Nachdem die Herrschaft Mussolinis in Italien zusammengebrochen war, besetzten deutsche Truppen im September 1943 die Hauptstadt Rom. Für die römischen Juden begann nun ein schrecklicher, bis zur Befreiung im Juni 1944 dauernder 'langer Winter', während dessen die Besatzer die Politik der 'Endlösung' auch in Rom durchzusetzen versuchten. Zwischen zwei- und dreitausend römische Juden, die in dieser Zeit verhaftet wurden, fielen der Vernichtungspolitik der Nazis zum Opfer. Die Besatzer stießen aber auch auf Widerstand. Mehr als 10.000 römische Juden überlebten - vor allem dank der Hilfe couragierter römischer Bürger und Kirchenleute. Mehr als viertausend Juden fanden Schutz in Klöstern, Pfarreien und Liegenschaften des Vatikanstaats. Riccardi erzählt die Geschichte der kurialen Politik unter der Besatzung, vor allem aber die bewegende Geschichte der verfolgten Juden, ihrer kirchlichen Helfer und einer heute fast vergessenen, mutigen Rettungsaktion.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2018Der Römer und die Römer
Der Papst und die verfolgten Juden während der Besatzung durch deutsche Truppen
Ist die Geschichte, die hier erzählt wird, wirklich "vergessen", wie der Titel der deutschen Ausgabe behauptet? Bewegt sich das Buch "Pius XII., die Juden und die Nazis in Rom" (so der italienische Untertitel, wenn man ihn wörtlich ins Deutsche überträgt) nicht im Gegenteil auf einem sattsam erforschten Terrain, spätestens, seit 1963 ausgerechnet ein deutscher Autor das italienische Oberhaupt der katholischen Kirche beschuldigte, zur Ausrottung der europäischen Juden durch das Deutsche Reich geschwiegen zu haben, inklusive der suggestiven Umkehrthese, ein Wort des Papstes hätte den Holocaust beenden können? Seither hält die internationale Debatte um die Politik Pius' XII. gegenüber dem NS-Regime und um die Stichhaltigkeit der Anklage seines Schweigens an und produziert gleichermaßen apologetische wie papstkritische Literatur. Vergessen ist dieses dramatische Kapitel also wahrlich nicht, und dennoch gelingt es dem vorliegenden Buch, neue Facetten zu dem bereits intensiv bearbeiteten Thema beizusteuern. Es handelt sich bei der jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen Untersuchung um ein im Jahr 2008 veröffentlichtes Werk des Historikers Andrea Riccardi. Riccardi ist ein prominenter, hochdekorierter Vertreter der demokratisch-progressiven katholischen Richtung in Italien; er ist Wissenschaftler, Publizist und Politiker, der 1968, mit gerade einmal 18 Jahren, im römischen Stadtviertel Trastevere die Comunità di Sant'Egidio gründete, die er zu einem Motor weltweit agierender Caritas und internationaler Verständigung machte.
In seiner Studie gibt es zwei große Erzählachsen: Die eine rekonstruiert die Entscheidungen des Papstes und der vatikanischen Führungsriege gegenüber "den Deutschen", die Rom zwischen dem 8. September 1943 und dem 5. Juni 1944 besetzt hielten; die andere blickt, vornehmlich auf der Grundlage von Zeitzeugenberichten, auf eine Fülle von Einzelschicksalen jüdischer Italiener, die versuchten, in der Ewigen Stadt dem Zugriff der deutschen Besatzer und deren italienisch-faschistischer Bündnispartner zu entkommen und der Deportation zu entgehen; dabei wurde ihnen häufig von "ganz normalen Leuten", auch Kirchenleuten, Hilfe zuteil.
Riccardi widmet diesem Aspekt breiten Raum, um zu zeigen, dass es in Rom tatsächlich überwiegend die "einfachen Leute" waren, die wie selbstverständlich einen Großteil der lebensgefährlichen Unterstützung der Verfolgten geschultert haben. Das Scharnier, das die beiden Erzählstränge zusammenhält, ist die Frage nach dem expliziten Willen des Papstes, die kirchlichen Institutionen in die Hilfsaktionen für Juden und andere Gejagte einzubeziehen. Zum geflügelten Wort wurde nach dem Krieg die Behauptung, die eine Hälfte der Römer habe damals die andere Hälfte versteckt. Geschah dies auf Pius' XII. ausdrücklichen Wunsch? Der Autor zitiert zahlreiche Äußerungen des Papstes und seiner Entourage, die in diese Richtung weisen. Interessanter noch als die Dokumentation expliziter päpstlicher Mahnungen, Juden zu helfen und sie vor Verfolgung zu schützen, ist jedoch Riccardis quellenmäßig gut belegter Befund, dass viele Römer - Laien wie Kirchenpersonal - de facto in der Überzeugung handelten, der Papst wünsche ihr Engagement zum Schutz Verfolgter.
Sie wurden aktiv in dem sicheren Gefühl, ihr Verhalten sei religiös und moralisch geboten. Mit der Betonung dieser Motivlage in der römischen Bevölkerung relativiert die Studie zugleich eine populäre Deutung, die besagt, der überwiegende Teil der Italiener habe sich seinerzeit in einer Grauzone eingerichtet, ohne Parteinahme im Weltkonflikt, abwartend, passiv. Riccardi erzählt die Geschichte anders. Unter Lebensgefahr jüdische Mitbürger zu verstecken, so sieht er es, war ein Akt des Widerstands, den er im speziellen Fall der Römer als einen politisch nicht weiter ausbuchstabierten, wohl aber tiefsitzenden Widerwillen gegen Krieg und Gewalt interpretiert; Gewalt seitens der bewaffneten Resistenza übrigens eingeschlossen.
So handelt sein Buch von den 268 Tagen Besatzung durch die Deutschen, die sich mal diplomatisch-verhandlungsbereit gaben (wie der als "janusköpfig" beschriebene Ernst von Weizsäcker), mal voll Verachtung und ohne Erbarmen auftraten (wie der Kommandant der Stadt, Kurt Mälzer). Es handelt von einem Papst, der sich damals mehr denn je als Römer verstand und mit seiner leidgeprüften Stadt identifizierte, der aber auch überzeugt war, im großen Räderwerk der Mächte nur eine Randerscheinung zu sein - eine Selbsteinschätzung, der Riccardi in der historischen Analyse beipflichtet.
Sein Buch erzählt von der unglaublich vitalen Präsenz des Religiösen im sozialen Leben Roms, von unzähligen kirchlichen Einrichtungen mit zum Teil ebenso exotisch anmutenden wie rührenden Namen: Man begegnet den Schwestern von Maria Bambina, den Frommen Filippini-Lehrerinnen, den Anbetungsschwestern vom Blut Christi, den Dorotheenschwestern, den Töchtern Mariens von der Vorsehung, und allein dieser kleine Ausschnitt aus dem Kaleidoskop kirchlicher Institute illustriert den außerordentlichen Anteil der Frauen in dem, was Riccardi das "Kontaktnetzwerk im Untergrund" nennt. Es diente dem Verstecken und Versorgen, nicht nur Verfolgter. Allein im Mai 1944 gaben die vatikanischen Armenküchen 1 850 000 Teller Suppe aus.
Der Autor entfaltet eine historische Topographie Roms, in der sich die Gassen und Plätze von Denunziation, Razzien, Folter, Inhaftierung und Verschleppung ebenso finden wie die Orte der kleinen, alltäglichen Gesten der Mitmenschlichkeit. In seiner Darstellung wird deutlich, dass sich die damalige katholische Kirche erheblich von ihrem Erscheinungsbild nach dem Krieg unterschied; ihrem Selbstverständnis nach war sie hieratisch und hierarchisch, und ihr seit 1929 bestehender Miniaturstaat bildete in einem Europa, das zu großen Teilen vom Deutschen Reich besetzt war, einen bizarren Sonderfall, dessen Immunität von den Besatzern trotz vieler Drohgebärden respektiert wurde. Riccardi definiert den Vatikan als eine "neutrale, nur vom Prestige des Papstes beschützte Insel", zwar tief verwurzelt in der römischen Gesellschaft, aber gemäß der eigenen Wahrnehmung international schwach und isoliert, was Pius XII. durch Rekurs auf traditionelle diplomatische Verhandlungstechniken zu kompensieren versuchte. Innovativ ist die vorliegende Studie weniger mit ihrer Rekonstruktion solcher Balanceakte des Heiligen Stuhls als in der Darstellung der Pluralität des religiösen Lebens im konkreten Alltag der jüdischen und nichtjüdischen Römer unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs.
CHRISTIANE LIERMANN
Andrea Riccardi: Der längste Winter. Die vergessene Geschichte der Juden im besetzten Rom 1943/44.
wbg Theiss, Darmstadt 2017. 462 S., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Papst und die verfolgten Juden während der Besatzung durch deutsche Truppen
Ist die Geschichte, die hier erzählt wird, wirklich "vergessen", wie der Titel der deutschen Ausgabe behauptet? Bewegt sich das Buch "Pius XII., die Juden und die Nazis in Rom" (so der italienische Untertitel, wenn man ihn wörtlich ins Deutsche überträgt) nicht im Gegenteil auf einem sattsam erforschten Terrain, spätestens, seit 1963 ausgerechnet ein deutscher Autor das italienische Oberhaupt der katholischen Kirche beschuldigte, zur Ausrottung der europäischen Juden durch das Deutsche Reich geschwiegen zu haben, inklusive der suggestiven Umkehrthese, ein Wort des Papstes hätte den Holocaust beenden können? Seither hält die internationale Debatte um die Politik Pius' XII. gegenüber dem NS-Regime und um die Stichhaltigkeit der Anklage seines Schweigens an und produziert gleichermaßen apologetische wie papstkritische Literatur. Vergessen ist dieses dramatische Kapitel also wahrlich nicht, und dennoch gelingt es dem vorliegenden Buch, neue Facetten zu dem bereits intensiv bearbeiteten Thema beizusteuern. Es handelt sich bei der jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen Untersuchung um ein im Jahr 2008 veröffentlichtes Werk des Historikers Andrea Riccardi. Riccardi ist ein prominenter, hochdekorierter Vertreter der demokratisch-progressiven katholischen Richtung in Italien; er ist Wissenschaftler, Publizist und Politiker, der 1968, mit gerade einmal 18 Jahren, im römischen Stadtviertel Trastevere die Comunità di Sant'Egidio gründete, die er zu einem Motor weltweit agierender Caritas und internationaler Verständigung machte.
In seiner Studie gibt es zwei große Erzählachsen: Die eine rekonstruiert die Entscheidungen des Papstes und der vatikanischen Führungsriege gegenüber "den Deutschen", die Rom zwischen dem 8. September 1943 und dem 5. Juni 1944 besetzt hielten; die andere blickt, vornehmlich auf der Grundlage von Zeitzeugenberichten, auf eine Fülle von Einzelschicksalen jüdischer Italiener, die versuchten, in der Ewigen Stadt dem Zugriff der deutschen Besatzer und deren italienisch-faschistischer Bündnispartner zu entkommen und der Deportation zu entgehen; dabei wurde ihnen häufig von "ganz normalen Leuten", auch Kirchenleuten, Hilfe zuteil.
Riccardi widmet diesem Aspekt breiten Raum, um zu zeigen, dass es in Rom tatsächlich überwiegend die "einfachen Leute" waren, die wie selbstverständlich einen Großteil der lebensgefährlichen Unterstützung der Verfolgten geschultert haben. Das Scharnier, das die beiden Erzählstränge zusammenhält, ist die Frage nach dem expliziten Willen des Papstes, die kirchlichen Institutionen in die Hilfsaktionen für Juden und andere Gejagte einzubeziehen. Zum geflügelten Wort wurde nach dem Krieg die Behauptung, die eine Hälfte der Römer habe damals die andere Hälfte versteckt. Geschah dies auf Pius' XII. ausdrücklichen Wunsch? Der Autor zitiert zahlreiche Äußerungen des Papstes und seiner Entourage, die in diese Richtung weisen. Interessanter noch als die Dokumentation expliziter päpstlicher Mahnungen, Juden zu helfen und sie vor Verfolgung zu schützen, ist jedoch Riccardis quellenmäßig gut belegter Befund, dass viele Römer - Laien wie Kirchenpersonal - de facto in der Überzeugung handelten, der Papst wünsche ihr Engagement zum Schutz Verfolgter.
Sie wurden aktiv in dem sicheren Gefühl, ihr Verhalten sei religiös und moralisch geboten. Mit der Betonung dieser Motivlage in der römischen Bevölkerung relativiert die Studie zugleich eine populäre Deutung, die besagt, der überwiegende Teil der Italiener habe sich seinerzeit in einer Grauzone eingerichtet, ohne Parteinahme im Weltkonflikt, abwartend, passiv. Riccardi erzählt die Geschichte anders. Unter Lebensgefahr jüdische Mitbürger zu verstecken, so sieht er es, war ein Akt des Widerstands, den er im speziellen Fall der Römer als einen politisch nicht weiter ausbuchstabierten, wohl aber tiefsitzenden Widerwillen gegen Krieg und Gewalt interpretiert; Gewalt seitens der bewaffneten Resistenza übrigens eingeschlossen.
So handelt sein Buch von den 268 Tagen Besatzung durch die Deutschen, die sich mal diplomatisch-verhandlungsbereit gaben (wie der als "janusköpfig" beschriebene Ernst von Weizsäcker), mal voll Verachtung und ohne Erbarmen auftraten (wie der Kommandant der Stadt, Kurt Mälzer). Es handelt von einem Papst, der sich damals mehr denn je als Römer verstand und mit seiner leidgeprüften Stadt identifizierte, der aber auch überzeugt war, im großen Räderwerk der Mächte nur eine Randerscheinung zu sein - eine Selbsteinschätzung, der Riccardi in der historischen Analyse beipflichtet.
Sein Buch erzählt von der unglaublich vitalen Präsenz des Religiösen im sozialen Leben Roms, von unzähligen kirchlichen Einrichtungen mit zum Teil ebenso exotisch anmutenden wie rührenden Namen: Man begegnet den Schwestern von Maria Bambina, den Frommen Filippini-Lehrerinnen, den Anbetungsschwestern vom Blut Christi, den Dorotheenschwestern, den Töchtern Mariens von der Vorsehung, und allein dieser kleine Ausschnitt aus dem Kaleidoskop kirchlicher Institute illustriert den außerordentlichen Anteil der Frauen in dem, was Riccardi das "Kontaktnetzwerk im Untergrund" nennt. Es diente dem Verstecken und Versorgen, nicht nur Verfolgter. Allein im Mai 1944 gaben die vatikanischen Armenküchen 1 850 000 Teller Suppe aus.
Der Autor entfaltet eine historische Topographie Roms, in der sich die Gassen und Plätze von Denunziation, Razzien, Folter, Inhaftierung und Verschleppung ebenso finden wie die Orte der kleinen, alltäglichen Gesten der Mitmenschlichkeit. In seiner Darstellung wird deutlich, dass sich die damalige katholische Kirche erheblich von ihrem Erscheinungsbild nach dem Krieg unterschied; ihrem Selbstverständnis nach war sie hieratisch und hierarchisch, und ihr seit 1929 bestehender Miniaturstaat bildete in einem Europa, das zu großen Teilen vom Deutschen Reich besetzt war, einen bizarren Sonderfall, dessen Immunität von den Besatzern trotz vieler Drohgebärden respektiert wurde. Riccardi definiert den Vatikan als eine "neutrale, nur vom Prestige des Papstes beschützte Insel", zwar tief verwurzelt in der römischen Gesellschaft, aber gemäß der eigenen Wahrnehmung international schwach und isoliert, was Pius XII. durch Rekurs auf traditionelle diplomatische Verhandlungstechniken zu kompensieren versuchte. Innovativ ist die vorliegende Studie weniger mit ihrer Rekonstruktion solcher Balanceakte des Heiligen Stuhls als in der Darstellung der Pluralität des religiösen Lebens im konkreten Alltag der jüdischen und nichtjüdischen Römer unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs.
CHRISTIANE LIERMANN
Andrea Riccardi: Der längste Winter. Die vergessene Geschichte der Juden im besetzten Rom 1943/44.
wbg Theiss, Darmstadt 2017. 462 S., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Es kommt vor, dass ein Journalist es unternimmt, sich zum Historiker zu wandeln, manchmal auch mit Erfolg; sehr viel weniger häufig geschieht es, dass ein namhafter Historiker sich entschließt, ein historisches Ereignis im Stil und mit dem Duktus des Journalisten zu erzählen.« La Stampa »Der Autor entfaltet eine historische Topographie Roms, in der sich die Gassen und Plätze von Denunziation, Razzien, Folter, Inhaftierung und Verschleppung ebenso finden wie die Orte der kleinen, alltäglichen Gesten der Mitmenschlichkeit.« Frankfurter Allgemeine Zeitung