Ein Roman, der unser aller Leben betrifft
Am 21. Juni, dem längsten Tag des Jahres, reißt das Läuten des Telefons vier Geschwister aus ihrem Alltag: Gerade ist der Vater, das "Zentralgestirn" der Familie, gestorben. Was die Todesnachricht bei den Geschwistern auslöst, fügt sich subtil zu einem scharfsinnigen Familienporträt. Selten ist dieser einschneidende Moment eindrucksvoller eingefangen worden als in dem neuen Roman von Tanja Dückers.
Ganz überraschend kommt der Tod des Vaters nicht. Seit er seine Zoohandlung wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten schließen mußte, schien er jeden Lebensantrieb verloren zu haben. Als typischer Vertreter der Nachkriegsgeneration hatte er jahrzehntelang all seine Energie darangesetzt, das Geschäft auf- und auszubauen. Ja, mehr noch, die Wüstentiere, die er verkaufte, waren die Verkörperung seiner romantischen Sehnsucht nach Exotik.
Allein die älteste Tochter teilt diese wirklichkeitsferne Wüstenleidenschaft, die schuld daran war, daß der Vater seine Kinder weniger wahrnahm als die Warane im Terrarium. Der jüngste Sohn hat der Familie sogar den Rücken gekehrt und ist nicht zu erreichen. Die anderen vier ahnen nicht, daß er die ungelebten Träume seines Vaters auf eigenwillige Art wahrgemacht hat. Unter dem Eindruck der Todesnachricht erkennen die längst erwachsenen Kinder auch den eigenen Lebensweg in unerbittlicher Schärfe.
In ihrem raffiniert erzählten Roman blickt Tanja Dückers hinter die Kulissen einer Familie, in der Erfahrungen und Lebensstile zweier Generationen aufeinanderprallen.
Am 21. Juni, dem längsten Tag des Jahres, reißt das Läuten des Telefons vier Geschwister aus ihrem Alltag: Gerade ist der Vater, das "Zentralgestirn" der Familie, gestorben. Was die Todesnachricht bei den Geschwistern auslöst, fügt sich subtil zu einem scharfsinnigen Familienporträt. Selten ist dieser einschneidende Moment eindrucksvoller eingefangen worden als in dem neuen Roman von Tanja Dückers.
Ganz überraschend kommt der Tod des Vaters nicht. Seit er seine Zoohandlung wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten schließen mußte, schien er jeden Lebensantrieb verloren zu haben. Als typischer Vertreter der Nachkriegsgeneration hatte er jahrzehntelang all seine Energie darangesetzt, das Geschäft auf- und auszubauen. Ja, mehr noch, die Wüstentiere, die er verkaufte, waren die Verkörperung seiner romantischen Sehnsucht nach Exotik.
Allein die älteste Tochter teilt diese wirklichkeitsferne Wüstenleidenschaft, die schuld daran war, daß der Vater seine Kinder weniger wahrnahm als die Warane im Terrarium. Der jüngste Sohn hat der Familie sogar den Rücken gekehrt und ist nicht zu erreichen. Die anderen vier ahnen nicht, daß er die ungelebten Träume seines Vaters auf eigenwillige Art wahrgemacht hat. Unter dem Eindruck der Todesnachricht erkennen die längst erwachsenen Kinder auch den eigenen Lebensweg in unerbittlicher Schärfe.
In ihrem raffiniert erzählten Roman blickt Tanja Dückers hinter die Kulissen einer Familie, in der Erfahrungen und Lebensstile zweier Generationen aufeinanderprallen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In weiten Teilen misslungen erscheint Stephan Maus der neue Roman von Tanja Dückers. Nur dank des letzten Kapitels, das nicht mehr im deutschen Muff Fürstenfeldbrucks, sondern in der Mojave-Wüste spielt, ist das Buch für Maus kein Totalausfall geworden. Die ersten vier Kapitel freilich haben ihn ziemlich gelangweilt. Hier kommt die Geschichte nicht recht in Fahrt, "bleibt im Treibsand der Klischees stecken und psychologisiert konfus vor sich hin". Die Autorin suche aus fünf Perspektiven zu zeigen, wie die inzwischen erwachsenen Kinder der Familie Kadereit mit der Nachricht vom Tod ihres Vaters umgehen. Maus bezichtigt Dückers hier des "größten Fehlers", den ein Autor in einem multiperspektivischen Text machen könne: "Alle fünf Erzähler haben exakt denselben Tonfall." Er klagt, dass nur der Autorin nur selten ein wirklich szenisches Schreiben gelinge, das die Trauer der Kadereit-Kinder in stimmige Gesten oder mehrdeutige Handlungen fasst. Meist kann er, genervt vom "lästigen Psychojargon", den Figuren ihre Trauer nicht abnehmen. Glücklicherweise gibt es da noch das "fantastische Wüstenkapitel" am Ende des Buchs, das aufwarte mit einer überaus gelungenen Beschreibung der Mojave-Wüste und all der Desperados, die sie anzieht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2006Deutsch sein heißt tarnen
Kopf in den Sand: Tanja Dückers weckt Wüstentierinstinkte
"Der längste Tag des Jahres" heißt Tanja Dückers' jüngstes Buch, das von allem anderen als Mittsommernachtsfolien handelt. Ihr Roman, der in fünf Kapiteln eine deutsche Nachkriegsfamilie anatomisiert, enthält zwar eine trollhafte Liebesbegegnung im Wald, doch auch ihr Zauber wird von einer Handymeldung unterbrochen. Der Vater ist an diesem Tag gestorben, und die Erzählerin verfolgt die Wogen, die diese Nachricht bei seinen fünf Kindern auslöst. Sie führt zu Bestandsaufnahmen und Rückblenden, zu Sinnfragen und Kurzschlußhandlungen, zu Tränen und aufbrechenden Unzulänglichkeiten.
So unterschiedlich die Reaktionen der Trauernden sind, in allen zeichnet sich die zentrale Bedeutung des Verstorbenen ab. Obwohl er als Zoohandlungsbesitzer ein bescheidenes Leben führte, regierte er als Patriarch, der durch seine Charakterstärke faszinierte und in der Lebensführung seiner Kinder starke Spuren hinterließ. Sein schauspielernder Sohn David sucht in Theatern die halbdunkle Grottenatmosphäre, die daheim um die väterlichen Terrarien herrschte, Bennie dagegen kann es in seinen vier Wänden gar nicht hell und hoch genug sein. Thomas ist gar in die kalifornische Wüste ausgewandert, von der sein auf Wüstentiere spezialisierter Vater ein Leben lang träumte. In der Psychologie spricht man bei solchen Verhältnissen von einem Generationenphantom. In diesem Fall ist das Gespenst noch etwas älter. Denn der Großvater kam auf Rommels Afrika-Feldzug um, die übrige Familie wurde ausgebombt.
Das deutsche Trauma ist der größere Prospekt, der hinter dieser auf einen einzigen, besonders hellen Tag konzentrierten Nachkriegssaga steckt. Der Patriarch entwickelte als Kind in der Stunde Null einen Hang zur inneren Emigration, zum Phantasieleben in fernen Welten. Das Hortende, Vorsorgende und auf Sicherheit Bedachte bestimmt denn auch Familienplanung und Wahl der Ehefrau. Die schüchterne, ängstliche Mutter bewegt die revoltierenden Söhne, nach selbstbewußten Abenteurerinnen und sinnlichen Superweibern zu suchen. Die vom eigenbrötlerischen Vater geprägten Töchter ziehen weltläufige Partner vor, eine wird Psychoanalytikerin und agiert doch mit ihrem Mann die Konflikte ihrer Eltern aus.
Sylvias Tochter Miriam trägt den Auftrag zur Vergangenheitsbewältigung schon im Namen. Sie wird von ihr als "fett" bezeichnet, erstes Zeichen einer depressiven Überforderung, und interessiert sich für osteuropäische Städte, die einst Zentren jüdischen Lebens waren. Bennie verliebt sich gar in eine Gedächtnisforscherin und plant gemeinsam mit ihr eine Nordafrika-Reise. Das Zwanghafte der Kompensationen, die alle Kinder betreiben, spiegelt die existentielle Unfreiheit der väterlichen Biographie. "Es ist unglaublich, wie diese Tiere unter den härtesten Bedingungen überleben können!" lautet sein Lieblingssatz, wenn er in Gekkoführern blättert. Diese in den Lehnstuhl gebannte Angstlust bleibt von den Feuerstürmen und zerbombten Städten magisch angezogen.
Daß die Wüstenfaszination der Familie nichts anderes symbolisiert, wird vollends deutlich beim jüngsten und begabtesten Sohn. Als Kanalisierungsspezialist verdiente er gutes Geld in New Mexico und ließ es auf Bitten seiner treulosen Gefährtin an eine New-Age-Sekte überweisen. Dem desillusionierten Aussteiger gehört nichts mehr außer Sami, seinem kleinen Sohn, und einem Wohnwagen, von dem aus er Exkursionen zu den "Un-Orten" der Wüste unternimmt, Industrie- und Militäranlagen, Gefängnissen, Müllhalden und Land-Art-Projekten, aber auch zu einer Attrappe von "Little Boy", dem Hiroshima-Bomber, denn "das gesamte Flugtraining für den Atombombenabwurf" hatte hier stattgefunden.
Thomas sucht sich andere Ersatzobjekte, aber wie sein Vater wendet er den Blick nicht mehr von der Endzeitlandschaft ab. Sami wird von ihm mit Rum und Marihuana davor bewahrt, sich Gedanken um eine Zukunft zu machen. Auf die Frage, was er gern täte, sagt er: "Am liebsten noch mal in die Wüste fahren, Papa. Und da tun wir dann nichts." Nichtstun ist die Spezialität der Melancholie. Wie Adalbert Stifters armer Pfarrer in der Erzählung "Kalkstein" vergräbt Thomas sich buchstäblich im heißen Sand und läßt ihn als perfekte Vanitas-Allegorie "langsam durch die Finger rinnen".
Tanja Dückers zeichnet ein rabenschwarzes Bild von dem Versuch nachwachsender Generationen, der psychischen Narbe des Zweiten Weltkriegs zu entkommen. Unter ihren Ausbruchsanstrengungen verbirgt sich biedermeierliche Lebensangst. Was dem neunzehnten Jahrhundert die von allen Seiten auf die Idylle zuwachsende Industrialisierung war, sind heute eine traurige Vergangenheit, eine wirtschaftlich stagnierende Gegenwart und eine unsichere Zukunft.
Die Postmoderne weckt in deutschen Gemütern Wüstentierinstinkte: Untertauchen, von der Hand in den Mund leben, Chamäleon sein heißt die Devise. Der Geborgenheit, die der Vater noch in Heimatvereinen suchte, spüren die Kinder in Sekten, Männer- und Frauengruppen nach. Nichts macht sie so mißtrauisch wie das einfache Glück. Als Sylvias hedonistischer Gatte ihr Frühstückswünsche ins Ohr raunt, bleibt sie taub: "Verführerisch sollte diese Aufzählung klingen, dabei wußte sie doch, daß Zauberformeln ganz anders klangen, daß sie vom Fieber, vom Schüttelfrost, vom Überlebenskampf und von der Gefahr des Todes handeln mußten, sonst waren sie wirkungslos." Offenbar muß jemand sterben, um diese Phantomfamilie zum Leben zu erwecken. Für Rührei und Avocados mit Krabben und Zitronen-Senfsoße stehen sie nicht auf.
INGEBORG HARMS
Tanja Dückers: "Der längste Tag des Jahres". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2006. 213 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kopf in den Sand: Tanja Dückers weckt Wüstentierinstinkte
"Der längste Tag des Jahres" heißt Tanja Dückers' jüngstes Buch, das von allem anderen als Mittsommernachtsfolien handelt. Ihr Roman, der in fünf Kapiteln eine deutsche Nachkriegsfamilie anatomisiert, enthält zwar eine trollhafte Liebesbegegnung im Wald, doch auch ihr Zauber wird von einer Handymeldung unterbrochen. Der Vater ist an diesem Tag gestorben, und die Erzählerin verfolgt die Wogen, die diese Nachricht bei seinen fünf Kindern auslöst. Sie führt zu Bestandsaufnahmen und Rückblenden, zu Sinnfragen und Kurzschlußhandlungen, zu Tränen und aufbrechenden Unzulänglichkeiten.
So unterschiedlich die Reaktionen der Trauernden sind, in allen zeichnet sich die zentrale Bedeutung des Verstorbenen ab. Obwohl er als Zoohandlungsbesitzer ein bescheidenes Leben führte, regierte er als Patriarch, der durch seine Charakterstärke faszinierte und in der Lebensführung seiner Kinder starke Spuren hinterließ. Sein schauspielernder Sohn David sucht in Theatern die halbdunkle Grottenatmosphäre, die daheim um die väterlichen Terrarien herrschte, Bennie dagegen kann es in seinen vier Wänden gar nicht hell und hoch genug sein. Thomas ist gar in die kalifornische Wüste ausgewandert, von der sein auf Wüstentiere spezialisierter Vater ein Leben lang träumte. In der Psychologie spricht man bei solchen Verhältnissen von einem Generationenphantom. In diesem Fall ist das Gespenst noch etwas älter. Denn der Großvater kam auf Rommels Afrika-Feldzug um, die übrige Familie wurde ausgebombt.
Das deutsche Trauma ist der größere Prospekt, der hinter dieser auf einen einzigen, besonders hellen Tag konzentrierten Nachkriegssaga steckt. Der Patriarch entwickelte als Kind in der Stunde Null einen Hang zur inneren Emigration, zum Phantasieleben in fernen Welten. Das Hortende, Vorsorgende und auf Sicherheit Bedachte bestimmt denn auch Familienplanung und Wahl der Ehefrau. Die schüchterne, ängstliche Mutter bewegt die revoltierenden Söhne, nach selbstbewußten Abenteurerinnen und sinnlichen Superweibern zu suchen. Die vom eigenbrötlerischen Vater geprägten Töchter ziehen weltläufige Partner vor, eine wird Psychoanalytikerin und agiert doch mit ihrem Mann die Konflikte ihrer Eltern aus.
Sylvias Tochter Miriam trägt den Auftrag zur Vergangenheitsbewältigung schon im Namen. Sie wird von ihr als "fett" bezeichnet, erstes Zeichen einer depressiven Überforderung, und interessiert sich für osteuropäische Städte, die einst Zentren jüdischen Lebens waren. Bennie verliebt sich gar in eine Gedächtnisforscherin und plant gemeinsam mit ihr eine Nordafrika-Reise. Das Zwanghafte der Kompensationen, die alle Kinder betreiben, spiegelt die existentielle Unfreiheit der väterlichen Biographie. "Es ist unglaublich, wie diese Tiere unter den härtesten Bedingungen überleben können!" lautet sein Lieblingssatz, wenn er in Gekkoführern blättert. Diese in den Lehnstuhl gebannte Angstlust bleibt von den Feuerstürmen und zerbombten Städten magisch angezogen.
Daß die Wüstenfaszination der Familie nichts anderes symbolisiert, wird vollends deutlich beim jüngsten und begabtesten Sohn. Als Kanalisierungsspezialist verdiente er gutes Geld in New Mexico und ließ es auf Bitten seiner treulosen Gefährtin an eine New-Age-Sekte überweisen. Dem desillusionierten Aussteiger gehört nichts mehr außer Sami, seinem kleinen Sohn, und einem Wohnwagen, von dem aus er Exkursionen zu den "Un-Orten" der Wüste unternimmt, Industrie- und Militäranlagen, Gefängnissen, Müllhalden und Land-Art-Projekten, aber auch zu einer Attrappe von "Little Boy", dem Hiroshima-Bomber, denn "das gesamte Flugtraining für den Atombombenabwurf" hatte hier stattgefunden.
Thomas sucht sich andere Ersatzobjekte, aber wie sein Vater wendet er den Blick nicht mehr von der Endzeitlandschaft ab. Sami wird von ihm mit Rum und Marihuana davor bewahrt, sich Gedanken um eine Zukunft zu machen. Auf die Frage, was er gern täte, sagt er: "Am liebsten noch mal in die Wüste fahren, Papa. Und da tun wir dann nichts." Nichtstun ist die Spezialität der Melancholie. Wie Adalbert Stifters armer Pfarrer in der Erzählung "Kalkstein" vergräbt Thomas sich buchstäblich im heißen Sand und läßt ihn als perfekte Vanitas-Allegorie "langsam durch die Finger rinnen".
Tanja Dückers zeichnet ein rabenschwarzes Bild von dem Versuch nachwachsender Generationen, der psychischen Narbe des Zweiten Weltkriegs zu entkommen. Unter ihren Ausbruchsanstrengungen verbirgt sich biedermeierliche Lebensangst. Was dem neunzehnten Jahrhundert die von allen Seiten auf die Idylle zuwachsende Industrialisierung war, sind heute eine traurige Vergangenheit, eine wirtschaftlich stagnierende Gegenwart und eine unsichere Zukunft.
Die Postmoderne weckt in deutschen Gemütern Wüstentierinstinkte: Untertauchen, von der Hand in den Mund leben, Chamäleon sein heißt die Devise. Der Geborgenheit, die der Vater noch in Heimatvereinen suchte, spüren die Kinder in Sekten, Männer- und Frauengruppen nach. Nichts macht sie so mißtrauisch wie das einfache Glück. Als Sylvias hedonistischer Gatte ihr Frühstückswünsche ins Ohr raunt, bleibt sie taub: "Verführerisch sollte diese Aufzählung klingen, dabei wußte sie doch, daß Zauberformeln ganz anders klangen, daß sie vom Fieber, vom Schüttelfrost, vom Überlebenskampf und von der Gefahr des Todes handeln mußten, sonst waren sie wirkungslos." Offenbar muß jemand sterben, um diese Phantomfamilie zum Leben zu erwecken. Für Rührei und Avocados mit Krabben und Zitronen-Senfsoße stehen sie nicht auf.
INGEBORG HARMS
Tanja Dückers: "Der längste Tag des Jahres". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2006. 213 S., geb., 18,90 [Euro].
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