1999 entschied die NATO, in die Auseinandersetzungen zwischen der paramilitärischen UÇK, die für die Unabhängigkeit des Kosovo kämpfte, und der serbisch-jugoslawischen Armee einzugreifen. Damit wollte sie die Regierung Slobodan Milosevics zum Rückzug der Armee aus dem Kosovo zwingen. An den Luftschlägen der NATO gegen Serbien beteiligte sich auch Deutschland, dessen rot-grüne Regierung sich zu dieser militärischen Maßnahme mit dem Verweis auf serbische Menschenrechtsverletzungen durchrang. Eine schwierige Entscheidung - schließlich stand nicht nur die Zukunft der krisengeschüttelten Balkanregion, sondern auch das Selbstverständnis der Bundeswehr und damit der Bundesrepublik auf dem Spiel. Hans-Peter Kriemann blickt auf die Ereignisse des Jahres 1999 zurück und erläutert darüber hinaus die politischen wie diplomatischen Hintergründe des Kampfeinsatzes.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.08.2019Politische
Kollateralschäden
Hans-Peter Kriemann erklärt, warum Rot-Grün
1999 beim Nato-Krieg gegen Serbien mitmachte
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Als die Nato im Frühjahr 1999 gegen Jugoslawien und seinen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević einen Luftkrieg führte, wurden Präzisionswaffen eingesetzt, deren angepriesene Zielgenauigkeit dazu führte, dass ungefähr 500 Zivilisten zu Tode kamen. Hier attackierte die Nato eine Eisenbahn, dort einen Flüchtlingstreck. Aus Versehen – vermutlich war es wirklich ein Versehen – bombardierte die Nato auch die chinesische Botschaft in Belgrad. Dem amerikanischen Militärjargon zufolge gab es also „collateral damage“. Tote Kinder, Frauen und Männer waren nicht Opfer, sondern etwas Unerwünschtes nebenbei: ein Kollateralschaden. Dieser Begriff war den Deutschen damals noch nicht geläufig und schaffte es mühelos zum „Unwort des Jahres.“
Der Kosovo-Krieg war nicht vom UN-Sicherheitsrat abgesegnet und also völkerrechtswidrig. Ausgerechnet an diesem Krieg war erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg Deutschland beteiligt. Das musste der Bevölkerung schmackhaft gemacht werden. Der grüne Außenminister Joschka Fischer, der Madeleine Albright, der amerikanischen Außenministerin und Hardcore-Militaristin, so gut wie auf dem Schoß saß, hatte schon bewiesen, dass er vor dem Vergleich mit Auschwitz nicht zurückscheute. Nun verkündete er zum zweiten Mal binnen weniger Jahre: „Nie wieder Auschwitz.“ Es gelte, die Kosovo-Albaner zu schützen. Der SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping, ein Gefühlsmensch, ging dem sogenannten Hufeisen-Plan auf den Leim, demzufolge Miloševićs Regierung die Albaner einkreisen und aus dem Kosovo vertreiben wollte. Der Plan war ein manipuliertes Machwerk – so schlecht fabriziert, dass die Lokalzeitung Hamburger Abendblatt ihn als Fälschung entlarven konnte (der Plan war nicht in serbischer Orthografie abgefasst).
Das Hamburger Abendblatt vermutete seinerzeit, der Hufeisen-Plan sei den Deutschen von interessierter Seite zugespielt worden. Hans-Peter Kriemann fügt dem hinzu: Der Oberbefehlshaber der Nato für Europa hatte keinerlei Kenntnis davon. Sofern Scharping und sein Verteidigungsministerium sich beim Oberkommandierenden der Nato überhaupt erkundigt haben sollten, focht sie das nicht an. Die Bundesregierung war auf dem Kriegspfad. Weil ihre Bevölkerung das mitmachen musste, glaubten zuständige Politiker alle Gräuelgeschichten: Konzentrationslager für Albaner, aufgeschlitzte Bäuche von Schwangeren. Lügen ist einfacher, wenn man sich einbildet, die Wahrheit zu sagen.
Hans-Peter Kriemann ist Jahrgang 1977. Er ist Oberstleutnant und arbeitet beim Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Das verpflichtet zu Objektivität. Sein Buch über den Kosovo-Krieg ist mit packender Akkuratesse und Nüchternheit geschrieben. Die Rezensentin hat den Einsatz der Nato gegen Jugoslawiens Kernland Serbien von Anfang an für einen Fehler gehalten (FAZ vom 2. Juni 1999).
Der Zerfall der Sowjetunion erweckte in manchen Regionen nationalen oder ethnischen Furor. Jugoslawiens Präsident Milošević ersetzte seinen „Sozialismus“ durch Nationalismus. Slowenien und Kroatien erklärten sich unabhängig. Ein Lebensfehler des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher war es, im Alleingang 1991 beide als Staaten anzuerkennen, gemäß dem von der UN vereinbarten Grundrecht: Jedes Volk dürfe selbst darüber bestimmen, unter wessen Herrschaft es leben wolle. Damit war, so Kriemann, „die Büchse der Pandora geöffnet“.
Genscher zeigte sich da als schlechter Schüler historischer Erfahrung. Der US-Präsident Woodrow Wilson hatte das Selbstbestimmungsrecht der Völker proklamiert, was dazu beitrug, dass der Erste Weltkrieg nach seinem offiziellen Ende 1918 noch lange nicht zu Ende war: In Osteuropa wurde weitergekämpft. Nicht zuletzt wegen Genschers unbedachter Politik geschah das Gleiche im zerfallenden Jugoslawien. Diverse Volksgruppen, die zuvor halbwegs friedlich nebeneinander gelebt hatten, besannen sich nun erst recht auf ihre völkische Zugehörigkeit.
1991 proklamierten die Kosovo-Albaner ihre Unabhängigkeit von Jugoslawien – erfolglos. Sie waren damals noch zu friedfertig. Bosnische Serben, Bosniaken und bosnische Kroaten hingegen bekämpften einander blutrünstig. Erst Drohungen der Nato, durchschlagskräftige Waffen einzusetzen, führten 1995 zu einem Friedensabkommen. Seither besteht das Land Bosnien und Herzegowina aus eigentlich zwei Ländern: aus der Föderation Bosnien und Herzegowina sowie der serbischen Republik Srpska. Weil der Bürgerkrieg im Sinn der Unabhängigkeitsfanatiker so gut funktioniert hatte, erhoben sich nun kosovarische Albaner gegen die jugoslawische Zentralregierung.
1996 trat die albanische UÇK (Befreiungsarmee des Kosovo) auf den Plan und provozierte serbische Sicherheitskräfte, wo sie konnte. Ihr Ziel: Der Zusammenschluss aller Gebiete, wo Albaner leben. Die Serben ihrerseits, an Deeskalation nicht interessiert, schlugen brachial zurück, ohne zwischen Kämpfern und Zivilisten groß zu unterscheiden. Also begann ein Bürgerkrieg im Kosovo. Weil Kosovo mehrheitlich von albanischstämmigen Menschen bewohnt wird und weil Miloševićs Militär stärker war als die UÇK, flohen vor allem Albaner ins europäische Ausland. Die internationale Gemeinschaft war entsetzt.
Was von da an geschah, schildert Kriemann mit akribischer Leidenschaft. Die Nato, die EU, die UN, die Vereinigten Staaten: alle wollten den Bürgerkrieg beenden. Die Frage war nur: Wie? Die Bundesrepublik, die bis zum Sommer 1998 140 000 Flüchtlinge aufgenommen hatte, wollte mehr davon nicht haben. Der US-Präsident Clinton war in der Heimat vollauf damit beschäftigt, seine Sex-Affäre mit einer Praktikantin runterzuspielen. Laut Kriemann war es die deutsche Bundesregierung, die vorschlug, „eine glaubhafte militärische Drohkulisse“ aufzubauen. Das Bundesverteidigungsministerium war dagegen. Das Pentagon hielt es auch nicht für eine gute Idee. Denn, so Kriemann: „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen, verlangte im Zweifelsfall, Drohungen auch militärische Gewalt folgen zu lassen.“
Der amerikanischen Militärführung ging es vor allem um Glaubwürdigkeit. Russland war gegen die Bestrebungen der albanischen Kosovaren nach Unabhängigkeit, weil die Regierung keinen Präzedenzfall wollte: Wenn Kosovo unabhängig würde, könnten die Tschetschenen und andere das Gleiche verlangen. Dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder ging es darum, zu zeigen, dass die SPD auch außenpolitisch ernst zu nehmen sei. Und der Außenminister Fischer fühlte sich bei der US-Außenministerin Albright, deren Eltern wie auch die von Fischer in Osteuropa gelebt hatten, wohl recht gemütlich.
An sich wollte die Bundesregierung keinen Krieg. Da sie den nun aber angeregt hatte, kamen die Amerikaner in die Gänge. Von da an war es klar, dass die Deutschen nichts mehr zu sagen hatten. Weil Russland seine Zustimmung zu einem Krieg im UN-Sicherheitsrat nicht geben würde, dachte man in Washington: Hey, das ist eine unwichtige Gegend, da kann man einen unbedeutenden Krieg führen, und wenn das gelingt, dann ist ein Präzedenzfall geschaffen dafür, dass wir auch ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats Kriege anberaumen dürfen. Kriemann formuliert das so: Die US-Regierung habe sich „größeren Freiraum an außen- und sicherheitspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten“ erhofft.
Es gab Verhandlungen. Die erbrachten nichts. Milošević blieb uneinsichtig. Nachdem die Nato den Luftkrieg gegen Serbien schon im Detail geplant hatte, fand eine letzte und entscheidende Verhandlungsrunde statt: im französischen Rambouillet, vom 15. bis zum 19. März 1999. Bereits am 16. März, so Kriemann, galten die Verhandlungen als gescheitert. Kriemann meint, diese Konferenz sei trotzdem keine „Scheinkonferenz“ gewesen. Das ist nicht plausibel. Es gab den Annex B, der nicht sogleich übermittelt wurde, dessen Inhalt Journalisten erst Tage später herauswühlten. Der Annex B besagte, Milošević müsse unterschreiben, dass die bewaffneten Einsatzkräfte der multinational bestückten KFOR (Kosovo Force) sich auch in ganz Serbien frei bewegen könnten, was darauf hinausgelaufen wäre, dass das Land seine Souveränität verloren hätte. Kriemann konzediert, dass die Serben Nationalstolz haben. Dass Milošević, mies wie er war, den Annex B nicht unterschreiben konnte, schließt er daraus nicht.
Am 24. März 1999 begannen die Luftangriffe der Nato. Deutsche Politiker hatten ihr Bestes getan, die Bevölkerung darauf einzustimmen. Auch von Babys, die Serben an Bäumen oder Hauswänden zu Tode geschlagen hätten, war die Rede. Der Krieg schien also nötig zu sein. Damals schon gab es einige wenige, die darauf aufmerksam machten, was Hans-Peter Kriemann nun in seinem ausgezeichneten Buch (ein Nebenprodukt seiner Dissertation) belegen kann: Die Nato-Mitgliedstaaten meinten, „ihr Handeln sei völkerrechtlich dadurch legitimiert, dass dieser Luftkrieg in Ermangelung eines UN-Mandats eine humanitäre Katastrophe verhindern sollte. Doch das Gegenteil schien der Fall zu sein. Hatten seit der Eskalation des Kosovokonflikts im Frühjahr 1998 bis zum Beginn der Operation Allied Force etwa 170 000 Flüchtlinge das Kosovo verlassen, sollten es bis Ende Mai 1999 weitere 850 000 werden.“
War der Kosovo-Krieg wirklich nötig? Weil Genscher 1991 die Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien und Kroatien anerkannte, fühlten andere Völkerschaften Jugoslawiens sich berechtigt, dem nachzutun. Denkbar wäre, dass Genscher seine Entscheidung im Verein mit Kanzler Helmut Kohl getroffen hat, um auszuloten, wie groß Deutschlands internationale Macht nun sei, da der Zwei+Vier-Vertrag das Land souverän gemacht hatte. Das ist bloß eine Spekulation, die kursiert. Im unwahrscheinlichen Fall, dass sie zutreffen sollte, haben die USA sehr schnell gezeigt, wo der Bartel den Most holt.
Nicht zuletzt wegen
Genschers unbedachter Politik
eskalierte der Konflikt
Eine humanitäre Katastrophe
sollte verhindert werden.
Das Gegenteil passierte
Hans-Peter Kriemann: Der Kosovokrieg 1999.
Reclam-Verlag, Stuttgart 2019. 160 Seiten,
14,95 Euro.
E-Book: 12,99 Euro.
Bomben auf Belgrad: Soldaten und Feuerwehrleute durchsuchen im April 1999 die Überreste der serbischen Fernsehanstalt.
Foto: dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kollateralschäden
Hans-Peter Kriemann erklärt, warum Rot-Grün
1999 beim Nato-Krieg gegen Serbien mitmachte
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Als die Nato im Frühjahr 1999 gegen Jugoslawien und seinen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević einen Luftkrieg führte, wurden Präzisionswaffen eingesetzt, deren angepriesene Zielgenauigkeit dazu führte, dass ungefähr 500 Zivilisten zu Tode kamen. Hier attackierte die Nato eine Eisenbahn, dort einen Flüchtlingstreck. Aus Versehen – vermutlich war es wirklich ein Versehen – bombardierte die Nato auch die chinesische Botschaft in Belgrad. Dem amerikanischen Militärjargon zufolge gab es also „collateral damage“. Tote Kinder, Frauen und Männer waren nicht Opfer, sondern etwas Unerwünschtes nebenbei: ein Kollateralschaden. Dieser Begriff war den Deutschen damals noch nicht geläufig und schaffte es mühelos zum „Unwort des Jahres.“
Der Kosovo-Krieg war nicht vom UN-Sicherheitsrat abgesegnet und also völkerrechtswidrig. Ausgerechnet an diesem Krieg war erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg Deutschland beteiligt. Das musste der Bevölkerung schmackhaft gemacht werden. Der grüne Außenminister Joschka Fischer, der Madeleine Albright, der amerikanischen Außenministerin und Hardcore-Militaristin, so gut wie auf dem Schoß saß, hatte schon bewiesen, dass er vor dem Vergleich mit Auschwitz nicht zurückscheute. Nun verkündete er zum zweiten Mal binnen weniger Jahre: „Nie wieder Auschwitz.“ Es gelte, die Kosovo-Albaner zu schützen. Der SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping, ein Gefühlsmensch, ging dem sogenannten Hufeisen-Plan auf den Leim, demzufolge Miloševićs Regierung die Albaner einkreisen und aus dem Kosovo vertreiben wollte. Der Plan war ein manipuliertes Machwerk – so schlecht fabriziert, dass die Lokalzeitung Hamburger Abendblatt ihn als Fälschung entlarven konnte (der Plan war nicht in serbischer Orthografie abgefasst).
Das Hamburger Abendblatt vermutete seinerzeit, der Hufeisen-Plan sei den Deutschen von interessierter Seite zugespielt worden. Hans-Peter Kriemann fügt dem hinzu: Der Oberbefehlshaber der Nato für Europa hatte keinerlei Kenntnis davon. Sofern Scharping und sein Verteidigungsministerium sich beim Oberkommandierenden der Nato überhaupt erkundigt haben sollten, focht sie das nicht an. Die Bundesregierung war auf dem Kriegspfad. Weil ihre Bevölkerung das mitmachen musste, glaubten zuständige Politiker alle Gräuelgeschichten: Konzentrationslager für Albaner, aufgeschlitzte Bäuche von Schwangeren. Lügen ist einfacher, wenn man sich einbildet, die Wahrheit zu sagen.
Hans-Peter Kriemann ist Jahrgang 1977. Er ist Oberstleutnant und arbeitet beim Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Das verpflichtet zu Objektivität. Sein Buch über den Kosovo-Krieg ist mit packender Akkuratesse und Nüchternheit geschrieben. Die Rezensentin hat den Einsatz der Nato gegen Jugoslawiens Kernland Serbien von Anfang an für einen Fehler gehalten (FAZ vom 2. Juni 1999).
Der Zerfall der Sowjetunion erweckte in manchen Regionen nationalen oder ethnischen Furor. Jugoslawiens Präsident Milošević ersetzte seinen „Sozialismus“ durch Nationalismus. Slowenien und Kroatien erklärten sich unabhängig. Ein Lebensfehler des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher war es, im Alleingang 1991 beide als Staaten anzuerkennen, gemäß dem von der UN vereinbarten Grundrecht: Jedes Volk dürfe selbst darüber bestimmen, unter wessen Herrschaft es leben wolle. Damit war, so Kriemann, „die Büchse der Pandora geöffnet“.
Genscher zeigte sich da als schlechter Schüler historischer Erfahrung. Der US-Präsident Woodrow Wilson hatte das Selbstbestimmungsrecht der Völker proklamiert, was dazu beitrug, dass der Erste Weltkrieg nach seinem offiziellen Ende 1918 noch lange nicht zu Ende war: In Osteuropa wurde weitergekämpft. Nicht zuletzt wegen Genschers unbedachter Politik geschah das Gleiche im zerfallenden Jugoslawien. Diverse Volksgruppen, die zuvor halbwegs friedlich nebeneinander gelebt hatten, besannen sich nun erst recht auf ihre völkische Zugehörigkeit.
1991 proklamierten die Kosovo-Albaner ihre Unabhängigkeit von Jugoslawien – erfolglos. Sie waren damals noch zu friedfertig. Bosnische Serben, Bosniaken und bosnische Kroaten hingegen bekämpften einander blutrünstig. Erst Drohungen der Nato, durchschlagskräftige Waffen einzusetzen, führten 1995 zu einem Friedensabkommen. Seither besteht das Land Bosnien und Herzegowina aus eigentlich zwei Ländern: aus der Föderation Bosnien und Herzegowina sowie der serbischen Republik Srpska. Weil der Bürgerkrieg im Sinn der Unabhängigkeitsfanatiker so gut funktioniert hatte, erhoben sich nun kosovarische Albaner gegen die jugoslawische Zentralregierung.
1996 trat die albanische UÇK (Befreiungsarmee des Kosovo) auf den Plan und provozierte serbische Sicherheitskräfte, wo sie konnte. Ihr Ziel: Der Zusammenschluss aller Gebiete, wo Albaner leben. Die Serben ihrerseits, an Deeskalation nicht interessiert, schlugen brachial zurück, ohne zwischen Kämpfern und Zivilisten groß zu unterscheiden. Also begann ein Bürgerkrieg im Kosovo. Weil Kosovo mehrheitlich von albanischstämmigen Menschen bewohnt wird und weil Miloševićs Militär stärker war als die UÇK, flohen vor allem Albaner ins europäische Ausland. Die internationale Gemeinschaft war entsetzt.
Was von da an geschah, schildert Kriemann mit akribischer Leidenschaft. Die Nato, die EU, die UN, die Vereinigten Staaten: alle wollten den Bürgerkrieg beenden. Die Frage war nur: Wie? Die Bundesrepublik, die bis zum Sommer 1998 140 000 Flüchtlinge aufgenommen hatte, wollte mehr davon nicht haben. Der US-Präsident Clinton war in der Heimat vollauf damit beschäftigt, seine Sex-Affäre mit einer Praktikantin runterzuspielen. Laut Kriemann war es die deutsche Bundesregierung, die vorschlug, „eine glaubhafte militärische Drohkulisse“ aufzubauen. Das Bundesverteidigungsministerium war dagegen. Das Pentagon hielt es auch nicht für eine gute Idee. Denn, so Kriemann: „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen, verlangte im Zweifelsfall, Drohungen auch militärische Gewalt folgen zu lassen.“
Der amerikanischen Militärführung ging es vor allem um Glaubwürdigkeit. Russland war gegen die Bestrebungen der albanischen Kosovaren nach Unabhängigkeit, weil die Regierung keinen Präzedenzfall wollte: Wenn Kosovo unabhängig würde, könnten die Tschetschenen und andere das Gleiche verlangen. Dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder ging es darum, zu zeigen, dass die SPD auch außenpolitisch ernst zu nehmen sei. Und der Außenminister Fischer fühlte sich bei der US-Außenministerin Albright, deren Eltern wie auch die von Fischer in Osteuropa gelebt hatten, wohl recht gemütlich.
An sich wollte die Bundesregierung keinen Krieg. Da sie den nun aber angeregt hatte, kamen die Amerikaner in die Gänge. Von da an war es klar, dass die Deutschen nichts mehr zu sagen hatten. Weil Russland seine Zustimmung zu einem Krieg im UN-Sicherheitsrat nicht geben würde, dachte man in Washington: Hey, das ist eine unwichtige Gegend, da kann man einen unbedeutenden Krieg führen, und wenn das gelingt, dann ist ein Präzedenzfall geschaffen dafür, dass wir auch ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats Kriege anberaumen dürfen. Kriemann formuliert das so: Die US-Regierung habe sich „größeren Freiraum an außen- und sicherheitspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten“ erhofft.
Es gab Verhandlungen. Die erbrachten nichts. Milošević blieb uneinsichtig. Nachdem die Nato den Luftkrieg gegen Serbien schon im Detail geplant hatte, fand eine letzte und entscheidende Verhandlungsrunde statt: im französischen Rambouillet, vom 15. bis zum 19. März 1999. Bereits am 16. März, so Kriemann, galten die Verhandlungen als gescheitert. Kriemann meint, diese Konferenz sei trotzdem keine „Scheinkonferenz“ gewesen. Das ist nicht plausibel. Es gab den Annex B, der nicht sogleich übermittelt wurde, dessen Inhalt Journalisten erst Tage später herauswühlten. Der Annex B besagte, Milošević müsse unterschreiben, dass die bewaffneten Einsatzkräfte der multinational bestückten KFOR (Kosovo Force) sich auch in ganz Serbien frei bewegen könnten, was darauf hinausgelaufen wäre, dass das Land seine Souveränität verloren hätte. Kriemann konzediert, dass die Serben Nationalstolz haben. Dass Milošević, mies wie er war, den Annex B nicht unterschreiben konnte, schließt er daraus nicht.
Am 24. März 1999 begannen die Luftangriffe der Nato. Deutsche Politiker hatten ihr Bestes getan, die Bevölkerung darauf einzustimmen. Auch von Babys, die Serben an Bäumen oder Hauswänden zu Tode geschlagen hätten, war die Rede. Der Krieg schien also nötig zu sein. Damals schon gab es einige wenige, die darauf aufmerksam machten, was Hans-Peter Kriemann nun in seinem ausgezeichneten Buch (ein Nebenprodukt seiner Dissertation) belegen kann: Die Nato-Mitgliedstaaten meinten, „ihr Handeln sei völkerrechtlich dadurch legitimiert, dass dieser Luftkrieg in Ermangelung eines UN-Mandats eine humanitäre Katastrophe verhindern sollte. Doch das Gegenteil schien der Fall zu sein. Hatten seit der Eskalation des Kosovokonflikts im Frühjahr 1998 bis zum Beginn der Operation Allied Force etwa 170 000 Flüchtlinge das Kosovo verlassen, sollten es bis Ende Mai 1999 weitere 850 000 werden.“
War der Kosovo-Krieg wirklich nötig? Weil Genscher 1991 die Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien und Kroatien anerkannte, fühlten andere Völkerschaften Jugoslawiens sich berechtigt, dem nachzutun. Denkbar wäre, dass Genscher seine Entscheidung im Verein mit Kanzler Helmut Kohl getroffen hat, um auszuloten, wie groß Deutschlands internationale Macht nun sei, da der Zwei+Vier-Vertrag das Land souverän gemacht hatte. Das ist bloß eine Spekulation, die kursiert. Im unwahrscheinlichen Fall, dass sie zutreffen sollte, haben die USA sehr schnell gezeigt, wo der Bartel den Most holt.
Nicht zuletzt wegen
Genschers unbedachter Politik
eskalierte der Konflikt
Eine humanitäre Katastrophe
sollte verhindert werden.
Das Gegenteil passierte
Hans-Peter Kriemann: Der Kosovokrieg 1999.
Reclam-Verlag, Stuttgart 2019. 160 Seiten,
14,95 Euro.
E-Book: 12,99 Euro.
Bomben auf Belgrad: Soldaten und Feuerwehrleute durchsuchen im April 1999 die Überreste der serbischen Fernsehanstalt.
Foto: dpa
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2019Die alternativlose Zwickmühle
Eine lesenswerte und lesbare Geschichte des Kosovo-Krieges 1999
Mit der 2018 gestarteten Reihe "Kriege der Moderne" hat der Reclam-Verlag zusammen mit dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) auf dem deutschsprachigen Büchermarkt in gewisser Weise Neuland betreten. Die Idee zeugt davon, dass es anscheinend auch in der oft der Realität des Krieges abgewandten, "postheroischen" Gesellschaft der Bundesrepublik einen wachsenden Bedarf an anschaulichen und gut lesbaren Darstellungen der Kriegsgeschichte auch für interessierte Laien gibt. Der grundsätzliche Aufbau der Reihe mit dem Dreiklang von konziser Darstellung des historisch-politischen Kontextes, der strategischen und operativen militärischen Führung und der exemplarischen Konkretisierung der individuellen Einsatzerfahrungen eines Krieges ist im Sinne einer größtmöglichen Zugänglichkeit von Themen der Kriegsgeschichte nur zu begrüßen.
Nachdem sich die ersten Bände der Reihe mit Aspekten des Ersten und vor allem des Zweiten Weltkrieges befasst hatten, wendet sich Hans-Peter Kriemann, Mitarbeiter des ZMSBw im Projektbereich Einsatzgeschichte, nun der jüngsten deutschen Kriegs- und Militärgeschichte zu. Ihm gelingt es in ebenso anschaulicher wie präziser Weise, das deutsche Grunddilemma des Kosovo-Krieges zu verdeutlichen: die fundamentale Spannung zwischen innenpolitischer Skepsis bis zur Zerreißprobe der rot-grünen Koalition und außenpolitischem Erwartungsdruck der Verbündeten. Dabei verhehlt er nicht, dass die Bundesregierung an der Eskalation des jugoslawischen Zerfallsprozesses, an dessen Ende der Kosovo-Krieg stand, nicht völlig unschuldig war, denn mit der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens im Dezember 1992 war "die Büchse der Pandora geöffnet worden". Im Kosovo führten Aktionen der antiserbischen Befreiungsarmee UCK, bei der die "Grenzen zwischen Widerstandsorganisation und organisierter Kriminalität . . . fließend" waren, 1997/98 zur gewaltsamen Eskalation der Situation. Kriemann gelingt es auf engem Raum, die Komplexität der Motivlagen der Nato-Staaten angesichts der sich anbahnenden humanitären Katastrophe und der russischen Veto-Drohung im UN-Sicherheitsrat gegen etwaige militärische Maßnahmen gegen die serbischen Sicherheitskräfte überzeugend herauszuarbeiten, wozu nicht zuletzt im deutschen Fall die Angst vor erneuter Massenzuwanderung aus dem Balkan gehörte.
Der innenpolitisch motivierte Unwillen der Amerikaner zu einer Militäraktion führte zu deutsch-französischen Vorstellungen von WEU-Maßnahmen, wobei die Vorschläge des Auswärtigen Amtes vom Bundesverteidigungsministerium abgelehnt wurden, da man dort annahm, dass der Aufbau einer Drohkulisse gegenüber Restjugoslawien ohne Beteiligung und Führung der Amerikaner gar nicht möglich sein würde. Interessant ist hierbei, dass die Situation in Washington durchaus vergleichbar war und die Militärs sich weitgehend einig über die zu vermeidenden Risiken militärischer Drohungen waren. Auch der Kosovo-Krieg zeigt damit, dass die professionellen Militärs gegenüber dem Einsatz von Gewalt zur Erreichung politischer Ziele grundsätzlich skeptisch sind, wenn diese nicht konsequent durchdacht sind.
Zwar setzte sich angesichts der allmählichen Zuspitzung der Lage im Kosovo, begleitet von einer entsprechenden Medienberichterstattung ("CNN-Effekt"), unter den Nato-Staaten die Auffassung durch, eine militärische Drohung gegenüber Belgrad sei notwendig, doch die Dominanz der amerikanischen Kapazitäten und der Wille Washingtons, sich von Russland und dem UN-Sicherheitsrat nicht seine Handlungsfreiheit nehmen zu lassen, führten schnell dazu, dass die amerikanische Perspektive schnell auch den diplomatischen Kurs der Nato dominierte, was am 24. März 1999 zur militärischen Intervention ohne UN-Mandat führte.
Auch hinsichtlich der Kriseneskalation zeichnet der Verfasser die strategischen Restriktionen und Mängel der Nato und der Bundesregierung schonungslos nach: Dies betrifft den unerwartet wirkungsschwachen Luftkrieg, die sukzessive Eskalation der Luftangriffe mit zivilen Opfern bis hin zu konkreten Überlegungen einer Bodenoffensive unter (geplanter) Beteiligung deutscher Kampftruppen. Gleichzeitig war für die Bundesregierung klar, dass sich Deutschland aus den Militäraktionen nicht heraushalten konnte, denn angesichts "der politischen Lage war die Entscheidung, wie Fischer es ausdrückte, ,alternativlos'". Zwar zögerte Berlin die offizielle Zustimmung zum Militäreinsatz angesichts der innenpolitischen Widerstände so lange hinaus wie möglich, doch Kriemann stellt lapidar fest: "Militärisches Effizienzdenken, das von einer rationalen Steuerbarkeit und Berechenbarkeit des Krieges geprägt ist, entfaltete im Kosovokrieg in Verbindung mit Zeitdruck eine Dynamik, der sich die Deutschen nicht entziehen konnten. Vieles spricht allerdings dafür, dass Deutschland im Falle einer Bodeninvasion nicht einfach aus dem Bündnis ausgeschert wäre." Umso eifriger bemühte sich die Bundesregierung angesichts eines drohenden Zerbrechens der Koalition um eine diplomatische Beendigung des Krieges, was schließlich angesichts der Aufgabe der russischen Unterstützung für Belgrad angesichts diplomatischer Avancen und des Bedarfs an westlichen Krediten auch gelang, so dass die isolierte serbische Führung am 31. Mai 1999 den Kfor-Plänen zustimmte und die Bombardements am 10. Juni schließlich endeten.
Insgesamt gelingt dem Verfasser eine überaus überzeugende Synopse der Vorgeschichte, des politisch-diplomatischen und militärischen Verlaufs und der Ergebnisse des Kosovo-Krieges, was durch die schlaglichtartigen Erfahrungsberichte eingesetzter deutscher Luftwaffensoldaten eindrücklich illustriert wird. Insbesondere die politischen und militärischen Zwickmühlen, in denen sich nicht zuletzt die Bundesregierung wiederfand, sowie das teilweise deutliche Auseinanderklaffen zwischen innen- und außenpolitischer sowie diplomatischer und militärischer Perspektive werden eindrücklich dargestellt. Sie verweisen auf die grundsätzlichen strategischen Probleme westlicher Demokratien angesichts humanitärer Krisen in anderen Ländern. Gleichwohl kann man einige wichtige Kritikpunkte anbringen: So hätte noch grundsätzlicher auf das Scheitern der zeitgenössisch so beliebten Doktrin, wonach Konflikte ausschließlich aus der Luft zu gewinnen sind, hingewiesen werden können. Auch die implizit kritisierte Dominanz der Vereinigten Staaten lässt sich zudem in erster Linie auf das Versagen der Europäer zurückführen, das bereits im Bosnien-Krieg augenfällig geworden war. Schließlich erscheint die Folgerung, die Intervention im Kosovo sei durch die im Anschluss entstandene UN-Konzeption der Responsibility to Protect (R2P) zu "einem wichtigen historischen Meilenstein" allzu vereinfacht, wenn man sich vor Augen führt, dass die R2P in der Praxis mittlerweile fast wieder obsolet ist und das trotz aller Legitimationsversuche völkerrechtswidrige Vorgehen der Nato 1999 etwa als propagandistische Rechtfertigung der russischen Annexion der Krim herangezogen worden ist.
Entsprechend der weiter bestehenden Bedeutung bewaffneter Konflikte im internationalen System und den immer wieder auftretenden strategischen Zwickmühlen nicht zuletzt für die Bundesregierung ist dem Band eine möglichst breite Leserschaft zu wünschen.
RALPH ROTTE
Hans-Peter Kriemann: "Der Kosovokrieg 1999".
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2019. 160 S., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine lesenswerte und lesbare Geschichte des Kosovo-Krieges 1999
Mit der 2018 gestarteten Reihe "Kriege der Moderne" hat der Reclam-Verlag zusammen mit dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) auf dem deutschsprachigen Büchermarkt in gewisser Weise Neuland betreten. Die Idee zeugt davon, dass es anscheinend auch in der oft der Realität des Krieges abgewandten, "postheroischen" Gesellschaft der Bundesrepublik einen wachsenden Bedarf an anschaulichen und gut lesbaren Darstellungen der Kriegsgeschichte auch für interessierte Laien gibt. Der grundsätzliche Aufbau der Reihe mit dem Dreiklang von konziser Darstellung des historisch-politischen Kontextes, der strategischen und operativen militärischen Führung und der exemplarischen Konkretisierung der individuellen Einsatzerfahrungen eines Krieges ist im Sinne einer größtmöglichen Zugänglichkeit von Themen der Kriegsgeschichte nur zu begrüßen.
Nachdem sich die ersten Bände der Reihe mit Aspekten des Ersten und vor allem des Zweiten Weltkrieges befasst hatten, wendet sich Hans-Peter Kriemann, Mitarbeiter des ZMSBw im Projektbereich Einsatzgeschichte, nun der jüngsten deutschen Kriegs- und Militärgeschichte zu. Ihm gelingt es in ebenso anschaulicher wie präziser Weise, das deutsche Grunddilemma des Kosovo-Krieges zu verdeutlichen: die fundamentale Spannung zwischen innenpolitischer Skepsis bis zur Zerreißprobe der rot-grünen Koalition und außenpolitischem Erwartungsdruck der Verbündeten. Dabei verhehlt er nicht, dass die Bundesregierung an der Eskalation des jugoslawischen Zerfallsprozesses, an dessen Ende der Kosovo-Krieg stand, nicht völlig unschuldig war, denn mit der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens im Dezember 1992 war "die Büchse der Pandora geöffnet worden". Im Kosovo führten Aktionen der antiserbischen Befreiungsarmee UCK, bei der die "Grenzen zwischen Widerstandsorganisation und organisierter Kriminalität . . . fließend" waren, 1997/98 zur gewaltsamen Eskalation der Situation. Kriemann gelingt es auf engem Raum, die Komplexität der Motivlagen der Nato-Staaten angesichts der sich anbahnenden humanitären Katastrophe und der russischen Veto-Drohung im UN-Sicherheitsrat gegen etwaige militärische Maßnahmen gegen die serbischen Sicherheitskräfte überzeugend herauszuarbeiten, wozu nicht zuletzt im deutschen Fall die Angst vor erneuter Massenzuwanderung aus dem Balkan gehörte.
Der innenpolitisch motivierte Unwillen der Amerikaner zu einer Militäraktion führte zu deutsch-französischen Vorstellungen von WEU-Maßnahmen, wobei die Vorschläge des Auswärtigen Amtes vom Bundesverteidigungsministerium abgelehnt wurden, da man dort annahm, dass der Aufbau einer Drohkulisse gegenüber Restjugoslawien ohne Beteiligung und Führung der Amerikaner gar nicht möglich sein würde. Interessant ist hierbei, dass die Situation in Washington durchaus vergleichbar war und die Militärs sich weitgehend einig über die zu vermeidenden Risiken militärischer Drohungen waren. Auch der Kosovo-Krieg zeigt damit, dass die professionellen Militärs gegenüber dem Einsatz von Gewalt zur Erreichung politischer Ziele grundsätzlich skeptisch sind, wenn diese nicht konsequent durchdacht sind.
Zwar setzte sich angesichts der allmählichen Zuspitzung der Lage im Kosovo, begleitet von einer entsprechenden Medienberichterstattung ("CNN-Effekt"), unter den Nato-Staaten die Auffassung durch, eine militärische Drohung gegenüber Belgrad sei notwendig, doch die Dominanz der amerikanischen Kapazitäten und der Wille Washingtons, sich von Russland und dem UN-Sicherheitsrat nicht seine Handlungsfreiheit nehmen zu lassen, führten schnell dazu, dass die amerikanische Perspektive schnell auch den diplomatischen Kurs der Nato dominierte, was am 24. März 1999 zur militärischen Intervention ohne UN-Mandat führte.
Auch hinsichtlich der Kriseneskalation zeichnet der Verfasser die strategischen Restriktionen und Mängel der Nato und der Bundesregierung schonungslos nach: Dies betrifft den unerwartet wirkungsschwachen Luftkrieg, die sukzessive Eskalation der Luftangriffe mit zivilen Opfern bis hin zu konkreten Überlegungen einer Bodenoffensive unter (geplanter) Beteiligung deutscher Kampftruppen. Gleichzeitig war für die Bundesregierung klar, dass sich Deutschland aus den Militäraktionen nicht heraushalten konnte, denn angesichts "der politischen Lage war die Entscheidung, wie Fischer es ausdrückte, ,alternativlos'". Zwar zögerte Berlin die offizielle Zustimmung zum Militäreinsatz angesichts der innenpolitischen Widerstände so lange hinaus wie möglich, doch Kriemann stellt lapidar fest: "Militärisches Effizienzdenken, das von einer rationalen Steuerbarkeit und Berechenbarkeit des Krieges geprägt ist, entfaltete im Kosovokrieg in Verbindung mit Zeitdruck eine Dynamik, der sich die Deutschen nicht entziehen konnten. Vieles spricht allerdings dafür, dass Deutschland im Falle einer Bodeninvasion nicht einfach aus dem Bündnis ausgeschert wäre." Umso eifriger bemühte sich die Bundesregierung angesichts eines drohenden Zerbrechens der Koalition um eine diplomatische Beendigung des Krieges, was schließlich angesichts der Aufgabe der russischen Unterstützung für Belgrad angesichts diplomatischer Avancen und des Bedarfs an westlichen Krediten auch gelang, so dass die isolierte serbische Führung am 31. Mai 1999 den Kfor-Plänen zustimmte und die Bombardements am 10. Juni schließlich endeten.
Insgesamt gelingt dem Verfasser eine überaus überzeugende Synopse der Vorgeschichte, des politisch-diplomatischen und militärischen Verlaufs und der Ergebnisse des Kosovo-Krieges, was durch die schlaglichtartigen Erfahrungsberichte eingesetzter deutscher Luftwaffensoldaten eindrücklich illustriert wird. Insbesondere die politischen und militärischen Zwickmühlen, in denen sich nicht zuletzt die Bundesregierung wiederfand, sowie das teilweise deutliche Auseinanderklaffen zwischen innen- und außenpolitischer sowie diplomatischer und militärischer Perspektive werden eindrücklich dargestellt. Sie verweisen auf die grundsätzlichen strategischen Probleme westlicher Demokratien angesichts humanitärer Krisen in anderen Ländern. Gleichwohl kann man einige wichtige Kritikpunkte anbringen: So hätte noch grundsätzlicher auf das Scheitern der zeitgenössisch so beliebten Doktrin, wonach Konflikte ausschließlich aus der Luft zu gewinnen sind, hingewiesen werden können. Auch die implizit kritisierte Dominanz der Vereinigten Staaten lässt sich zudem in erster Linie auf das Versagen der Europäer zurückführen, das bereits im Bosnien-Krieg augenfällig geworden war. Schließlich erscheint die Folgerung, die Intervention im Kosovo sei durch die im Anschluss entstandene UN-Konzeption der Responsibility to Protect (R2P) zu "einem wichtigen historischen Meilenstein" allzu vereinfacht, wenn man sich vor Augen führt, dass die R2P in der Praxis mittlerweile fast wieder obsolet ist und das trotz aller Legitimationsversuche völkerrechtswidrige Vorgehen der Nato 1999 etwa als propagandistische Rechtfertigung der russischen Annexion der Krim herangezogen worden ist.
Entsprechend der weiter bestehenden Bedeutung bewaffneter Konflikte im internationalen System und den immer wieder auftretenden strategischen Zwickmühlen nicht zuletzt für die Bundesregierung ist dem Band eine möglichst breite Leserschaft zu wünschen.
RALPH ROTTE
Hans-Peter Kriemann: "Der Kosovokrieg 1999".
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2019. 160 S., 14,95 [Euro].
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»Mit packender Akkuratesse und Nüchternheit geschrieben« Süddeutsche Zeitung, 05.08.2019