Ist der Koran eine Botschaft an die Heiden der arabischen Halbinsel, die innerhalb von nur 22 Jahren zur Gründung einer neuen Religion geführt hat? Ist er die schon kurz nach dem Tod ihres Verkünders kanonisierte heilige Schrift, die uns dennoch authentisch erhalten ist? Angesichts des beispiellosen Erfolgs des Koran ist es kein Wunder, daß diese Darstellung immer wieder in Frage gestellt und Hypothesen formuliert werden, die die frühislamische Geschichte umschreiben und den Koran in einer anderen Region, zu einer anderen Zeit und sogar ohne die Mitwirkung Muhammads entstehen lassen. Alle bisherigen Rekonstruktionen sind aber miteinander unvereinbar und ergeben kein plausibles Bild der Ereignisse, sondern werfen nur zahllose neue Probleme auf.Die Frage muß anders lauten: Ist der Koran wirklich ein rein islamischer und damit dem westlichen Leser fremder Text? Oder ist er nicht eher eine neue und eigenwillige Stimme in jenem Konzert spätantiker Debatten, mit denen auch die theologischen Grundlagen der jüdischen und christlichen Religion gelegt worden sind? Nicht den Koran müssen wir aufgrund neuer Handschriftenfunde oder mit Hilfe linguistischer Experimente ummodellieren - unsere Perspektive auf den Koran müssen wir entscheidend ändern, wenn wir seine revolutionäre Neuheit in den Blick bekommen wollen. Angelika Neuwirth, Leiterin des Projekts Corpus Coranicum - Dokumentierte Edition und historisch-literaturwissenschaftlicher Kommentar an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, liest den Koran als Text der Spätantike, einer Epoche, die auch für die europäische Kulturgeschichte formativ war. Der Koran wird so als ein vertrauter Text erkennbar, den wir unbeschadet zum 'europäischen Erbe' rechnen könnten, trennten ihn nicht uralte Vorurteile von einer unvoreingenommenen Wahrnehmung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2011Lesarten eines Korans, in dem Europa sich erkennen kann
Frucht der Forschung und intensiver Erfahrungen mit der islamischen Welt: Die Arabistin Angelika Neuwirth verortet den Koran in theologisch aufgeladenen Debatten der Spätantike.
Koranforschung war lange Zeit eine Angelegenheit weniger Orientalisten in ihren Studierstuben. Seit den Terroranschlägen des "11. September" hat sich das geändert. Der Koran hat Konjunktur, auch und gerade bei jenen, die keine Muslime sind, aber verstehen wollen, was der Islam ist, wie er entstand und was er eigentlich lehrt. Der Absatz von Koranübersetzungen steigt, viele Bürger lesen ihn nun in Übersetzungen "aus heiterem Himmel" und sind ob der Dinge, die sie darin finden, häufig verstört.
Eine unvorbereitete Lektüre des Korans ist ziemlich problematisch, daraus zu zitieren, ohne Zusammenhänge zu kennen, ebenfalls. Wer das tut, folgt ungewollt der unhinterfragten Lektüre radikaler Muslime, die allein dem Buchstaben folgen wollen, so als sei das Gesagte auch immer (und noch heute) das Gemeinte oder müsse es wenigstens sein. Vertreter der Islamkritik "bedienen" sich häufig unkritisch diverser Koranverse, doch ebenso die Verherrlicher des Islam, die Islamophilen.
Auch die professionelle Koranforschung, die lange Zeit in Deutschland ziemlich brachgelegen hatte, hat an Intensität wieder zugenommen. Lange waren Rudi Parets Koranübersetzung mit Konkordanz aus den sechziger Jahren, dazu die Arbeiten dieses Gelehrten über Muhammad und seine Welt so etwas wie das vorläufig letzte Wort gewesen. Doch die aktuellen, von Terrorismus und Kriegen mitgeprägten politischen Ereignisse haben auch die Aufmerksamkeit der Wissenschaft wieder stärker auf Inhalt wie Entstehungsgeschichte des Korans gelenkt.
Deutschland kann da an eine Tradition anknüpfen, die im 19. Jahrhundert und vor dem Ersten Weltkrieg entstanden war, dann aber leider abrupt abbrach: Gelehrte wie Abraham Geiger, Theodor Nöldeke, Friedrich Schwally, Karl Wollers, Julius Wellhausen und andere hatten sich philologisch und theologisch in den Korantext und seine sprachlichen, religionsgeschichtlichen und theologischen Schichten verbissen.
Angelika Neuwirth, Religionswissenschaftlerin und Arabistin aus Berlin, kennt den Koran nicht nur durch ihre intensiven Forschungen, sondern auch die Muslime und ihre aus dem Koran gespeiste Lebenswelt aus eigener Anschauung, sprich deren koranische Orthopraxie. Viele Jahre hat sie selbst unter Muslimen verbracht, unter anderem als Direktorin des Orientinstituts der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Beirut. Und sie leitet das Projekt Corpus Coranicum.
Auf mehr als achthundert Seiten versucht die Forscherin in ihrem neuen Buch über den "Koran als Text der Spätantike" auch einen neuen Zugang zum heiligen Buch der Muslime zu finden. Europäer lesen es, zumal als Christen, natürlich vor allem als die Gründungsurkunde einer konkurrierenden Religion, des Islam, die beansprucht, die religiösen Lehren von Judentum und Christentum zu verbessern und zu vollenden - vielleicht "aufzuheben" im Sinne Hegels. Nicht allein der Islam, sondern erst recht der Koran erscheint da als das "ganz andere", Fremde und - nicht zuletzt unter dem Einfluss des Terrorismus und fundamentalistischer Auslegungen - Bedrohliche. Dagegen sucht die Autorin auch inhaltlich einen "europäischen Zugang" zu diesem schwierigen Buch, dessen 114 Suren alleine der Länge nach aneinandergereiht sind.
Sie gibt einen Überblick über Geschichte und Stand der (westlichen) Koranforschung. Dem affirmativen, traditionellen Verständnis der Muslime, die lineare, auf wenige Jahre komprimierte Entstehungsgeschichte des Koran eingeschlossen, haben westliche Koranforscher zum Teil erheblich abweichende Deutungen und Variationen entgegengesetzt. Die angelsächsischen "Revisionisten" der Koranforschung (John Wansbrough, Patricia Crone, Michael Cook) kamen zu dem Ergebnis, in seiner vollständigen Gestalt habe der Koran erst etwa zweihundert Jahre nach dem Propheten vorgelegen, und er sei auch nicht im Hedschas, der Heimat Mohammeds, entstanden, sondern in Mesopotamien (Irak) oder in Palästina.
Zumindest in Teilen ist der Koran älter als der Prophet, lautet hingegen der Befund Günter Lülings, der vor mehr als vierzig Jahren mit seinem Werk über den Ur-Koran hervortrat, über dessen brisanten Inhalt - es handle sich ursprünglich um christliche Strophenlieder - aber seine akademische Karriere zu Bruch ging. Diese Spur wird im Buch nicht weiterverfolgt, auch nicht die Entdeckungen Lülings über die "Kaaba als Kirche".
Die aus der Geschichte der Religionskritik hinlänglich bekannte Behauptung, der jeweilige Religionsstifter habe gar nicht gelebt, sondern sei eine erfundene Symbolfigur, ist in jüngster Zeit auch wieder auf Mohammed übertragen worden. Von solcherlei Spekulationen, die auch aus der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts bekannt sind, ist, wie die Autorin im Hauptteil ihres Buches anhand einer Analyse zeigt, die sprachliche, religionsgeschichtliche und gemeindebildende Elemente umfasst, nichts zu halten. Ohne Zweifel hat auch die Luxenberg-Debatte dazu beigetragen, den Forschungsgegenstand wieder in den Blickpunkt des Interesses zu rücken. Über das Syrisch-Aramäische hatte der Semitist Christoph Luxenberg - der Name ist pseudonym - versucht, unklare Stellen im Koran neu zu lesen und dabei wieder christliche Kontexte herzustellen.
Die folgenden Kapitel sind in detaillierter Weise der Textgeschichte des Korans gewidmet. Das Wechselspiel von Kultentwicklung und Gemeindebildung in frühmekkanischer, mittelmekkanischer, medinensischer und wieder spätmekkanischer Zeit - also die Spanne zwischen etwa 610 n. Chr. und dem Tod des Propheten 632 - lässt sich an zahlreichen Versen des Korans exemplifizieren, auch die Beziehung auf jüdische und christliche Vorbilder, Fragestellungen und Diskussionen. Hier finden teilweise religionsgeschichtliche und textliche Bohrungen statt, die manchen interessierten Laien wahrscheinlich überfordern dürften. Noah, Abraham und Moses werden anschließend als biblisch-koranische Figuren des Monotheismus vorgestellt, ihre speziell koranische Entwicklung zu jenem Bild nachgezeichnet, das die Muslime von ihnen haben.
In den letzten vier Kapiteln erfährt man vieles über die koranische Rhetorik und über das (ambivalente) Verhältnis zwischen dem Koran und der arabischen Poesie (die zu den Fachgebieten der Autorin gehört). Bis heute sind Beziehungen zwischen der altarabischen Poesie und den sprachlichen Mitteln des Korans kaum erforscht worden. Dass der Koran auch ein poetischer Text ist - obwohl die Dichter dem Propheten Mohammed der Überlieferung nach nicht immer geheuer waren -, wusste ja schon Friedrich Rückert, dessen Übertragung versuchte, der Ästhetik des Korans gerecht zu werden. Seit alters her bedeutet das ästhetische Element den Muslimen viel mehr, als den Fundamentalisten mit ihrer Verengung auf das rein Diskursive recht sein kann. Dies gilt ja auch für die spirituelle Ebene, die vor allem den Sufis später so wichtig wurde. Das - sattsam bekannte, auch den kundigen Muslimen vertraute - Verhältnis zwischen Bibel und Koran erweist sich in den Augen der Autorin mehr als bisher vermutet als ein Ineinander von Überlieferungen und innerhalb spätantiker Diskussionen und Debatten geprägten theologischen Vorstellungen denn als losgelöste oder abgetrennte Textsphäre, die alleine für sich stünde.
Der Koran soll so als ein Text angesehen werden, der auch für Europa von essentieller Bedeutung ist. An diesem Punkt wird angesichts der Debatten, die gegenwärtig über den Islam, Islamophobie, Islamkritik, den Euro-Islam und den Islamismus geführt werden, gewiss auch mancher Widerspruch einsetzen.
WOLFGANG GÜNTER LERCH
Angelika Neuwirth: "Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang.
Verlag der Weltreligionen im Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 859 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frucht der Forschung und intensiver Erfahrungen mit der islamischen Welt: Die Arabistin Angelika Neuwirth verortet den Koran in theologisch aufgeladenen Debatten der Spätantike.
Koranforschung war lange Zeit eine Angelegenheit weniger Orientalisten in ihren Studierstuben. Seit den Terroranschlägen des "11. September" hat sich das geändert. Der Koran hat Konjunktur, auch und gerade bei jenen, die keine Muslime sind, aber verstehen wollen, was der Islam ist, wie er entstand und was er eigentlich lehrt. Der Absatz von Koranübersetzungen steigt, viele Bürger lesen ihn nun in Übersetzungen "aus heiterem Himmel" und sind ob der Dinge, die sie darin finden, häufig verstört.
Eine unvorbereitete Lektüre des Korans ist ziemlich problematisch, daraus zu zitieren, ohne Zusammenhänge zu kennen, ebenfalls. Wer das tut, folgt ungewollt der unhinterfragten Lektüre radikaler Muslime, die allein dem Buchstaben folgen wollen, so als sei das Gesagte auch immer (und noch heute) das Gemeinte oder müsse es wenigstens sein. Vertreter der Islamkritik "bedienen" sich häufig unkritisch diverser Koranverse, doch ebenso die Verherrlicher des Islam, die Islamophilen.
Auch die professionelle Koranforschung, die lange Zeit in Deutschland ziemlich brachgelegen hatte, hat an Intensität wieder zugenommen. Lange waren Rudi Parets Koranübersetzung mit Konkordanz aus den sechziger Jahren, dazu die Arbeiten dieses Gelehrten über Muhammad und seine Welt so etwas wie das vorläufig letzte Wort gewesen. Doch die aktuellen, von Terrorismus und Kriegen mitgeprägten politischen Ereignisse haben auch die Aufmerksamkeit der Wissenschaft wieder stärker auf Inhalt wie Entstehungsgeschichte des Korans gelenkt.
Deutschland kann da an eine Tradition anknüpfen, die im 19. Jahrhundert und vor dem Ersten Weltkrieg entstanden war, dann aber leider abrupt abbrach: Gelehrte wie Abraham Geiger, Theodor Nöldeke, Friedrich Schwally, Karl Wollers, Julius Wellhausen und andere hatten sich philologisch und theologisch in den Korantext und seine sprachlichen, religionsgeschichtlichen und theologischen Schichten verbissen.
Angelika Neuwirth, Religionswissenschaftlerin und Arabistin aus Berlin, kennt den Koran nicht nur durch ihre intensiven Forschungen, sondern auch die Muslime und ihre aus dem Koran gespeiste Lebenswelt aus eigener Anschauung, sprich deren koranische Orthopraxie. Viele Jahre hat sie selbst unter Muslimen verbracht, unter anderem als Direktorin des Orientinstituts der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Beirut. Und sie leitet das Projekt Corpus Coranicum.
Auf mehr als achthundert Seiten versucht die Forscherin in ihrem neuen Buch über den "Koran als Text der Spätantike" auch einen neuen Zugang zum heiligen Buch der Muslime zu finden. Europäer lesen es, zumal als Christen, natürlich vor allem als die Gründungsurkunde einer konkurrierenden Religion, des Islam, die beansprucht, die religiösen Lehren von Judentum und Christentum zu verbessern und zu vollenden - vielleicht "aufzuheben" im Sinne Hegels. Nicht allein der Islam, sondern erst recht der Koran erscheint da als das "ganz andere", Fremde und - nicht zuletzt unter dem Einfluss des Terrorismus und fundamentalistischer Auslegungen - Bedrohliche. Dagegen sucht die Autorin auch inhaltlich einen "europäischen Zugang" zu diesem schwierigen Buch, dessen 114 Suren alleine der Länge nach aneinandergereiht sind.
Sie gibt einen Überblick über Geschichte und Stand der (westlichen) Koranforschung. Dem affirmativen, traditionellen Verständnis der Muslime, die lineare, auf wenige Jahre komprimierte Entstehungsgeschichte des Koran eingeschlossen, haben westliche Koranforscher zum Teil erheblich abweichende Deutungen und Variationen entgegengesetzt. Die angelsächsischen "Revisionisten" der Koranforschung (John Wansbrough, Patricia Crone, Michael Cook) kamen zu dem Ergebnis, in seiner vollständigen Gestalt habe der Koran erst etwa zweihundert Jahre nach dem Propheten vorgelegen, und er sei auch nicht im Hedschas, der Heimat Mohammeds, entstanden, sondern in Mesopotamien (Irak) oder in Palästina.
Zumindest in Teilen ist der Koran älter als der Prophet, lautet hingegen der Befund Günter Lülings, der vor mehr als vierzig Jahren mit seinem Werk über den Ur-Koran hervortrat, über dessen brisanten Inhalt - es handle sich ursprünglich um christliche Strophenlieder - aber seine akademische Karriere zu Bruch ging. Diese Spur wird im Buch nicht weiterverfolgt, auch nicht die Entdeckungen Lülings über die "Kaaba als Kirche".
Die aus der Geschichte der Religionskritik hinlänglich bekannte Behauptung, der jeweilige Religionsstifter habe gar nicht gelebt, sondern sei eine erfundene Symbolfigur, ist in jüngster Zeit auch wieder auf Mohammed übertragen worden. Von solcherlei Spekulationen, die auch aus der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts bekannt sind, ist, wie die Autorin im Hauptteil ihres Buches anhand einer Analyse zeigt, die sprachliche, religionsgeschichtliche und gemeindebildende Elemente umfasst, nichts zu halten. Ohne Zweifel hat auch die Luxenberg-Debatte dazu beigetragen, den Forschungsgegenstand wieder in den Blickpunkt des Interesses zu rücken. Über das Syrisch-Aramäische hatte der Semitist Christoph Luxenberg - der Name ist pseudonym - versucht, unklare Stellen im Koran neu zu lesen und dabei wieder christliche Kontexte herzustellen.
Die folgenden Kapitel sind in detaillierter Weise der Textgeschichte des Korans gewidmet. Das Wechselspiel von Kultentwicklung und Gemeindebildung in frühmekkanischer, mittelmekkanischer, medinensischer und wieder spätmekkanischer Zeit - also die Spanne zwischen etwa 610 n. Chr. und dem Tod des Propheten 632 - lässt sich an zahlreichen Versen des Korans exemplifizieren, auch die Beziehung auf jüdische und christliche Vorbilder, Fragestellungen und Diskussionen. Hier finden teilweise religionsgeschichtliche und textliche Bohrungen statt, die manchen interessierten Laien wahrscheinlich überfordern dürften. Noah, Abraham und Moses werden anschließend als biblisch-koranische Figuren des Monotheismus vorgestellt, ihre speziell koranische Entwicklung zu jenem Bild nachgezeichnet, das die Muslime von ihnen haben.
In den letzten vier Kapiteln erfährt man vieles über die koranische Rhetorik und über das (ambivalente) Verhältnis zwischen dem Koran und der arabischen Poesie (die zu den Fachgebieten der Autorin gehört). Bis heute sind Beziehungen zwischen der altarabischen Poesie und den sprachlichen Mitteln des Korans kaum erforscht worden. Dass der Koran auch ein poetischer Text ist - obwohl die Dichter dem Propheten Mohammed der Überlieferung nach nicht immer geheuer waren -, wusste ja schon Friedrich Rückert, dessen Übertragung versuchte, der Ästhetik des Korans gerecht zu werden. Seit alters her bedeutet das ästhetische Element den Muslimen viel mehr, als den Fundamentalisten mit ihrer Verengung auf das rein Diskursive recht sein kann. Dies gilt ja auch für die spirituelle Ebene, die vor allem den Sufis später so wichtig wurde. Das - sattsam bekannte, auch den kundigen Muslimen vertraute - Verhältnis zwischen Bibel und Koran erweist sich in den Augen der Autorin mehr als bisher vermutet als ein Ineinander von Überlieferungen und innerhalb spätantiker Diskussionen und Debatten geprägten theologischen Vorstellungen denn als losgelöste oder abgetrennte Textsphäre, die alleine für sich stünde.
Der Koran soll so als ein Text angesehen werden, der auch für Europa von essentieller Bedeutung ist. An diesem Punkt wird angesichts der Debatten, die gegenwärtig über den Islam, Islamophobie, Islamkritik, den Euro-Islam und den Islamismus geführt werden, gewiss auch mancher Widerspruch einsetzen.
WOLFGANG GÜNTER LERCH
Angelika Neuwirth: "Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang.
Verlag der Weltreligionen im Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 859 S., geb., 39,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Durchaus kritisch hat Tilman Nagel diese große Untersuchung über den "Koran als Text der Spätantike" der Arabistin Angelika Neuwirth gelesen. Erhellend findet er die Ausführungen über die Redaktions- und Textgeschichte des Koran, über Kultentwicklung und Gemeindebildung, die sich im Koran widerspiegeln, über das Verhältnis von Koran und Bibel, den koranischen Blick auf die Poesie und die koranische Rhetorik. Dass es der Autorin um einen "europäischen Zugang zum Koran" geht, kann Nagel nachvollziehen. Neuwirths Behauptung, der Koran habe sich in einen "orientalisch-europäischen Text" verwandelt, der an der Entstehung des späteren Europa beteiligt war, betrachtet er indes sehr skeptisch, da ein Text nicht schon deshalb "europäisch" sei, weil er auf Judentum und Christentum Bezug nehme. Neuwirths Versuch, den Koran einzugemeinden, wirkt auf den Rezensenten recht "aufgesetzt". Die These einer latenten Verbindung Europas zum Koran kann die Autorin in diesem Buch für ihn jedenfalls nicht plausibel machen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Mit Angelika Neuwirth wird der Koran von der späteren islamischen Tradition befreit und in seinem Entstehungsprozess sichtbar. Die Leistung dieses Ansatzes besteht vielmehr darin, mit all den Legenden und Missverständnissen aufzuräumen, die sich im Lauf der Jahrhunderte bei der Koranauslegung eingeschlichen haben - von Seiten der Muslime ebenso wie von Seiten der Islamwissenschaftler.« Stefan Weidner Deutschlandfunk Kultur 20110106