Eine revolutionäre Idee und ihre religiösen Wurzeln werden erstmals umfassend entschlüsselt.Die russische Revolution richtete sich nicht nur gegen überkommene Eigentums- und Machtverhältnisse. Auch der bisherige Typ Mensch sollte überwunden werden, um einer neuen, höheren Existenzform Platz zu machen - dem »Neuen Menschen«. So träumte man etwa vom Beherrschen des Unterbewusstseins, der genetischen Veränderung des Körpers, seiner Verschmelzung mit der Maschine oder vom Aufheben der Grenzen zwischen den Geschlechtern und Individuen.Thomas Tetzner zeigt anhand zahlreicher Quellen, dass es sich bei der Idee vom »Neuen Menschen« um das ursprünglich religiöse Motiv einer »korporativen Vergöttlichung« handelte. Demnach konnten »göttliche« Eigenschaften wie Unsterblichkeit oder Schöpferkraft durch den Zusammenschluss zu einer größeren, »allmenschlichen« Einheit erlangt werden. Der Autor rekonstruiert die entsprechenden Vorstellungen des frühen Christentums und legt die geistesgeschichtliche Entwicklung jener Idee bis ins Russland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts offen.Erstmals wird hier eine zentrale utopische Hoffnung der russischen Revolution ideengeschichtlich entschlüsselt und erklärt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.2013Der neue Mensch ist eine ziemlich alte Angelegenheit
Selbsterlösung als Programm: Thomas Tetzners Ideengeschichte des Kollektivs der Zukunft in Russland
Menschen sind sterblich. Für manche Menschen ist das ein Trost, für die meisten ist es ein unerträglicher Gedanke, nicht mehr da zu sein. Sie wollen, dass ihre Existenz den Tod überdauert, dass der Tod besiegt wird. Sie wollen keine sterblichen Kreaturen, sondern Übermenschen sein, zu Gott werden. Von ihnen erzählt Thomas Tetzner in seiner Ideengeschichte des Neuen Menschen in Russland.
In der Geschichtsschreibung sei die Idee des Neuen Menschen mit der Hybris des bolschewistischen Projekts verbunden worden, schreibt Tetzner. Seht nur, wohin es führt, wenn Menschen sich anmaßen, Gott zu spielen, hätten die Historiker gesagt und auf Stalins Terror verwiesen. Solch ein Vorwurf aber stelle die Tatsachen auf den Kopf. Denn die Idee vom Neuen Menschen sei nicht in den Köpfen stalinistischer Technokraten entstanden, sondern eine Utopie aus dem Geist des Christentums gewesen. Die Bolschewiki hätten mit ihr nur wenig anfangen können, Lenin habe die Rede von der Vergöttlichung des Menschen für Unfug gehalten. Der Stalinismus war also irrational, aber er war nicht utopisch.
Was aber war die Utopie vom Neuen Menschen? Und wie kam sie in die Köpfe von Revolutionären? Tetzner führt den Traum von der Gottwerdung des Menschen auf das frühe Christentum zurück. Schon immer hätten Menschen im Glauben ihre eigene Beschränktheit erfahren und die Kluft zwischen Gott und ihnen als Mangel empfunden. Sie wollten Gott nicht nur erkennen. Sie wollten vielmehr sein, was sie selbst nicht waren. Auf der Suche nach Vollkommenheit habe die russische Intelligenzija die säkulare Moderne mit der Religion versöhnt und den frühchristlichen Traum vom Neuen Menschen wiederbelebt. Die Mystik der Ostkirche sei mit der Philosophie Hegels, Schellings und Nietzsches zu einer Einheit verbunden worden. Und so habe die russische Intelligenzija das Schisma, das die lateinische von der orthodoxen Christenheit getrennt habe, "säkular unterlaufen".
"Wer Schmerz und Angst besiegen wird, der wird selbst Gott sein", hatte Dostojewski seine Romanfigur Kirillow in den "Dämonen" sagen lassen. "Der Mensch wird Gott sein und sich physisch verändern." Der mystische Philosoph Solowjew träumte von der Gottwerdung der Menschheit, von einem Zusammenwirken Gottes mit einem Werdenden. Erst wenn die Menschheit in der Gemeinschaft der Werdenden zu Gott geworden sei, könne sie vollständige Wahrheit über sich selbst erlangen und sich erlösen. Die Menschheit trage die göttliche Idee in sich, und durch Vernunfteinsicht könne sie sie auch verwirklichen. In anderen Varianten wurden diese Phantasien auch von Nikolaj Berdjajew oder Sergei Bulgakow vorgetragen. Der Mensch befreie sich von allen Beschränkungen, indem er erkenne, dass er Schöpfer seiner selbst sei, Gott werde.
Aber es gab nicht nur religiöse Ausdrucksformen des Gottmenschentums. Menschen konnten auch zu Gott werden, ohne damit eine religiöse Vorstellung zu verbinden. Eugeniker und Physiologen träumten von Verfahren, die Übermenschen produzieren sollten. Nicht der Zufall, sondern rationale Planung sollte Menschen hervorbringen, die weder Schwächen noch Leiden kannten. Die Genetik, so schrieb Walerian Murawjew, ein Wirrkopf, der am tayloristischen "Zentralinstitut für Arbeit" in Moskau arbeitete, habe die Aufgabe, die zufällige Produktion "wertvoller" und "minderwertiger" Menschen zu beenden und nur noch Übermenschen herzustellen. Es müssten Körper geschaffen werden, die sich von Licht ernährten und alle körperlichen Bedürfnisse verlören. Wenn die Erde erst einmal organisiert sei, werde sie nur noch aus Mathematikern wie Newton und Dichtern wie Molière bestehen. Der Psychotherapeut Aron Zalkind sah in der Bourgeoisie eine Klasse, die in ihrer Verweichlichung keine Überlebenschance habe. Sie werde als Schicht von Degenerierten "verwesen", das Proletariat hingegen sei durch Leid und Entbehrungen gestählt und für das Überleben programmiert. Deshalb müsse das sexuelle Interesse am Klassenfeind als Perversion gesehen werden, so wie die sexuelle Neigung eines Menschen zu einem Orang-Utan.
Vom perfekten Menschheitskollektiv träumten auch Maxim Gorki, der Schriftsteller der Revolution, und Anatoli Lunatscharski, der Bildungsminister des jungen Sowjetstaates. Der Mensch werde alle Krankheiten und vielleicht auch den Tod besiegen, prophezeite Gorki. Und Lunatscharski hoffte, die proletarische Bewegung werde den Menschen von all seinen Mängeln "reinwaschen" und den Intellektuellen zu einer Wiedergeburt verhelfen. Wie aber sollte das geschehen? Darauf gab der Proletkult-Autor Alexei Gastew die schlimmste aller Antworten: Die Seelen der Arbeiter sollten mit dem Metall und den Maschinen verschmelzen, die sie bedienten, und sich nur noch im Rhythmus der Fabrik bewegen. Der Mensch war zu einem perfekten Wesen geworden, aber er hatte seine Freiheit verloren, über sich selbst zu entscheiden.
Tschernyschewski, Lenin und die Funktionäre des stalinistischen Aufbauprogramms hatten nur ein instrumentelles Verhältnis zur Idee des Neuen Menschen. Ihnen kam es darauf an, dass sich der Mensch für die Aufgaben der schönen neuen Welt abrichtete, disziplinierte und konditionierte. Er hatte also wenigstens eine Wahl. Solch einen Pragmatismus aber hält Tetzner für eine schnöde Herabwürdigung einer großen Idee. "Sollte also das konkurrierende Individuum vernünftiger sein als eine integrierte Menschheit?", fragt Tetzner und gibt darauf sogleich eine eindeutige Antwort. "Wir bezweifeln es." Denn das bürgerliche Individuum sei nicht der Gipfel der menschlichen Entwicklung. Wer aber möchte in einer Welt der Gleichen leben? Wer könnte diese Langeweile aushalten, ohne verrückt zu werden? Mit Thomas Bernhard könnte man darauf antworten: Wir brauchen uns nicht zu schämen, denn wir sind nichts, und wir verdienen nichts als das Chaos.
JÖRG BABEROWSKI
Thomas Tetzner: "Der kollektive Gott". Zur Ideengeschichte des "Neuen Menschen" in Russland.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 399 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Selbsterlösung als Programm: Thomas Tetzners Ideengeschichte des Kollektivs der Zukunft in Russland
Menschen sind sterblich. Für manche Menschen ist das ein Trost, für die meisten ist es ein unerträglicher Gedanke, nicht mehr da zu sein. Sie wollen, dass ihre Existenz den Tod überdauert, dass der Tod besiegt wird. Sie wollen keine sterblichen Kreaturen, sondern Übermenschen sein, zu Gott werden. Von ihnen erzählt Thomas Tetzner in seiner Ideengeschichte des Neuen Menschen in Russland.
In der Geschichtsschreibung sei die Idee des Neuen Menschen mit der Hybris des bolschewistischen Projekts verbunden worden, schreibt Tetzner. Seht nur, wohin es führt, wenn Menschen sich anmaßen, Gott zu spielen, hätten die Historiker gesagt und auf Stalins Terror verwiesen. Solch ein Vorwurf aber stelle die Tatsachen auf den Kopf. Denn die Idee vom Neuen Menschen sei nicht in den Köpfen stalinistischer Technokraten entstanden, sondern eine Utopie aus dem Geist des Christentums gewesen. Die Bolschewiki hätten mit ihr nur wenig anfangen können, Lenin habe die Rede von der Vergöttlichung des Menschen für Unfug gehalten. Der Stalinismus war also irrational, aber er war nicht utopisch.
Was aber war die Utopie vom Neuen Menschen? Und wie kam sie in die Köpfe von Revolutionären? Tetzner führt den Traum von der Gottwerdung des Menschen auf das frühe Christentum zurück. Schon immer hätten Menschen im Glauben ihre eigene Beschränktheit erfahren und die Kluft zwischen Gott und ihnen als Mangel empfunden. Sie wollten Gott nicht nur erkennen. Sie wollten vielmehr sein, was sie selbst nicht waren. Auf der Suche nach Vollkommenheit habe die russische Intelligenzija die säkulare Moderne mit der Religion versöhnt und den frühchristlichen Traum vom Neuen Menschen wiederbelebt. Die Mystik der Ostkirche sei mit der Philosophie Hegels, Schellings und Nietzsches zu einer Einheit verbunden worden. Und so habe die russische Intelligenzija das Schisma, das die lateinische von der orthodoxen Christenheit getrennt habe, "säkular unterlaufen".
"Wer Schmerz und Angst besiegen wird, der wird selbst Gott sein", hatte Dostojewski seine Romanfigur Kirillow in den "Dämonen" sagen lassen. "Der Mensch wird Gott sein und sich physisch verändern." Der mystische Philosoph Solowjew träumte von der Gottwerdung der Menschheit, von einem Zusammenwirken Gottes mit einem Werdenden. Erst wenn die Menschheit in der Gemeinschaft der Werdenden zu Gott geworden sei, könne sie vollständige Wahrheit über sich selbst erlangen und sich erlösen. Die Menschheit trage die göttliche Idee in sich, und durch Vernunfteinsicht könne sie sie auch verwirklichen. In anderen Varianten wurden diese Phantasien auch von Nikolaj Berdjajew oder Sergei Bulgakow vorgetragen. Der Mensch befreie sich von allen Beschränkungen, indem er erkenne, dass er Schöpfer seiner selbst sei, Gott werde.
Aber es gab nicht nur religiöse Ausdrucksformen des Gottmenschentums. Menschen konnten auch zu Gott werden, ohne damit eine religiöse Vorstellung zu verbinden. Eugeniker und Physiologen träumten von Verfahren, die Übermenschen produzieren sollten. Nicht der Zufall, sondern rationale Planung sollte Menschen hervorbringen, die weder Schwächen noch Leiden kannten. Die Genetik, so schrieb Walerian Murawjew, ein Wirrkopf, der am tayloristischen "Zentralinstitut für Arbeit" in Moskau arbeitete, habe die Aufgabe, die zufällige Produktion "wertvoller" und "minderwertiger" Menschen zu beenden und nur noch Übermenschen herzustellen. Es müssten Körper geschaffen werden, die sich von Licht ernährten und alle körperlichen Bedürfnisse verlören. Wenn die Erde erst einmal organisiert sei, werde sie nur noch aus Mathematikern wie Newton und Dichtern wie Molière bestehen. Der Psychotherapeut Aron Zalkind sah in der Bourgeoisie eine Klasse, die in ihrer Verweichlichung keine Überlebenschance habe. Sie werde als Schicht von Degenerierten "verwesen", das Proletariat hingegen sei durch Leid und Entbehrungen gestählt und für das Überleben programmiert. Deshalb müsse das sexuelle Interesse am Klassenfeind als Perversion gesehen werden, so wie die sexuelle Neigung eines Menschen zu einem Orang-Utan.
Vom perfekten Menschheitskollektiv träumten auch Maxim Gorki, der Schriftsteller der Revolution, und Anatoli Lunatscharski, der Bildungsminister des jungen Sowjetstaates. Der Mensch werde alle Krankheiten und vielleicht auch den Tod besiegen, prophezeite Gorki. Und Lunatscharski hoffte, die proletarische Bewegung werde den Menschen von all seinen Mängeln "reinwaschen" und den Intellektuellen zu einer Wiedergeburt verhelfen. Wie aber sollte das geschehen? Darauf gab der Proletkult-Autor Alexei Gastew die schlimmste aller Antworten: Die Seelen der Arbeiter sollten mit dem Metall und den Maschinen verschmelzen, die sie bedienten, und sich nur noch im Rhythmus der Fabrik bewegen. Der Mensch war zu einem perfekten Wesen geworden, aber er hatte seine Freiheit verloren, über sich selbst zu entscheiden.
Tschernyschewski, Lenin und die Funktionäre des stalinistischen Aufbauprogramms hatten nur ein instrumentelles Verhältnis zur Idee des Neuen Menschen. Ihnen kam es darauf an, dass sich der Mensch für die Aufgaben der schönen neuen Welt abrichtete, disziplinierte und konditionierte. Er hatte also wenigstens eine Wahl. Solch einen Pragmatismus aber hält Tetzner für eine schnöde Herabwürdigung einer großen Idee. "Sollte also das konkurrierende Individuum vernünftiger sein als eine integrierte Menschheit?", fragt Tetzner und gibt darauf sogleich eine eindeutige Antwort. "Wir bezweifeln es." Denn das bürgerliche Individuum sei nicht der Gipfel der menschlichen Entwicklung. Wer aber möchte in einer Welt der Gleichen leben? Wer könnte diese Langeweile aushalten, ohne verrückt zu werden? Mit Thomas Bernhard könnte man darauf antworten: Wir brauchen uns nicht zu schämen, denn wir sind nichts, und wir verdienen nichts als das Chaos.
JÖRG BABEROWSKI
Thomas Tetzner: "Der kollektive Gott". Zur Ideengeschichte des "Neuen Menschen" in Russland.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 399 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Thomas Tetzner widmet sich in seinem Buch "Der kollektive Gott" einer Ideengeschichte der Utopie vom Neuen Menschen, berichtet Jörg Baberowski. Diese Utopie sei entschieden älter als jene stalinistischen Technokraten, denen sie gerne untergejubelt wird, erfährt der Rezensent von Tetzner, im Grunde sei sie christlichen Ursprungs: die Mystiker des frühen Christentums empfanden die Kluft zwischen sich und Gott als Mangel und wollten sie überbrücken, der neue Mensch wäre ein göttlicher, meinten sie, wie Baberowski zusammenfasst. Die russische Intelligenzija hat dieses Motiv dann im Grunde nur "säkular unterlaufen", erklärt der Rezensent, der Mensch galt als seine eigene Schöpfung, der Abgrund klaffte nunmehr zwischen ihm und seinem wahren Selbst, das weder Leiden noch Schwäche kennen würde. Solche Gedanken riefen allerdings auch düsterere Gestalten auf den Plan: auch die Eugenik widmete sich fortan der Produktion "wertvoller" Menschen, weiß Baberowski. Doch Tetzner mache sich dafür stark, die Idee des neuen Menschen eben nicht auf solch fehlgeleitete Interpretationen zu beschränken, berichtet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH