Anne Karpf, Jahrgang 1950, ist die Tochter zweier Überlebender des Holocaust. Behütet und in äußerlich "normalen" Verhältnissen wächst sie in England auf. Doch ihr Leben ist bestimmt von Angst, Depressionen und einer psychisch bedingten Neurodermitis. In intensiven Gesprächen mit ihren Eltern lernt sie deren Sorgen und Ängste kennen und begreift wie sehr auch sie selbst in ihrer Erziehung und ihrem ganzen Verhalten durch den Holocaust geprägt wurde. Eine bewegende Autobiographie einer Angehörigen der "Zweiten Generation".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.1999Im Schatten der Eltern
Anne Karpfs Buch "Der Krieg danach. Leben mit dem Holocaust"
Auf einem Landgut in einem von Bürgerkrieg und Pest heimgesuchten Flecken Frankreichs schrieb Michel de Montaigne einen Essay über die Traurigkeit. Die "starre, stumme und taube Gefühllosigkeit", heißt es darin, sei lähmend, wenn ein Unglück unsere Kräfte übersteige. Von Trauer überwältigt, verliere die Seele ihre Freiheit. "Erst nachher, wenn sie sich durch Weinen und Klagen scheinbar entspannt, gewinnt die Seele wieder größere Freiheit und Bewegung."
Um die Lösung der Gefühlsstarre und die Bewältigung des daraus resultierenden Schmerzes geht es auch in dem Buch "Der Krieg danach. Leben mit dem Holocaust" der 1950 in England geborenen Soziologin und Journalistin Anne Karpf. Ihre Eltern, polnische Juden, überlebten den Holocaust unter grausigen Bedingungen und kamen 1947 von Warschau nach London. Der Titel des Buches bezieht sich jedoch weniger auf das Schicksal der Eltern als auf die Probleme der Tochter. Karpfs eigenartiges Buch beginnt mit einer Reflexion auf ihr kompliziertes Verhältnis zu ihren Eltern, das geprägt ist von Unsicherheit, Trennungsangst, Schuldgefühlen und einer rasenden, unterdrückten Wut. Eingewoben in ihre Analyse der Psychopathologie ihrer Familie, die bei ihr somatisch als Ekzem zum Ausbruch kommt, sind die Berichte der Eltern über ihr Leben vor, während und nach dem Krieg.
Die Mutter, Natalia Karpf, geborene Weissman, kam 1911 als Tochter wohlhabender Eltern in Krakau zur Welt. Sie wurde Pianistin und studierte 1927 bei Arthur Schnabel in Berlin. Im Dezember 1929 gab sie ihr erstes Konzert mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Heinz Bongartz. Als der Krieg ausbrach, floh sie von Krakau nach Tarnów, wo sie von der Gestapo geschnappt ("Du bist verhaftet, du freche Sarah") und brutal zusammengeschlagen wurde. Dreimal entging sie der Deportation aus dem Tarnówer Ghetto. Im Januar 1943 gelang ihr die Flucht nach Warschau, wo sie und ihre Schwester sich im arischen Teil versteckten. Im November 1943 wurden sie bei einem Fluchtversuch von der polnischen Polizei aufgegriffen und der Gestapo übergeben. Im Dezember kamen die beiden Frauen ins Lager Plaszów, wo Natalia dem gefürchteten Kommandanten und Musikliebhaber Amon Goeth vorspielen mußte, was sie und ihre Schwester vor der Ermordung bewahrte. Diese Szene hat Steven Spielberg in seinen Film "Schindlers Liste" aufgenommen. Am 22. Oktober 1944 wurde das Lager Plaszów aufgelöst und die Insassen nach Auschwitz deportiert, wo Natalia Weissman, Häftling A27404, im Januar 1945 befreit wurde.
Im Vergleich zu diesem Leben nimmt sich das ereignislose, wenn auch psychologisch schwierige Leben der Tochter idyllisch aus. Die Autorin ist sich darüber im klaren, daß das Schicksal der Eltern - der Vater war als Pole in russischen Lagern interniert - ihren eigenen Lebensbericht auf banales Wehklagen zusammenschrumpfen läßt. Mancher Leser mag sich auf die Geduldsprobe gestellt fühlen, denn die Beziehungen zwischen der Vergangenheit der Eltern und den seelischen und emotionalen Problemen der Tochter sind oft nicht evident.
Das mag daran liegen, daß Karpf ihr Buch dezidiert als persönlichen Bericht über das Leben mit ihren Eltern schrieb und einen Blick in die reiche Primär- und Sekundärliteratur über die zweite Holocaust-Generation vermied. Sie wollte ihre Aufzeichnungen nicht in "das gängige Psychogewäsch" einreihen. Dieser Alleingang mag für die Autorin einen Schritt zu einem neuen Selbstwertgefühl darstellen. Doch für Leser, die hier vielleicht zum ersten Mal den Gefühlen der zweiten Generation begegnen, erschwert die fehlende Reflexion auf andere Erfahrungsweisen und wichtige psychologische Konzepte den Versuch, ein Profil der Autorin als Tochter von Holocaust-Überlebenden zu erhalten. Viele Symptome, die Karpf nennt, zum Beispiel die körperliche Reaktion auf Schamgefühle, die tiefsitzende Verpflichtung, die Eltern schützen zu müssen, das Gefühl, nicht ein Mensch wie andere zu sein, die Unmöglichkeit, "die Welt und unseren Platz darin als Selbstverständlichkeit zu betrachten", die Ausgrenzung negativer Gefühle und die Verachtung körperlicher Schwächen, plagen auch die Kinder aus anderen Familien.
Karpf weiß um diese Schwierigkeit und hat ihrem Lebensbericht drei Kapitel angehängt, die den historischen Kontext der Erfahrung ihrer Familie rekonstruieren. Sie beschreibt das Leben der englischen Juden, die langwährende Gleichgültigkeit gegenüber Holocaust-Überlebenden insbesondere in England und das zunehmende Interesse an den psychischen Folgen des Holocaust. In diesen drei Kapiteln werden die Gefühllosigkeit der englischen Gesellschaft gegenüber Nichtengländern und die Isolation der Holocaust-Überlebenden eindringlich dargestellt. Zusammen mit den Autobiographien der Eltern gehört die Exposition der Seelenstarre der englischen Gesellschaft zu den beeindruckenden Passagen des Buches.
Das Buch beschreibt die allmähliche seelische Entspannung einer jungen Frau, gefördert durch eine Psychotherapie und durch die zunehmende Rezeptivität der englischen Gesellschaft für die Erfahrungen der Holocaust-Überlebenden. Das Weinen und die Klagen dürfen uns nicht den Blick darauf verstellen, daß der im Schreiben gespiegelte Schmerz eine schwer erkämpfte, kümmerliche Distanz zu den Abgründen des Grauens darstellt. SUSANNE KLINGENSTEIN
Anne Karpf: "Der Krieg danach. Leben mit dem Holocaust". Aus dem Englischen übersetzt von Marion Kappel. Ullstein Verlag, Berlin 1998. 461 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anne Karpfs Buch "Der Krieg danach. Leben mit dem Holocaust"
Auf einem Landgut in einem von Bürgerkrieg und Pest heimgesuchten Flecken Frankreichs schrieb Michel de Montaigne einen Essay über die Traurigkeit. Die "starre, stumme und taube Gefühllosigkeit", heißt es darin, sei lähmend, wenn ein Unglück unsere Kräfte übersteige. Von Trauer überwältigt, verliere die Seele ihre Freiheit. "Erst nachher, wenn sie sich durch Weinen und Klagen scheinbar entspannt, gewinnt die Seele wieder größere Freiheit und Bewegung."
Um die Lösung der Gefühlsstarre und die Bewältigung des daraus resultierenden Schmerzes geht es auch in dem Buch "Der Krieg danach. Leben mit dem Holocaust" der 1950 in England geborenen Soziologin und Journalistin Anne Karpf. Ihre Eltern, polnische Juden, überlebten den Holocaust unter grausigen Bedingungen und kamen 1947 von Warschau nach London. Der Titel des Buches bezieht sich jedoch weniger auf das Schicksal der Eltern als auf die Probleme der Tochter. Karpfs eigenartiges Buch beginnt mit einer Reflexion auf ihr kompliziertes Verhältnis zu ihren Eltern, das geprägt ist von Unsicherheit, Trennungsangst, Schuldgefühlen und einer rasenden, unterdrückten Wut. Eingewoben in ihre Analyse der Psychopathologie ihrer Familie, die bei ihr somatisch als Ekzem zum Ausbruch kommt, sind die Berichte der Eltern über ihr Leben vor, während und nach dem Krieg.
Die Mutter, Natalia Karpf, geborene Weissman, kam 1911 als Tochter wohlhabender Eltern in Krakau zur Welt. Sie wurde Pianistin und studierte 1927 bei Arthur Schnabel in Berlin. Im Dezember 1929 gab sie ihr erstes Konzert mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Heinz Bongartz. Als der Krieg ausbrach, floh sie von Krakau nach Tarnów, wo sie von der Gestapo geschnappt ("Du bist verhaftet, du freche Sarah") und brutal zusammengeschlagen wurde. Dreimal entging sie der Deportation aus dem Tarnówer Ghetto. Im Januar 1943 gelang ihr die Flucht nach Warschau, wo sie und ihre Schwester sich im arischen Teil versteckten. Im November 1943 wurden sie bei einem Fluchtversuch von der polnischen Polizei aufgegriffen und der Gestapo übergeben. Im Dezember kamen die beiden Frauen ins Lager Plaszów, wo Natalia dem gefürchteten Kommandanten und Musikliebhaber Amon Goeth vorspielen mußte, was sie und ihre Schwester vor der Ermordung bewahrte. Diese Szene hat Steven Spielberg in seinen Film "Schindlers Liste" aufgenommen. Am 22. Oktober 1944 wurde das Lager Plaszów aufgelöst und die Insassen nach Auschwitz deportiert, wo Natalia Weissman, Häftling A27404, im Januar 1945 befreit wurde.
Im Vergleich zu diesem Leben nimmt sich das ereignislose, wenn auch psychologisch schwierige Leben der Tochter idyllisch aus. Die Autorin ist sich darüber im klaren, daß das Schicksal der Eltern - der Vater war als Pole in russischen Lagern interniert - ihren eigenen Lebensbericht auf banales Wehklagen zusammenschrumpfen läßt. Mancher Leser mag sich auf die Geduldsprobe gestellt fühlen, denn die Beziehungen zwischen der Vergangenheit der Eltern und den seelischen und emotionalen Problemen der Tochter sind oft nicht evident.
Das mag daran liegen, daß Karpf ihr Buch dezidiert als persönlichen Bericht über das Leben mit ihren Eltern schrieb und einen Blick in die reiche Primär- und Sekundärliteratur über die zweite Holocaust-Generation vermied. Sie wollte ihre Aufzeichnungen nicht in "das gängige Psychogewäsch" einreihen. Dieser Alleingang mag für die Autorin einen Schritt zu einem neuen Selbstwertgefühl darstellen. Doch für Leser, die hier vielleicht zum ersten Mal den Gefühlen der zweiten Generation begegnen, erschwert die fehlende Reflexion auf andere Erfahrungsweisen und wichtige psychologische Konzepte den Versuch, ein Profil der Autorin als Tochter von Holocaust-Überlebenden zu erhalten. Viele Symptome, die Karpf nennt, zum Beispiel die körperliche Reaktion auf Schamgefühle, die tiefsitzende Verpflichtung, die Eltern schützen zu müssen, das Gefühl, nicht ein Mensch wie andere zu sein, die Unmöglichkeit, "die Welt und unseren Platz darin als Selbstverständlichkeit zu betrachten", die Ausgrenzung negativer Gefühle und die Verachtung körperlicher Schwächen, plagen auch die Kinder aus anderen Familien.
Karpf weiß um diese Schwierigkeit und hat ihrem Lebensbericht drei Kapitel angehängt, die den historischen Kontext der Erfahrung ihrer Familie rekonstruieren. Sie beschreibt das Leben der englischen Juden, die langwährende Gleichgültigkeit gegenüber Holocaust-Überlebenden insbesondere in England und das zunehmende Interesse an den psychischen Folgen des Holocaust. In diesen drei Kapiteln werden die Gefühllosigkeit der englischen Gesellschaft gegenüber Nichtengländern und die Isolation der Holocaust-Überlebenden eindringlich dargestellt. Zusammen mit den Autobiographien der Eltern gehört die Exposition der Seelenstarre der englischen Gesellschaft zu den beeindruckenden Passagen des Buches.
Das Buch beschreibt die allmähliche seelische Entspannung einer jungen Frau, gefördert durch eine Psychotherapie und durch die zunehmende Rezeptivität der englischen Gesellschaft für die Erfahrungen der Holocaust-Überlebenden. Das Weinen und die Klagen dürfen uns nicht den Blick darauf verstellen, daß der im Schreiben gespiegelte Schmerz eine schwer erkämpfte, kümmerliche Distanz zu den Abgründen des Grauens darstellt. SUSANNE KLINGENSTEIN
Anne Karpf: "Der Krieg danach. Leben mit dem Holocaust". Aus dem Englischen übersetzt von Marion Kappel. Ullstein Verlag, Berlin 1998. 461 S., geb., 48,- DM.
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