dafür bemitleidet werden. Von der Welt der Beschäftigten, der sogenannten Tüchtigen und Konsumenten trennt ihn eine gläserne Wand. Für ihn gibt es die Normalität des Feierabends nicht mehr, das Einerlei des erzwungenen Zeittotschlagens deckt alles zu. Erinnerungen an Glücksmomente, an Augenblicke von Zärtlichkeit und Wärme tauchen auf. Allein, sie dienen bloß als Kontrastmittel, lassen unerträgliche Gegenwart um so stärker hervortreten - von Trost keine Spur. Bernhard Greif protestiert nicht, er begehrt nicht auf - er hat es wohl nie gelernt. Zum Schluß kommt er, ohne zu wissen, wie ihm geschieht, im wortwörtlichen Sinn unter die Räder. Es war der Unfall eines verzweifelten Tagträumers, weiter nichts.
Die Vorzüge von Jörg Steiners leiser, lakonischer Prosa liegen auf der Hand: Jede Nacherzählung der Geschichte fällt pathetischer aus als diese selbst. Die Differenz markiert den ästhetischen Unterschied zwischen löblicher Absicht und gelungenem Kunstprodukt. ULRICH WEINZIERL
Jörg Steiner: "Der Kollege". Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 72 S., geb., 28,- DM.
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