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Produktdetails
  • Beck'sche Reihe
  • Verlag: Beck
  • Gewicht: 167g
  • ISBN-13: 9783406392108
  • Artikelnr.: 05770265
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1995

Später Fall aus allen Wolken
Aufgeklärter Selbstbetrug: Walter Grasskamp zürnt der Kulturindustrie / Von Thomas Wagner

Die "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer und Adorno im Gepäck, als Proviant eine Ration historische Bildung, Lust am trefflichen Formulieren sowie einige instinktive Tricks, so macht sich der Kulturkritiker auf den Weg. Vor ihm liegt eine schwierige Strecke. Anspielungsreich, aber nicht eben originell, nennt Walter Grasskamp seine Reise: "Der lange Marsch durch die Illusionen". Der Pfad führt den Autor nach eigenem Bekunden zurück. Der Rückblick soll freilich unsentimental ausfallen, "weder um eine Chronologie" der Jahre der Studentenbewegung noch "um eine Topographie der Frontverläufe" soll es gehen, sondern "vielmehr um die kulturelle Identität der Revolte und ihre Folgen in der Kunst". Was Grasskamp beschäftigt, ist die ästhetische wie politische Fusion von Popkultur und Protest und die Rolle, die die Kulturindustrie bei der Entstehung des Protests gespielt hat.

Seine Kompetenz in Sachen Kulturindustrie erweist der Autor, Jahrgang 1950, zunächst eher unfreiwillig, indem er virtuos die Handhabung und das eigene Eingebundensein in die akademischen Verwertungsmechanismen dokumentiert: vier der zehn in diesem Band vereinten Essays wurden, zum Teil schon vor Jahren, in Katalogen und Sammelbänden veröffentlicht. Das Neue ist eben nicht immer ganz neu, und so mancher Solostimme wird nun die computergenerierte Orchesterfassung nachgeliefert.

Grasskamps hinzugefügte These, gleichsam das am Automaten des allgemeinen Begriffsverbunds gelöste Rückfahrticket in die Zeit der Revolte, erweist sich als eher durchschnittlich. Der Kritiker reist zweiter Klasse. Der institutionelle Wirkungsverzicht, wie er sich in der utopischen und außerparlamentarischen Orientierung des Protests artikulierte, konnte, so Grasskamp, nur durch Resonanz ausgeglichen werden. In die Lücke sprangen die Medien, die, indem sie darüber berichteten, die Inszenierungsformen der Politik veränderten. Sie statteten die Vertreter und Ereignisse der Revolte mit Prominenz aus und ermöglichten "ihr spezifisches Charisma".

Was dialektisch einander bedingte, der Verbund von Protest und Integration, von Widerstand und Verwertung, von Aufschrei und Konsum - für Grasskamp scheint diese historische Schaukelpartie von Beginn an eher ein starres Kausalverhältnis gewesen zu sein. Er fragt nicht nach dem Scheitern, nicht nach den Motiven des Protests, nicht nach den Brüchen und Wendungen, sondert nicht Strategie von Naivität, sondern konstatiert kalt den Triumph der Kulturindustrie, in der er letzten Endes den Motor gesellschaftlicher Veränderung erkennt.

Aber war es wirklich nur diese nirgends faßbare Macht, die Easy Riders Chopper ebenso angetrieben hat wie den Plattenspieler, auf dem die kleinbürgerlichen Revoluzzer "Revolution" von den Beatles hörten und auch noch verklärt mitsangen? War die Studentenbewegung im Kern wirklich nur "eine Fortsetzung der Beatles mit anderen Mitteln"? Hat nicht der "Befreiungsimpuls der Revolte", sondern der "Modernisierungsdruck der Kulturindustrie" mittels E-Gitarre und Verstärker, mittels greller Pop-art-Ästhetik und Internationalisierung, den Muff aus den Anzügen der bürgerlichen Kultur geblasen?

Oder darf man Sätze, wie die über Beuys, nicht auch als Selbstbeschreibung des Autors lesen: "Es hatte nachgerade etwas prätentiös Akademisches, wie er mit Begriffen hantierte, die in den zuständigen Wissenschaften als die schwierigsten gelten, weil man dort ihre lange und komplizierte Begriffsgeschichte nicht ignorieren mag." Jedenfalls wird nicht versucht, deutlich zu machen, was denn nun genau unter Kulturrevolution, Kulturindustrie, was unter Revolte und Medienmacht zu verstehen sei. Statt an Begriffe hält sich Grasskamp an Eindrücke und Sentiment.

Was in kritischer Absicht angesprochen wird, das bekommt, trotz flotter Sprüche, einen falschen Beigeschmack. Ob das Rebellentum in Film und Rockmusik, ob Amerikanisierung oder sexuelle Revolution, ob postmoderner "Life-Style-Rassismus" oder die Vermarktung des Underground, auf dem Weg zu einer Kritik der Ästhetik der Provokation fertigt Grasskamp alles mit dem Hinweis ab, die Kulturindustrie habe es flugs in konsumierbare Ware verwandelt. Eine Kritik der Kulturindustrie aber bleibt er schuldig.

"Es macht", so schreibt er, "den Mythos der Provokation bis heute aus, daß jedes neue Versprechen von Subversion und Dissidenz begeistert geglaubt und propagiert wird, obwohl man das Spiel längst kennen könnte. Die Attitüde der unkorrumpierbaren Provokation deckt sich so perfekt mit den Mythen der ihr angeblich feindlich gesinnten Kulturindustrie, wie sich auch Avantgarde und Museum auf Anhieb weitaus besser verstanden haben, als beide Seiten voneinander behaupteten." So streichelt Grasskamp noch einmal den Hund mit Namen Provokation, den längst keiner mehr hinterm Ofen vorlocken mag. Die Künstler, über die er schreibt, gehören - mit Ausnahme des Prominenz-Akrobaten Jeff Koons - nicht der jüngeren Generation an, deren Thema Provokation schon lange nicht mehr ist; und das Verhältnis von Avantgarde und Museum steht auf einem anderen Blatt als das von Provokation und Kulturindustrie. Auch wenn es zutreffen mag, daß die Jugend ihr Selbstbild heute auf dem Markt findet, so entspricht dieses gleichwohl nicht den klischeehaften Erwartungen einer vom Protest enttäuschten Generation. Es sagt vielmehr etwas über die Protest-Generation selbst aus, wenn sich diese ein aktuelles Selbstbild der Jugend nur als Vermarktung ihrer eigenen gescheiterten Hoffnungen vorstellen kann. Vielleicht hat die Jugend ja inzwischen gemerkt, wie leicht Provokation vom Markt vereinnahmt wird, und schert sich deshalb nicht länger darum.

An kulturkritischen Zutaten mangelt es Grasskamp jedenfalls nicht; allein die Rezeptur erweist sich als untauglich. Sein eigentliches Thema aber, und dafür hätte es der "tour d'horizon" durch die Protestkultur nicht bedurft, ist das der Prominenz. Deren historische Wandlungen und absurde Maskeraden analysiert er brillant in Essays über Markus Lüpertz und Jörg Immendorff. In Lüpertz, der als Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie die Rolle seines Lebens gefunden hat, entdeckt er den Kunsthelden, der seine selbstbewußte Virilität "zwischen Jogging und Smoking hervorkehrt" und der einen politischen Maler mimt, der nur eine Kopfgeburt ist, "an die er selber vielleicht am wenigsten glaubt". Immendorff aber verfolgt er anhand seines Rechenschaftsberichts "Hier und Jetzt: Das tun, was zu tun ist" auf all den Schleichwegen des bürgerlichen Individuums: ". . . keine Tarnung täuscht ihn, und er scheut keinen Trennungsschmerz, um an sein Ziel zu kommen, den inneren ästhetischen Schweinehund endlich zu erlegen". An Immendorff wird die Unfähigkeit zu einer individuellen Lebensform, die Selbsthaß erzeugt und nach Erlösung im kollektiven Gesetz sucht, auch als Wesensmerkmal der Studentenbewegung greifbar. So zeigt sich: Nur wo Grasskamp nicht in den ideologischen Nischen Staub wischen will, in denen er selbst sitzt, treffen seine Analysen.

Hätte der Autor die Motive, Anleihen und thematischen Importe aus der Protestbewegung in den einzelnen, von ihm herausgezogenen Werken von Beuys, Lüpertz, Metzel, Richter, Immendorff, Haacke, des Aachener Wandmalers und Koons' aufgespürt und, wo nötig, deren Quellen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede kenntlich gemacht, man hätte den Ergebnissen mit Spannung entgegengefiebert. So aber türmt der Autor in den beiden einleitenden Essays - "Die große Maskerade" und "Der mürrische Kompromiß" - Begriffe wie Sahneschichten und Marzipanrosen auf. Die Werkanalysen bleiben dann nur nachgetragenes Gebäck, auch wenn dieselben Ingredienzen - Revolte, Medien und Kulturindustrie - spurenweise darin vorkommen. Was als Analyse der bunten Euphorie der Protestgeneration und deren Irrtümer beginnt, erweist sich schließlich als eine kurzsichtige Kritik der Prominenz als dem konsumkonformen Ergebnis einer Ästhetik der Provokation.

Nicht dieses Ergebnis aber ist unzutreffend, sondern vielmehr Grasskamps Weg dorthin. Er scheitert schlicht daran, daß er voraussetzt, was er beweisen möchte. Sein Blick zurück will nicht entdecken und aus der Distanz analysieren; er weiß bereits alles besser. Das tötet die Neugier.

Walter Grasskamp: "Der lange Marsch durch die Illusionen". Über Kunst und Politik. Verlag C. H. Beck, München 1995. 183 S., br., 22,- DM.

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