Es geht um das Leben von Dora W., eine Frau aus einfachen Verhältnissen, die aus Schlesien nach Dresden kommt, mit sechzehn Mutter wird und mit fünfundzwanzig den Untergang der Stadt im Bombenkrieg miterlebt. Am Beispiel ihres Lebens wird erzählt, wie Geschichte den Geschichtslosen widerfährt, zuletzt als Schrecken und zu späte Einsicht.
Ziegenhüterin auf dem Lande, dann Ladenmädchen und Gärtnereigehilfin in einer niederschlesischen Kleinstadt sind Doras erste Lebensstationen, bevor sie in dem Schlachtergesellen Oskar den Mann fürs Leben findet und ihm nach Dresden folgt, um dort eine Familie zu gründen. Eine kurze Zeit ist ihr dort geschenkt; es sind ihre goldenen Jahre, wie es scheint, aber dann stürzt die Perspektive, und es ereilt sie wie alle anderen der Krieg und mit ihm das Ende Dresdens in einer von Großmachtstreben und Rassenwahn vergifteten Gesellschaft.
Durs Grünbein verfolgt ein Einzelschicksal im historischen Kontext vor und nach dem Einmarsch des Nationalsozialismus in jedes einzelne Leben. Was macht die Diktatur aus den Menschen, die den Anforderungen kaum gewachsen sind und sich recht und schlecht durchschlagen? Dabei gewinnt das Auftauchen des Halleyschen Kometen im Jahre 1910, das Weltuntergangsfantasien befeuerte, eine symbolische Bedeutung für die Vernichtung der sächsischen Metropole im Feuersturm des Februars 1945.
Ziegenhüterin auf dem Lande, dann Ladenmädchen und Gärtnereigehilfin in einer niederschlesischen Kleinstadt sind Doras erste Lebensstationen, bevor sie in dem Schlachtergesellen Oskar den Mann fürs Leben findet und ihm nach Dresden folgt, um dort eine Familie zu gründen. Eine kurze Zeit ist ihr dort geschenkt; es sind ihre goldenen Jahre, wie es scheint, aber dann stürzt die Perspektive, und es ereilt sie wie alle anderen der Krieg und mit ihm das Ende Dresdens in einer von Großmachtstreben und Rassenwahn vergifteten Gesellschaft.
Durs Grünbein verfolgt ein Einzelschicksal im historischen Kontext vor und nach dem Einmarsch des Nationalsozialismus in jedes einzelne Leben. Was macht die Diktatur aus den Menschen, die den Anforderungen kaum gewachsen sind und sich recht und schlecht durchschlagen? Dabei gewinnt das Auftauchen des Halleyschen Kometen im Jahre 1910, das Weltuntergangsfantasien befeuerte, eine symbolische Bedeutung für die Vernichtung der sächsischen Metropole im Feuersturm des Februars 1945.
»Schon auf den ersten Seiten von Der Komet wird die Katastrophe kurz vorweggenommen: Der Luftkrieg, dieser grausame Komet am Ende des Zweiten Weltkriegs, wird kommen. Auf einer spiralförmigen Flugbahn folgt er einer politischen Schwerkraft und nähert sich in Grünbeins Buch Seite für Seite der Einschlagstelle. Es ist äusserst klug, wie der Autor das erzählerisch macht.« Paul Jandl Neue Zürcher Zeitung 20231215
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Die Bombardierung Dresdens wirkt bis heute ideologisch und familiengeschichtlich nach, jetzt nimmt sich Durs Grünbein dem Thema an, dessen Großmutter diesen Angriff am eigenen Leib erlebt hat, weiß Rezensentin Gisa Funck. "Der Gefahr der sentimentalen Geschichtsverklärung", die mit einer solchen familiären Perspektive einhergeht, entgeht Grünbein durch betonte Nüchternheit, was allerdings auch nicht ganz einfach zu lesen ist, wie Funck einräumt. Erst im zweiten der drei Kapitel gewinnt Dora, die Protagonistin, ein bisschen Leben, etwas unnötig kommen der Kritikerin da aber die vielen Wiederholungen und Detailbeschreibungen vor, die der Autor ganz in der Manier der gelehrten Dichters einfließen lässt. Überzeugt ist sie hingegen vom dritten Teil des Buches, der ihr klar macht, dass auch Menschen wie Dora, keine Hitler-Fans, aber doch Dulderinnen, ihren Teil zur Nazi-Herrschaft beigetragen haben und eine einfache Gut-Böse-Einteilung selten sinnvoll ist, wie sie schließt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2023Dresden als geistige Überlebensform
Mythos des Opfers: Durs Grünbeins Geschichte seiner Großmutter ist ein Porträt der deutschen Gesellschaft im Dritten Reich - und erschreckend aktuell.
Vor acht Jahren erschien Durs Grünbeins Buch "Die Jahre im Zoo". Es war sein erstes dezidiert autobiographisches Buch, und als Gattung dafür hatte Grünbein die Bezeichnung "Ein Kaleidoskop" gewählt (optische Metaphern sind ein wiederkehrendes Motiv im lyrischen und essayistischen Werk des Büchnerpreisträgers, und dem Kaleidoskop selbst galt auch eines von drei Gedichten, die Grünbein damals in den Text integrierte). Thema des Bandes waren Erinnerungen Grünbeins an Dresden, wo er 1962 geboren wurde und bis in die Achtzigerjahre lebte. Erschienen im Jahr 2015, mitten in der "Flüchtlingskrise" und zur Hochzeit von PEGIDA, wurde diese Rückbesinnung des Dichters als Kommentar und Korrektiv zur Dresdner Selbstbezüglichkeit wahrgenommen. Diese Haltung konkretisierte sich 2018 im öffentlichen Streitgespräch mit seinem ebenfalls aus Dresden stammenden Kollegen Uwe Tellkamp. Fortan galt Grünbein, der in den Neunzigern als erster gesamtdeutscher Dichter gefeiert worden war und seit vielen Jahren abwechselnd in Berlin und Rom lebt, als Verkörperung eines anderen, weltoffenen Dresdens.
Nun ist er zurückgekehrt in seine Stadt, mit einem Buch, das gar keine Gattungsbezeichnung mehr trägt: "Der Komet". Wobei auf einer separaten Seite noch ein weiterer Titel folgt: "Die Geschichte der Dora W.". Der Text steht in der Tat zwischen den Genres. Einerseits ist er Erinnerung, denn der nur an wenigen Stellen auftretende Ich-Erzähler ist Grünbein selbst, und das Personal rekrutiert sich aus seiner Familie von den Urgroßeltern an. Andererseits handelt es sich um ein notwendig fiktionales Buch, denn die Haupthandlung endet siebzehn Jahre vor Grünbeins Geburt, am 14. Februar 1945, dem zweiten Tag der verheerenden alliierten Bombenangriffe auf Dresden, die schließlich Zehntausende Tote und eine weitgehend vernichtete Innenstadt zurückließen, in der als symbolträchtigste Zerstörung die nach einem Brand im Inneren ausgeglühte Frauenkirche am 15. Februar zusammenstürzte.
Da ist Dora Wachtel, die Protagonistin des Buchs, wohl schon in Pirna angekommen, um ihre Töchter wiederzufinden, die in der Bombennacht vom 13. auf den 14. Februar von einer befreundeten Nachbarin der Familie aus der Stadt in Sicherheit gebracht wurden. "Wohl", weil Grünbein nicht über den 14. Februar hinaus erzählt; wir verlassen Dora fiebernd und stolpernd auf ihrem Weg durch die Trümmerlandschaft rund um die innerstädtische Liliengasse, wo die Wachtels ihre Wohnung haben. Dora selbst lag in der ersten Bombennacht scharlachkrank im Hospital, auch das musste geräumt werden - man kann Grünbeins atemnehmende letzte zwanzig Seiten, die den Angriff auf Dresden schildern, nicht lesen, ohne an die aktuellen Kriegsereignisse in Ost und Nahost zu denken. Das ist ganz im Sinne des Autors, der über die Motivation, dieses Buch zu schreiben, kürzlich gesagt hat: "Nur im Fall Dresdens hat sich die Zerstörung zum Gesamttrauma entwickelt." Er meint das anklagend und spricht angesichts der Sentimentalität der Dresdner von der "Edelfäule der Stadt".
Es gibt viele deutsche Städte (und ausländische, zeitlich allen voran Warschau), die im Zweiten Weltkrieg schlimmer zerstört worden sind, aber nur in Dresden bildete sich um den Untergang ein Mythos, der bis heute die Sonderrolle begründet, die dessen Bewohner für sich und ihre Stadt in Anspruch nehmen. Grünbein erzählt nun in "Der Komet" die Vorgeschichte des Angriffs, ganz auf Dresden beschränkt und zusätzlich fokussiert auf die Familie Wachtel - Mutter, Vater, zwei kleine Töchter (die jüngere davon wird später Grünbeins Mutter werden) - und doch als Porträt der deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus. Dora, Kind einer besitzlosen Familie aus Schlesien, ist 1936 als Sechzehnjährige einem zehn Jahre älteren Schlachter nach Dresden gefolgt, in den sie sich verliebt hatte; bereits ein Jahr später wird die erste Tochter geboren. Dora durchlebt ihre Jugend- und jungen Erwachsenenjahre also im Dritten Reich, und Grünbein bietet über ihre quasi noch kindliche Perspektive einen unschuldigen Blick, gleichsam aber auch eine Panoramaansicht, in der sich Prunk und Perfidie des Regimes spiegeln. Brillant, wie da das nationalsozialistische Dresden topographiert wird - als Totalitarismus aus der Untersicht, erst sozial verstanden, dann ganz buchstäblich aus den Luftschutzkellern. "Wir sind immer die Dummen gewesen", zitiert der Ich-Erzähler einmal eine ihm gegenüber häufig gebrauchte Wendung seiner Großmutter und ergänzt selbst: "ein Satz, der sich wie ein Leitmotiv durch die Familie zog". Und nicht nur durch sie.
"Der Komet" heißt das Buch, weil Dora so gerne zum Himmel blickt, die Zeppeline bestaunt, nach günstigen Zeichen sucht. Sie hat vom Halleyschen Kometen erzählt bekommen, der 1910, lange vor ihrer Geburt, die Erde passierte: "Sie sprach von ihm wie von einem vertrauten Ereignis, aber sie konnte es doch höchstens vom Hörensagen kennen. Wer hatte schon, mit eigenen Augen, einen Kometen auf die Erde zurasen gesehen?" Im weiteren Verlauf wird Dora mehr als das auf die Erde zurasen sehen. Wie Grünbein gestreut über das Buch Akzente setzt (die meisten davon wieder optischer Natur), die auf das vorausweisen, um dessen Kommen wir doch alle wissen, aber eben Dora nicht, ist meisterhaft.
Wenn Grünbein selbst seine Quellenlage als "relativ schütter" bezeichnet hat, bezieht sich das auf den Bestand an Familiendokumenten, nicht auf die sorgsame Recherche, die dem Buch vorangegangen sein muss, und schon gar nicht auf die Intensität der eigenen Erinnerung an seine Großmutter: "Es gibt ein paar Dinge, die sie mir erzählt hat, die unvergesslich sind", sagt er heute. Diese Einschätzung deckt sich mit den spärlichen, aber desto eindrucksvolleren Passagen im Buch, in denen es aus seiner Rolle fällt, indem es Jahrzehnte in die Zukunft ausgreift und ins Wohnzimmer der Familie geht, wo der Enkel sich von der Großmutter erzählen lässt. Sein Erstaunen - das den die Haupthandlung prägenden adoleszenten Blick der Mutter noch einmal reproduziert - ist tiefbewegend.
Ganz kurz, bevor das todbringende Finale des Buchs einsetzt, tritt der Ich-Erzähler zum letzten Mal persönlich auf, nachdem zuvor berichtet wurde, dass im Winter 1942 ein Cousin Doras in Dresden zu Besuch gekommen ist, der ihr davon erzählt, was er als Wachmann in Treblinka gesehen hat. Diese Szene geht unmittelbar über zur Schilderung eines Gesprächs, das in den späten Siebzigerjahren stattgefunden haben muss: "Dora hatte sich in den Sessel gesetzt, vor den runden Tisch in der Ecke des Wohnzimmers, wir waren allein, es brach aus ihr heraus. In der Familie wunderte man sich später, wenn ich davon erzählte, als hätte ich das alles erfunden. Aber es war so gewesen, es war etwas, das sie hatte mitteilen wollen. Ich war damals noch jung, ein halbes Kind, das viele Stunden bei ihr verbrachte, nichts deutete darauf hin, daß ich eines Tages nur noch für das Schreiben leben würde, aber sie hatte da etwas in mir erkannt und mich beiseite genommen."
Der Auftrag für "Der Komet" wird auf die Großmutter zurückgeführt, und es wundert nicht, dass Grünbein bei Erscheinen des Buchs erklärt hat, schon lange gewusst zu haben, dass er es schreiben würde. Er sagte aber auch: "Das Buch hätte nicht geschrieben werden können ohne den aktuellen Einbruch der Geschichte, des Krieges."
Denn wie wird das Empfinden der Dresdner darin charakterisiert? "Als wären sie alle paralysiert worden vom Tempo der Ereignisse. Als hätten sie ihr Leben in diesen zwölf Jahren in einem irrsinnigen Zeitraffer gelebt, im Blitzkriegmodus, überrumpelt von einer Dynamik, die alle und alles erfasste. Gestern noch Frieden und morgen schon Krieg." Wir kennen das leider mittlerweile selbst. Es ist so aber noch nicht erzählt worden, konnte es wohl auch bisher nicht. ANDREAS PLATTHAUS
Durs Grünbein: "Der Komet".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
285 S., 9 Abb., 1 Karte, geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mythos des Opfers: Durs Grünbeins Geschichte seiner Großmutter ist ein Porträt der deutschen Gesellschaft im Dritten Reich - und erschreckend aktuell.
Vor acht Jahren erschien Durs Grünbeins Buch "Die Jahre im Zoo". Es war sein erstes dezidiert autobiographisches Buch, und als Gattung dafür hatte Grünbein die Bezeichnung "Ein Kaleidoskop" gewählt (optische Metaphern sind ein wiederkehrendes Motiv im lyrischen und essayistischen Werk des Büchnerpreisträgers, und dem Kaleidoskop selbst galt auch eines von drei Gedichten, die Grünbein damals in den Text integrierte). Thema des Bandes waren Erinnerungen Grünbeins an Dresden, wo er 1962 geboren wurde und bis in die Achtzigerjahre lebte. Erschienen im Jahr 2015, mitten in der "Flüchtlingskrise" und zur Hochzeit von PEGIDA, wurde diese Rückbesinnung des Dichters als Kommentar und Korrektiv zur Dresdner Selbstbezüglichkeit wahrgenommen. Diese Haltung konkretisierte sich 2018 im öffentlichen Streitgespräch mit seinem ebenfalls aus Dresden stammenden Kollegen Uwe Tellkamp. Fortan galt Grünbein, der in den Neunzigern als erster gesamtdeutscher Dichter gefeiert worden war und seit vielen Jahren abwechselnd in Berlin und Rom lebt, als Verkörperung eines anderen, weltoffenen Dresdens.
Nun ist er zurückgekehrt in seine Stadt, mit einem Buch, das gar keine Gattungsbezeichnung mehr trägt: "Der Komet". Wobei auf einer separaten Seite noch ein weiterer Titel folgt: "Die Geschichte der Dora W.". Der Text steht in der Tat zwischen den Genres. Einerseits ist er Erinnerung, denn der nur an wenigen Stellen auftretende Ich-Erzähler ist Grünbein selbst, und das Personal rekrutiert sich aus seiner Familie von den Urgroßeltern an. Andererseits handelt es sich um ein notwendig fiktionales Buch, denn die Haupthandlung endet siebzehn Jahre vor Grünbeins Geburt, am 14. Februar 1945, dem zweiten Tag der verheerenden alliierten Bombenangriffe auf Dresden, die schließlich Zehntausende Tote und eine weitgehend vernichtete Innenstadt zurückließen, in der als symbolträchtigste Zerstörung die nach einem Brand im Inneren ausgeglühte Frauenkirche am 15. Februar zusammenstürzte.
Da ist Dora Wachtel, die Protagonistin des Buchs, wohl schon in Pirna angekommen, um ihre Töchter wiederzufinden, die in der Bombennacht vom 13. auf den 14. Februar von einer befreundeten Nachbarin der Familie aus der Stadt in Sicherheit gebracht wurden. "Wohl", weil Grünbein nicht über den 14. Februar hinaus erzählt; wir verlassen Dora fiebernd und stolpernd auf ihrem Weg durch die Trümmerlandschaft rund um die innerstädtische Liliengasse, wo die Wachtels ihre Wohnung haben. Dora selbst lag in der ersten Bombennacht scharlachkrank im Hospital, auch das musste geräumt werden - man kann Grünbeins atemnehmende letzte zwanzig Seiten, die den Angriff auf Dresden schildern, nicht lesen, ohne an die aktuellen Kriegsereignisse in Ost und Nahost zu denken. Das ist ganz im Sinne des Autors, der über die Motivation, dieses Buch zu schreiben, kürzlich gesagt hat: "Nur im Fall Dresdens hat sich die Zerstörung zum Gesamttrauma entwickelt." Er meint das anklagend und spricht angesichts der Sentimentalität der Dresdner von der "Edelfäule der Stadt".
Es gibt viele deutsche Städte (und ausländische, zeitlich allen voran Warschau), die im Zweiten Weltkrieg schlimmer zerstört worden sind, aber nur in Dresden bildete sich um den Untergang ein Mythos, der bis heute die Sonderrolle begründet, die dessen Bewohner für sich und ihre Stadt in Anspruch nehmen. Grünbein erzählt nun in "Der Komet" die Vorgeschichte des Angriffs, ganz auf Dresden beschränkt und zusätzlich fokussiert auf die Familie Wachtel - Mutter, Vater, zwei kleine Töchter (die jüngere davon wird später Grünbeins Mutter werden) - und doch als Porträt der deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus. Dora, Kind einer besitzlosen Familie aus Schlesien, ist 1936 als Sechzehnjährige einem zehn Jahre älteren Schlachter nach Dresden gefolgt, in den sie sich verliebt hatte; bereits ein Jahr später wird die erste Tochter geboren. Dora durchlebt ihre Jugend- und jungen Erwachsenenjahre also im Dritten Reich, und Grünbein bietet über ihre quasi noch kindliche Perspektive einen unschuldigen Blick, gleichsam aber auch eine Panoramaansicht, in der sich Prunk und Perfidie des Regimes spiegeln. Brillant, wie da das nationalsozialistische Dresden topographiert wird - als Totalitarismus aus der Untersicht, erst sozial verstanden, dann ganz buchstäblich aus den Luftschutzkellern. "Wir sind immer die Dummen gewesen", zitiert der Ich-Erzähler einmal eine ihm gegenüber häufig gebrauchte Wendung seiner Großmutter und ergänzt selbst: "ein Satz, der sich wie ein Leitmotiv durch die Familie zog". Und nicht nur durch sie.
"Der Komet" heißt das Buch, weil Dora so gerne zum Himmel blickt, die Zeppeline bestaunt, nach günstigen Zeichen sucht. Sie hat vom Halleyschen Kometen erzählt bekommen, der 1910, lange vor ihrer Geburt, die Erde passierte: "Sie sprach von ihm wie von einem vertrauten Ereignis, aber sie konnte es doch höchstens vom Hörensagen kennen. Wer hatte schon, mit eigenen Augen, einen Kometen auf die Erde zurasen gesehen?" Im weiteren Verlauf wird Dora mehr als das auf die Erde zurasen sehen. Wie Grünbein gestreut über das Buch Akzente setzt (die meisten davon wieder optischer Natur), die auf das vorausweisen, um dessen Kommen wir doch alle wissen, aber eben Dora nicht, ist meisterhaft.
Wenn Grünbein selbst seine Quellenlage als "relativ schütter" bezeichnet hat, bezieht sich das auf den Bestand an Familiendokumenten, nicht auf die sorgsame Recherche, die dem Buch vorangegangen sein muss, und schon gar nicht auf die Intensität der eigenen Erinnerung an seine Großmutter: "Es gibt ein paar Dinge, die sie mir erzählt hat, die unvergesslich sind", sagt er heute. Diese Einschätzung deckt sich mit den spärlichen, aber desto eindrucksvolleren Passagen im Buch, in denen es aus seiner Rolle fällt, indem es Jahrzehnte in die Zukunft ausgreift und ins Wohnzimmer der Familie geht, wo der Enkel sich von der Großmutter erzählen lässt. Sein Erstaunen - das den die Haupthandlung prägenden adoleszenten Blick der Mutter noch einmal reproduziert - ist tiefbewegend.
Ganz kurz, bevor das todbringende Finale des Buchs einsetzt, tritt der Ich-Erzähler zum letzten Mal persönlich auf, nachdem zuvor berichtet wurde, dass im Winter 1942 ein Cousin Doras in Dresden zu Besuch gekommen ist, der ihr davon erzählt, was er als Wachmann in Treblinka gesehen hat. Diese Szene geht unmittelbar über zur Schilderung eines Gesprächs, das in den späten Siebzigerjahren stattgefunden haben muss: "Dora hatte sich in den Sessel gesetzt, vor den runden Tisch in der Ecke des Wohnzimmers, wir waren allein, es brach aus ihr heraus. In der Familie wunderte man sich später, wenn ich davon erzählte, als hätte ich das alles erfunden. Aber es war so gewesen, es war etwas, das sie hatte mitteilen wollen. Ich war damals noch jung, ein halbes Kind, das viele Stunden bei ihr verbrachte, nichts deutete darauf hin, daß ich eines Tages nur noch für das Schreiben leben würde, aber sie hatte da etwas in mir erkannt und mich beiseite genommen."
Der Auftrag für "Der Komet" wird auf die Großmutter zurückgeführt, und es wundert nicht, dass Grünbein bei Erscheinen des Buchs erklärt hat, schon lange gewusst zu haben, dass er es schreiben würde. Er sagte aber auch: "Das Buch hätte nicht geschrieben werden können ohne den aktuellen Einbruch der Geschichte, des Krieges."
Denn wie wird das Empfinden der Dresdner darin charakterisiert? "Als wären sie alle paralysiert worden vom Tempo der Ereignisse. Als hätten sie ihr Leben in diesen zwölf Jahren in einem irrsinnigen Zeitraffer gelebt, im Blitzkriegmodus, überrumpelt von einer Dynamik, die alle und alles erfasste. Gestern noch Frieden und morgen schon Krieg." Wir kennen das leider mittlerweile selbst. Es ist so aber noch nicht erzählt worden, konnte es wohl auch bisher nicht. ANDREAS PLATTHAUS
Durs Grünbein: "Der Komet".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
285 S., 9 Abb., 1 Karte, geb., 25,- Euro.
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