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"Der Krüppel" ist die provokante Darstellung der unterschiedlichen Definitionen von Behinderung in den verschiedenen Gesellschaften der Welt und der Geschichte.

Produktbeschreibung
"Der Krüppel" ist die provokante Darstellung der unterschiedlichen Definitionen von Behinderung in den verschiedenen Gesellschaften der Welt und der Geschichte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Welt am Stock
Klaus E. Müllers Universalgeschichte der Behinderung / Von Katharina Rutschky

Irgendwie sind wir ja alle mehr oder weniger behindert und können uns leicht von anderen diskriminiert fühlen. Zu klein, zu dick oder zu dumm - wer setzt da eigentlich die Maßstäbe? Abgesehen davon, daß manche Menschen tatsächlich diskriminiert und um verbriefte Rechte gebracht werden, wenn sie sich nicht wehren und engagierte Fürsprecher finden, hat sich in den letzten Jahren eine sonderbare Empfindsamkeit ausgebreitet, die schwer zu deuten und mit der im Alltag noch schwieriger umzugehen ist.

In Berlin gab es kürzlich eine Auseinandersetzung darüber, ob es Rollstuhlfahrern zuzumuten sei, beim Einsteigen die Hilfe des Busfahrers zu beanspruchen, oder ob vom städtischen Busunternehmen verlangt werden müsse, Busse mit einer unpersönlichen Technik auszurüsten, damit Behinderte quasi normal, das heißt selbständig, an Bord kommen können.

Sonst, war zu hören, würden sie diskriminiert.

So, wie das Wort gebraucht wird, unterscheidet es nicht mehr zwischen der Wahrnehmung des Anderen, Fremden, Irritierenden oder Erstaunlichen und der Herabsetzung. Viele meinen, daß die Leugnung der Differenz, sei es des Geschlechts, des Alters, der individuellen Gestalt oder des kulturellen Ausdrucks, der Königsweg zu einer humaneren Gesellschaft sei. Wie die Auswüchse der politischen Korrektheit schon jetzt zeigen, eröffnet er eher Aussichten auf eine Gesellschaft des Mißtrauens, voller Mißverständnisse und peinlicher Kleinkriege aus banalen Gründen. Die eigentliche Frage kann also nicht lauten, ob es Krüppel - oder Behinderte, wie man heute sagt - oder Schöne und Häßliche, Fremde oder Einheimische gibt, oder ob wir es hier mit fatalen Konstruktionen zu tun haben, sondern nur, welche Konsequenzen wir heute aus solchen differenzierenden Wahrnehmungen ziehen.

Wer an den Prozeß der Zivilisation nicht glaubt und das kleine und große Einmaleins des Ethno- und Eurozentrismus gelernt hat, der kann bei der Lektüre von Klaus E. Müllers weit ausholender Recherche in den Archiven der Ethnologie wieder umdenken. Vermutlich gegen die Intentionen des Autors, der die Diskriminierung als falsche Herab- oder Heraufsetzung der Häßlichen und Schönen, als hoffnungslose Ordnung im Chaos einer unvollkommenen Schöpfung beschreiben will, mit der abzufinden uns bislang noch nicht gelungen ist.

Menschen sind unter Umständen nicht nur verkrüppelt, rothaarig oder fremd und häßlich, sie sind auch böse und vor allem sterblich. Das Christentum lehrt, daß der Tod der Sünde Sold ist seit der Vertreibung aus dem Paradies - es gibt aber viele, die schon zu Lebzeiten besonders büßen müssen. Das sind ebendie Krüppel, die Rothaarigen oder Fremden, deren Randexistenz vom Chaos zeugt, über das die schöne Aristokratie der Herrschenden, der Normalen und der Einheimischen zum Schein und mit barbarischen Konsequenzen für die anderen triumphiert.

Diskriminierung - die Ausgrenzung und Herabsetzung der einen, die Heraufsetzung der anderen - ist der Fluchtweg, den alle Kulturen eingeschlagen haben, um sich aus dem Moor zu retten, in dem Festes und Flüssiges widerlich ineinanderfließen. Müller illustriert diese These, die sich so deutlich ausgesprochen in seinem Buch nicht findet, mit unendlichen Verweisen aus dem Archiv der Volks- und Völkerkunde. Der Leser ist sich nicht sicher, ob Müller nicht sogar glaubt, eine politisch korrekte Formel für die Geschichte der Menschheit gefunden zu haben. Oder plädiert er mit seiner langwierigen Beweisführung nur für den endgültigen Abschied von allen Religionen, die samt und sonders Ordnung stiften, indem sie Gute und Böse, Verdammte und Gerettete, Gläubige und Ungläubige angesichts des Todes und anderer menschlicher Mißhelligkeiten diskriminieren?

Wohl kaum ist jeder seines nächsten Krüppel - wie der Klappentext die

auch von mir unterstellte Pointe des Autors zuspitzt -; verblüffend ist doch eher die Parteinahme, die wir hier und heute Behinderten und Fremden zuteil werden lassen. Immer noch zuwenig, werden manche klagen. Aber verglichen mit den welthistorischen Vorfahren, die Müller abgrast - handele es sich um Indianer, Chinesen oder die gerühmten Griechen, welche die Wurzeln der Humanität gesteckt haben -, stehen wir hier und heute gut da. Sie ist höchst sonderbar, die implizite, vermutlich unfreiwillige Botschaft dieser Collage von Belegstellen, daß unsere westliche, euro- und ethnozentrische Kultur die erste und einzige zu sein scheint, die sich selbst nach außen und innen selbstkritisch zu durchleuchten vermag.

Zwar haben auch wir alle Sünden der Ausgrenzung und der Verfolgung der Buckligen, Rothaarigen und Fremden auf uns geladen - aber offenbar sind wir, dem Kolonialismus zum Trotz, auch imstande, diese Sünden zu erkennen und im Namen der Menschenrechte Abhilfe zu projektieren. Das ist Müller nicht aufgefallen, der zwischen der Hagiographie Notkers des Stammlers und Hitler nicht unterscheiden mag. Das Leiden an der unvollkommenen Schöpfung hat allüberall und zu jeder Zeit zu denselben Reaktionen geführt - so Müller.

Verheißungsvoll beginnt das Buch mit einem langen Zitat von Augustin. Werden die Menschen auferstehen in der Gestalt ihres Todes oder in der Vollendung, die eigentlich in ihnen angelegt war? Zitate als Materialien der Auseinandersetzung gibt es bei Müller dann nicht mehr, nur noch Verweise, Belege, für die der immer mißtrauischer werdende Leser dann im Kopf die Gegenbeweise sammelt. War Richard III. kein König (und Krüppel) und Rita Hayworth nicht rothaarig? Die Webart von Müllers Buch erinnert an die populäre Ethnographie des 19. Jahrhunderts, die damals süffige Themen bearbeitete, die heute natürlich anders lauten. Versprach Hermann Ploss pikanten Aufschluß über "Das Weib", so sollen wir uns heute über den "Krüppel" und seine historische, eigentlich theologische Notwendigkeit instruieren.

Müller scheut nicht nur die Geschichte und den Versuch, sie zu verstehen - er scheut auch jeden Ansatz zur Theorie, zu irgendeiner Verallgemeinerung. Lehrreich nur das eine: daß jede bekannte Gesellschaft, jeder Stamm (von uns abgesehen) sich als Menschheit begriffen und Fremde als abartig diskriminiert hat. Es gibt immer Mitte und Rand. Letzten Endes ist da, wo ich bin, die Mitte, die Welt, wie sie zu sein hat.

Klaus E. Müller: "Der Krüppel". Ethnologia passionis humanae. Verlag C. H. Beck, München 1996. 353 S., geb., 58,- DM.

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