Produktdetails
- Verlag: Boyens Buchverlag
- 2000.
- Seitenzahl: 244
- Deutsch
- Abmessung: 245mm
- Gewicht: 558g
- ISBN-13: 9783804208650
- ISBN-10: 3804208657
- Artikelnr.: 08844155
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2001Nur einen Winter gönnt, ihr Kosaken!
Und einen Sproß der strammen Dithmarscherin: Nicht alle waren entsetzt, als 1813 ein exotischer Haufe in Schleswig-Holstein einfiel
Die Kosaken kommen! Noch immer klingt da ein wenig apokalyptische Hysterie durch, und das nicht ohne Grund: Bevor sie den Westen mit gefühlvollen Chorliedern eroberten, hatten sich die rabiaten Reiter im achtzehnten Jahrhundert ein furchteinflößendes Image kriegerischer Grausamkeit erworben und standen in der langen Reihe östlicher Steppenvölker, die immer wieder den Gang der Geschichte durcheinandergewirbelt und Mitteleuropa in Angst und Schrecken versetzt hatten, seit Attilas Hunnen die Völkerwanderung lostraten.
Entsprechend groß war das Entsetzen unter den Einwohnern Schleswig-Holsteins, als das Land im bitterkalten Dezember 1813 völlig unvorbereitet von feindlichen Kosakenpulks überrannt wurde. Die rauhen Gäste gehörten zur Armee des schwedischen Kronprinzen Karl Johann, einem der drei in Deutschland gegen Napoleon operierenden Heerführer. Die Überschwemmung der hilflosen Herzogtümer durch das buntscheckige Gemengsel von fast sechzigtausend Russen, Schweden und Deutschen war mehr als nur ein kurioser Schlenker im weiten Wirrwarr der Napoleonischen Kriege. Sie wurde zum gravierenden Einschnitt in der Geschichte Nordeuropas und für die verstörten Schleswig-Holsteiner zum traumatischen Abbruch einer fast hundertjährigen Dauer von Frieden und Wohlstand. Noch Generationen später sprach man beklommen vom "Kosakenwinter".
Wie komplex die Abläufe in jenen frostigen Tagen tatsächlich waren, beschreibt der Journalist Dieter Kienitz in seinem Buch ebenso umfassend wie eindrucksvoll. Dabei liegt Kienitz weniger am Kolportieren spektakulärer Kriegstaten als vielmehr an der Verzahnung großer historischer Vorgänge mit der Erlebniswelt des kleinen, oft namenlosen Einzelmenschen. Behutsam und geduldig arbeitet er aus dem Quellenmaterial das differenzierte Beziehungsgeflecht heraus, über das die europaweiten Kriegsläufe das Leben des ohnmächtigen Landmanns prägten.
Der Hintergrund war bemerkenswert genug: Der ehrgeizige schwedische Kronprinz, besser bekannt als ehemaliger französischer Marschall Bernadotte, plante nichts Geringeres, als das zur dänischen Krone gehörende Norwegen für Schweden einzustreichen. Zu diesem Zweck machte er mit seiner Nord-Armee - vor dem Marsch nach Frankreich und etwas gegen die Absprache - einen kleinen Abstecher nach Schleswig-Holstein; denn Schleswig-Holstein war dänisch und Dänemark unglücklicherweise immer noch ein Verbündeter Napoleons.
Die meerumschlungenen Landschaften wurden zum Opfer einer Armee, die sich nach damaligem Brauch "aus dem Felde ernährte". Präzise schildert Kienitz die quälende Fülle der Maßnahmen zur Beschaffung von Geld, Lebensmitteln und Beute, von der Annahme vorsorglicher Geschenke über drakonisches Requirieren durch die weiten Grauzonen der Erpressung bis zur schlichten Räuberei. Bezeichnend ist hier die Legende von der "Gottesmauer": Daß der Hof einer frommen Frau wegen eines Schneesturms von den vorbeistreifenden Horden übersehen wurde, mußte himmlischem Einwirken zu danken sein.
Immer wieder läßt der Autor betroffene Zeitzeugen zu Wort kommen. Sie zeichnen ein merkwürdig uneinheitliches Bild, bedingt durch Willkür und Zufall der Truppenbewegungen. Besonders kraß wirkte sich aus, daß Bernadottes Heer eine ziemlich chaotische Mixtur war, nicht nur nach Nationalitäten, sondern auch und vor allem was Moral und Disziplin betraf. Hier kann Kienitz Überraschendes nachweisen: Wenn das exotische Auftreten der Kosaken die Schleswig-Holsteiner auch nachhaltig beeindruckte, entsprach ihr Verhalten durchaus nicht immer dem verheerenden Ruf, der ihnen vorausgeeilt war. Manche der irregulären deutschen Freischaren führten sich weit übler auf. Ein trauriges Beispiel bietet da die Hanseatische Legion, ein mit englischem Geld miserabel ausgerüsteter und auch sonst ziemlich verkommener Haufen. Fast noch schlimmer hausten die später so begeistert besungenen Lützower Jäger, die, traurige Ironie, als erste die Farben Schwarz-Rot-Gold trugen.
Nach einigen Gefechten und Belagerungen stellte Dänemark den aussichtslosen Kampf ein, und während alle Welt fasziniert die letzten Manöver Napoleons verfolgte, wechselte Norwegen nach 427 Jahren dänischer Herrschaft am 14. Januar 1814 im Frieden zu Kiel den Besitzer. Der schwedische Kronprinz hatte sein Ziel erreicht, doch sollte es noch ein gutes Jahr dauern, bis die letzten Soldaten Schleswig-Holstein verließen. Sie hinterließen ein ruiniertes Land. Deprimierend deutlich dokumentiert Kienitz den Zusammenbruch von Wirtschaft und Außenhandel und deren jahrzehntelange Lähmung durch eine horrende Verschuldung. Die Folge war eine dramatische Verelendung breiter Schichten mit einem sprunghaften Anstieg der Sterbeziffern und einem grassierenden Bettelwesen. Politisch hatte sich für Schleswig-Holstein fast nichts geändert, aber die goldene Zeit war unwiderruflich dahin.
Die gescheite Aufarbeitung und solide Präsentation des Materials, mit der Kienitz an der Universität Hamburg promoviert wurde, läßt lebhaft nachfühlen, warum die vergessene Marginalie der Befreiungskriege von den Betroffenen als Katastrophe empfunden wurde. Da konnten als Namenspatron nur die sprichwörtlich Schlimmsten gut genug sein: eben die Kosaken. Aber sie hinterließen nicht nur Schauermärchen, wie die versöhnliche und überdies höchst romantische Geschichte von dem jungen Kosaken zeigt, der aus Liebe desertierte, eine stramme Dithmarscherin heiratete und dessen Nachkommen noch 1928 dokumentiert sind.
UWE SCHILDMEIER
Dieter Kienitz: "Der Kosakenwinter in Schleswig-Holstein 1813/14". Boyens, Westholsteinische Verlagsanstalt, Heide 2000. 244 S., br., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und einen Sproß der strammen Dithmarscherin: Nicht alle waren entsetzt, als 1813 ein exotischer Haufe in Schleswig-Holstein einfiel
Die Kosaken kommen! Noch immer klingt da ein wenig apokalyptische Hysterie durch, und das nicht ohne Grund: Bevor sie den Westen mit gefühlvollen Chorliedern eroberten, hatten sich die rabiaten Reiter im achtzehnten Jahrhundert ein furchteinflößendes Image kriegerischer Grausamkeit erworben und standen in der langen Reihe östlicher Steppenvölker, die immer wieder den Gang der Geschichte durcheinandergewirbelt und Mitteleuropa in Angst und Schrecken versetzt hatten, seit Attilas Hunnen die Völkerwanderung lostraten.
Entsprechend groß war das Entsetzen unter den Einwohnern Schleswig-Holsteins, als das Land im bitterkalten Dezember 1813 völlig unvorbereitet von feindlichen Kosakenpulks überrannt wurde. Die rauhen Gäste gehörten zur Armee des schwedischen Kronprinzen Karl Johann, einem der drei in Deutschland gegen Napoleon operierenden Heerführer. Die Überschwemmung der hilflosen Herzogtümer durch das buntscheckige Gemengsel von fast sechzigtausend Russen, Schweden und Deutschen war mehr als nur ein kurioser Schlenker im weiten Wirrwarr der Napoleonischen Kriege. Sie wurde zum gravierenden Einschnitt in der Geschichte Nordeuropas und für die verstörten Schleswig-Holsteiner zum traumatischen Abbruch einer fast hundertjährigen Dauer von Frieden und Wohlstand. Noch Generationen später sprach man beklommen vom "Kosakenwinter".
Wie komplex die Abläufe in jenen frostigen Tagen tatsächlich waren, beschreibt der Journalist Dieter Kienitz in seinem Buch ebenso umfassend wie eindrucksvoll. Dabei liegt Kienitz weniger am Kolportieren spektakulärer Kriegstaten als vielmehr an der Verzahnung großer historischer Vorgänge mit der Erlebniswelt des kleinen, oft namenlosen Einzelmenschen. Behutsam und geduldig arbeitet er aus dem Quellenmaterial das differenzierte Beziehungsgeflecht heraus, über das die europaweiten Kriegsläufe das Leben des ohnmächtigen Landmanns prägten.
Der Hintergrund war bemerkenswert genug: Der ehrgeizige schwedische Kronprinz, besser bekannt als ehemaliger französischer Marschall Bernadotte, plante nichts Geringeres, als das zur dänischen Krone gehörende Norwegen für Schweden einzustreichen. Zu diesem Zweck machte er mit seiner Nord-Armee - vor dem Marsch nach Frankreich und etwas gegen die Absprache - einen kleinen Abstecher nach Schleswig-Holstein; denn Schleswig-Holstein war dänisch und Dänemark unglücklicherweise immer noch ein Verbündeter Napoleons.
Die meerumschlungenen Landschaften wurden zum Opfer einer Armee, die sich nach damaligem Brauch "aus dem Felde ernährte". Präzise schildert Kienitz die quälende Fülle der Maßnahmen zur Beschaffung von Geld, Lebensmitteln und Beute, von der Annahme vorsorglicher Geschenke über drakonisches Requirieren durch die weiten Grauzonen der Erpressung bis zur schlichten Räuberei. Bezeichnend ist hier die Legende von der "Gottesmauer": Daß der Hof einer frommen Frau wegen eines Schneesturms von den vorbeistreifenden Horden übersehen wurde, mußte himmlischem Einwirken zu danken sein.
Immer wieder läßt der Autor betroffene Zeitzeugen zu Wort kommen. Sie zeichnen ein merkwürdig uneinheitliches Bild, bedingt durch Willkür und Zufall der Truppenbewegungen. Besonders kraß wirkte sich aus, daß Bernadottes Heer eine ziemlich chaotische Mixtur war, nicht nur nach Nationalitäten, sondern auch und vor allem was Moral und Disziplin betraf. Hier kann Kienitz Überraschendes nachweisen: Wenn das exotische Auftreten der Kosaken die Schleswig-Holsteiner auch nachhaltig beeindruckte, entsprach ihr Verhalten durchaus nicht immer dem verheerenden Ruf, der ihnen vorausgeeilt war. Manche der irregulären deutschen Freischaren führten sich weit übler auf. Ein trauriges Beispiel bietet da die Hanseatische Legion, ein mit englischem Geld miserabel ausgerüsteter und auch sonst ziemlich verkommener Haufen. Fast noch schlimmer hausten die später so begeistert besungenen Lützower Jäger, die, traurige Ironie, als erste die Farben Schwarz-Rot-Gold trugen.
Nach einigen Gefechten und Belagerungen stellte Dänemark den aussichtslosen Kampf ein, und während alle Welt fasziniert die letzten Manöver Napoleons verfolgte, wechselte Norwegen nach 427 Jahren dänischer Herrschaft am 14. Januar 1814 im Frieden zu Kiel den Besitzer. Der schwedische Kronprinz hatte sein Ziel erreicht, doch sollte es noch ein gutes Jahr dauern, bis die letzten Soldaten Schleswig-Holstein verließen. Sie hinterließen ein ruiniertes Land. Deprimierend deutlich dokumentiert Kienitz den Zusammenbruch von Wirtschaft und Außenhandel und deren jahrzehntelange Lähmung durch eine horrende Verschuldung. Die Folge war eine dramatische Verelendung breiter Schichten mit einem sprunghaften Anstieg der Sterbeziffern und einem grassierenden Bettelwesen. Politisch hatte sich für Schleswig-Holstein fast nichts geändert, aber die goldene Zeit war unwiderruflich dahin.
Die gescheite Aufarbeitung und solide Präsentation des Materials, mit der Kienitz an der Universität Hamburg promoviert wurde, läßt lebhaft nachfühlen, warum die vergessene Marginalie der Befreiungskriege von den Betroffenen als Katastrophe empfunden wurde. Da konnten als Namenspatron nur die sprichwörtlich Schlimmsten gut genug sein: eben die Kosaken. Aber sie hinterließen nicht nur Schauermärchen, wie die versöhnliche und überdies höchst romantische Geschichte von dem jungen Kosaken zeigt, der aus Liebe desertierte, eine stramme Dithmarscherin heiratete und dessen Nachkommen noch 1928 dokumentiert sind.
UWE SCHILDMEIER
Dieter Kienitz: "Der Kosakenwinter in Schleswig-Holstein 1813/14". Boyens, Westholsteinische Verlagsanstalt, Heide 2000. 244 S., br., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Uwe Schildmeier erläutert zunächst, dass die Kosaken 1813 als Teil der Armee des schwedischen Kronprinzen Karl Johann nach Schleswig-Holstein gekommen waren. Das besondere Verdienst der vorliegenden Studie sieht der Rezensent vor allem darin, dass Kienitz mit so mancher Legende aufräumt und vielmehr "ebenso umfassend wie eindrucksvoll" die Erlebnisse ganz normaler Bürger in den Zeiten großer historischer Geschehnisse beleuchtet. Kienitz habe besonders die Komplexität der Zusammenhänge verdeutlicht und dabei "behutsam und geduldig" Quellenarbeit geleistet. Überraschend findet der Rezensent den Nachweis des Autors, dass die Kosaken keineswegs so grausam vorgegangen waren wie allgemein angenommen. Zwar habe es auch zahlreiche Untaten gegeben, doch summa summarum könne man sagen, dass "manche der irregulären deutschen Freischaren (...) sich weit übler" aufgeführt haben. Insgesamt sieht Schildmeier in dieser Studie eine "gescheite Aufarbeitung und solide Präsentation des Materials".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH