Lukas Hartmann, dessen jüngster Roman "Die Frau im Pelz" ein großer Erfolg war, erzählt in "Der Konvoi" eine Episode aus den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs und eine Liebesgeschichte: Für den jungen Soldaten Samuel wird die Begegnung mit der aparten Russin Helene zu einem unvorhergesehenen Abenteuer, das seine Gefühle aufrührt und sein Weltbild auf den Kopf stellt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.1997Mitteilung an die Truppe
Lakonisch: Lukas Hartmann erzählt von einer Liebe im November 1918
Die Hauptperson, aus deren Perspektive der Roman "Der Konvoi" des dreiundfünfzigjährigen Schweizers Lukas Hartmann größtenteils erzählt wird, ist der eidgenössische Füsilier Samuel Brülhart. Im Jahre 1915 hat er beim Verteilen von Geschenken in einem deutschen und in einem französischen Lazarettzug erleben müssen, wie "zerschossenes und zerfetztes Menschenfleisch" riecht; was er, ein einfacher Mann und Schullehrer aus einem "abgelegenen Kaff" in der neutralen Schweiz, in den folgenden Jahren über das Grauen auf den Kriegsschauplätzen erfährt, erschüttert ihn in seinen religiösen und weltlichen Grundansichten zutiefst. Als die eigentliche Handlung - sie trägt sich innerhalb von drei Tagen im November 1918 zu - beginnt, beschreibt er sich als jemanden, "der in seinem Leben nach vielstimmigen Klängen sucht und nicht nach unanfechtbaren Wahrheiten". Seine Verstörtheit manifestiert sich freilich nicht in unmittelbarer Revolte gegen Vorgesetzte, sondern in einer romantischen, den militärischen Verhaltenskodex verletzenden Verliebtheit in die junge russische Kommunistin Helene, die zusammen mit einigen Landsleuten aus dem Exil in der Schweiz über Deutschland ins revolutionäre Rußland abgeschoben werden soll. Brülhart begleitet den Konvoi als einer von mehreren Bewachern bis zur Grenze.
Hartmann erzählt diese Chronik eines beinahe gänzlich stillen Aufbegehrens und Scheiterns mit bemerkenswertem Einfühlungsvermögen. Unaufdringlich verwebt er die Einzelbilder der unerwarteten Mühen und Strapazen während der Reise mit den Reflexionen der Hauptfigur, während er das Häuflein der russischen Heimkehrer, das von naiver Heilsgewißheit ("Lernen Sie Russisch, das ist die künftige Weltsprache") wie von überaus bourgeoisen Ängsten erfüllt ist, für sich selber sprechen läßt. Der Epilog enthält die Mitteilung, der Soldat Brülhart sei nach dem Dienst bei der Truppe in sein Heimatdorf zurückgekehrt, habe dort seine Verlobte geheiratet, mit dieser sechs Kinder gezeugt und sich in seiner Gemeinde nützlich gemacht, während die Russin Helene, später Elena, "als Übersetzerin und Protokollantin bis zu Lenins Tod im Umkreis des Politbüros geblieben" und während der Zeit der "stalinistischen Säuberungen" verschwunden sei. Die unheimliche Zwangsläufigkeit, mit der diese Schicksale schon zur Zeit jener kleinen Reise vorgegeben scheinen, stellt Hartmann mit der unspektakulären Virtuosität des Könners dar. WOLFGANG STEUHL
Lukas Hartmann: "Der Konvoi". Roman. Nagel & Kimche Verlag, Zürich 1997. 224 S., geb., 38,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lakonisch: Lukas Hartmann erzählt von einer Liebe im November 1918
Die Hauptperson, aus deren Perspektive der Roman "Der Konvoi" des dreiundfünfzigjährigen Schweizers Lukas Hartmann größtenteils erzählt wird, ist der eidgenössische Füsilier Samuel Brülhart. Im Jahre 1915 hat er beim Verteilen von Geschenken in einem deutschen und in einem französischen Lazarettzug erleben müssen, wie "zerschossenes und zerfetztes Menschenfleisch" riecht; was er, ein einfacher Mann und Schullehrer aus einem "abgelegenen Kaff" in der neutralen Schweiz, in den folgenden Jahren über das Grauen auf den Kriegsschauplätzen erfährt, erschüttert ihn in seinen religiösen und weltlichen Grundansichten zutiefst. Als die eigentliche Handlung - sie trägt sich innerhalb von drei Tagen im November 1918 zu - beginnt, beschreibt er sich als jemanden, "der in seinem Leben nach vielstimmigen Klängen sucht und nicht nach unanfechtbaren Wahrheiten". Seine Verstörtheit manifestiert sich freilich nicht in unmittelbarer Revolte gegen Vorgesetzte, sondern in einer romantischen, den militärischen Verhaltenskodex verletzenden Verliebtheit in die junge russische Kommunistin Helene, die zusammen mit einigen Landsleuten aus dem Exil in der Schweiz über Deutschland ins revolutionäre Rußland abgeschoben werden soll. Brülhart begleitet den Konvoi als einer von mehreren Bewachern bis zur Grenze.
Hartmann erzählt diese Chronik eines beinahe gänzlich stillen Aufbegehrens und Scheiterns mit bemerkenswertem Einfühlungsvermögen. Unaufdringlich verwebt er die Einzelbilder der unerwarteten Mühen und Strapazen während der Reise mit den Reflexionen der Hauptfigur, während er das Häuflein der russischen Heimkehrer, das von naiver Heilsgewißheit ("Lernen Sie Russisch, das ist die künftige Weltsprache") wie von überaus bourgeoisen Ängsten erfüllt ist, für sich selber sprechen läßt. Der Epilog enthält die Mitteilung, der Soldat Brülhart sei nach dem Dienst bei der Truppe in sein Heimatdorf zurückgekehrt, habe dort seine Verlobte geheiratet, mit dieser sechs Kinder gezeugt und sich in seiner Gemeinde nützlich gemacht, während die Russin Helene, später Elena, "als Übersetzerin und Protokollantin bis zu Lenins Tod im Umkreis des Politbüros geblieben" und während der Zeit der "stalinistischen Säuberungen" verschwunden sei. Die unheimliche Zwangsläufigkeit, mit der diese Schicksale schon zur Zeit jener kleinen Reise vorgegeben scheinen, stellt Hartmann mit der unspektakulären Virtuosität des Könners dar. WOLFGANG STEUHL
Lukas Hartmann: "Der Konvoi". Roman. Nagel & Kimche Verlag, Zürich 1997. 224 S., geb., 38,80 DM.
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»Lukas Hartmann entfaltet eine große poetische Kraft, voller Sensibilität und beredter Stille.« Neue Zürcher Zeitung Neue Zürcher Zeitung