Einer der renommiertesten deutschen Zeithistoriker schreibt über Geschichte und Nachgeschichte des NS-Regimes.Die langjährigen Erfahrungen des Autors im Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus bilden die Grundlage dieses Bandes. Reinhard Rürup stellt die historischen Ereignisse und Prozesse, die für ein angemessenes Verständnis des NS-Regimes besonderes Gewicht haben, ebenso präzise wie anschaulich dar: von der »Machtergreifung« und der »Bücherverbrennung« bis zur Verfolgung und Ermordung der Juden und dem Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Ebenso widmet sich Rürup der in den letzten Jahren immer stärker diskutierten Frage nach dem Umgang der Deutschen mit der Geschichte von 1945 bis in die unmittelbare Gegenwart. Dabei geht es nicht zuletzt um die Kontroversen über die »Wehrmachtsausstellung«, die »Goldhagen-Debatte« oder den 8. Mai 1945 als »Tag der Befreiung«.Der einleitende Essay zur europäischen Diktaturgeschichte im 20. Jahrhundert und eine abschließende vergleichende Studie über den Zweiten Weltkrieg und den Mord an den Juden in der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur erweitern den Blick auf die deutsche Geschichte auf eine internationale Perspektive.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Sehr freundlich bespricht der Historiker Norbert Frei diesen Band seines nunmehr achtzigjährigen Kollegen Reinhard Rürup, der in einem ersten Teil die wichtigsten Geschehnisse der aus nationalsozialistischer Zeit aufbereitet und in einem zweiten die großen geschichtspolitischen Debatten seit den siebziger Jahren aufgreift. So spiegeln sich die einzelnen Themen immer auch mit dem Erinnerten beziehungsweise Gedeuteten. Frei schätzt Rürup als engagierten Historiker, dem das Land vor allem das Zentrum für Antisemitismusforschung und die Topografie des Terrors zu verdanken hat, und diese Essays als klarsichtig und präzise.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.01.2015Erschütterung und Engagement
Reinhard Rürups vorzügliche Essays über den Nationalsozialismus und seine Nachgeschichte
Die zeitgeschichtliche Gedenk- und Institutionenlandschaft, die seit den Achtzigerjahren in Berlin entstanden und nach dem Fall der Mauer zu einem auch touristisch bedeutungsvollen Anziehungspunkt geworden ist, verdankt sich in erster Linie engagierten Bürgern.
Viele von ihnen waren um 1968 als irgendwie linke Studenten in die geteilte Stadt gekommen. Reinhard Rürup, 1934 im Ostwestfälischen geboren, als „Pimpf“ in der Hitler-Jugend sozialisiert und der NS-Eliteerziehung in einer „Napola“ nur dank des nahenden Kriegsendes entgangen, lebte bereits seit 1964 in Westberlin; 1975 wurde er Professor für Neuere Geschichte an der Technischen Universität – und bald zum Mentor dieser Geschichtsbewegung „von unten“.
Vor allem zwei Einrichtungen, das Zentrum für Antisemitismusforschung und die „Topographie des Terrors“, wären ohne Rürups Engagement wohl nicht entstanden. Animiert von deren heutigen Direktoren, Stefanie Schüler-Springorum und Andreas Nachama, hat Rürup sich und seinen Anhängern aus Anlass seines achtzigsten Geburtstags im Mai dieses Jahres ein ausgesprochen instruktives Geschenk gemacht: Einen Band mit großenteils unveröffentlichten Essays aus zwei Jahrzehnten, in denen er die geschichtspolitischen Entwicklungen in Westberlin seit den Siebzigerjahren nicht nur akribisch nachzeichnet, sondern vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Veränderungen im Umgang mit der NS-Vergangenheit erklärt.
Nicht weniger spannend als diese Perspektive, in der ein zentraler Akteur auf die lange „Nachgeschichte“ des Nationalsozialismus blickt, ist freilich der erste Teil des Buches. Dort gibt Rürup, der als Historiker vor allem der deutsch-jüdischen Geschichte im 19. Jahrhundert begonnen hatte und im Grunde erst über seinen Berliner Aufgaben zum Zeithistoriker wurde, einen konzentrierten Überblick über die Geschichte des Dritten Reiches.
Der Clou dieser bibliografisch präzise aktualisierten Texte ist es, dass ihre Gegenstände stets zugleich den erinnerungsgeschichtlichen Debattenverlauf seit den Neunzigerjahren spiegeln. In diesem Sinne geht es also um den Zusammenhang von „Machtergreifung“ und „Volksgemeinschaft“ 1933/34, um die sozialpsychische Bedeutung der Olympischen Spiele 1936, um das Verhalten von „Radikalantisemiten“ und „gewöhnlichen Deutschen“ in der „Reichskristallnacht“ 1938, um den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion seit 1941 oder um die Selbstgleichschaltung der deutschen Wissenschaftselite. Und es geht um die in ihrer Bedeutung erst wieder zum 50. Jahrestag 1983 öffentlich hervorgehobene, nicht von der Regimespitze, sondern vom universitären Nachwuchs – genauer gesagt: von der Deutschen Studentenschaft – organisierte „Aktion wider den undeutschen Geist“ vom 10. Mai 1933. Mit welchem Entsetzen die westliche Welt auf diese Bücherverbrennung reagierte, zeigten die Berichte im US-Nachrichtenmagazin Newsweek , wo von einem „Holocaust of the books“ die Rede war, und im Time Magazine , das zwei Tage später den Begriff „Bibliocaust“ erfand.
Doch Reinhard Rürup ist nicht nur ein Meister der treffenden Details, sondern auch der präzisen Deutlichkeit. Ein Beispiel dafür ist das Urteil des Historikers der Judenemanzipation über die Novemberpogrome 1938. Diese, schreibt er, könnten nur dem als Drehpunkt in der Geschichte der nationalsozialistischen Judenpolitik erscheinen, der zu wenig auf die seit den ersten Tagen des Regimes errichtete „Trennwand“ zwischen Deutschem und Jüdischem achte: „Das Ende der Emanzipation trat deshalb bereits 1933 und nicht erst 1938 ein.“
NORBERT FREI
Reinhard Rürup: Der lange Schatten des Nationalsozialismus. Geschichte, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Wallstein Verlag, 2014. 248 Seiten, 24,90 Euro.
Norbert Frei lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Reinhard Rürups vorzügliche Essays über den Nationalsozialismus und seine Nachgeschichte
Die zeitgeschichtliche Gedenk- und Institutionenlandschaft, die seit den Achtzigerjahren in Berlin entstanden und nach dem Fall der Mauer zu einem auch touristisch bedeutungsvollen Anziehungspunkt geworden ist, verdankt sich in erster Linie engagierten Bürgern.
Viele von ihnen waren um 1968 als irgendwie linke Studenten in die geteilte Stadt gekommen. Reinhard Rürup, 1934 im Ostwestfälischen geboren, als „Pimpf“ in der Hitler-Jugend sozialisiert und der NS-Eliteerziehung in einer „Napola“ nur dank des nahenden Kriegsendes entgangen, lebte bereits seit 1964 in Westberlin; 1975 wurde er Professor für Neuere Geschichte an der Technischen Universität – und bald zum Mentor dieser Geschichtsbewegung „von unten“.
Vor allem zwei Einrichtungen, das Zentrum für Antisemitismusforschung und die „Topographie des Terrors“, wären ohne Rürups Engagement wohl nicht entstanden. Animiert von deren heutigen Direktoren, Stefanie Schüler-Springorum und Andreas Nachama, hat Rürup sich und seinen Anhängern aus Anlass seines achtzigsten Geburtstags im Mai dieses Jahres ein ausgesprochen instruktives Geschenk gemacht: Einen Band mit großenteils unveröffentlichten Essays aus zwei Jahrzehnten, in denen er die geschichtspolitischen Entwicklungen in Westberlin seit den Siebzigerjahren nicht nur akribisch nachzeichnet, sondern vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Veränderungen im Umgang mit der NS-Vergangenheit erklärt.
Nicht weniger spannend als diese Perspektive, in der ein zentraler Akteur auf die lange „Nachgeschichte“ des Nationalsozialismus blickt, ist freilich der erste Teil des Buches. Dort gibt Rürup, der als Historiker vor allem der deutsch-jüdischen Geschichte im 19. Jahrhundert begonnen hatte und im Grunde erst über seinen Berliner Aufgaben zum Zeithistoriker wurde, einen konzentrierten Überblick über die Geschichte des Dritten Reiches.
Der Clou dieser bibliografisch präzise aktualisierten Texte ist es, dass ihre Gegenstände stets zugleich den erinnerungsgeschichtlichen Debattenverlauf seit den Neunzigerjahren spiegeln. In diesem Sinne geht es also um den Zusammenhang von „Machtergreifung“ und „Volksgemeinschaft“ 1933/34, um die sozialpsychische Bedeutung der Olympischen Spiele 1936, um das Verhalten von „Radikalantisemiten“ und „gewöhnlichen Deutschen“ in der „Reichskristallnacht“ 1938, um den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion seit 1941 oder um die Selbstgleichschaltung der deutschen Wissenschaftselite. Und es geht um die in ihrer Bedeutung erst wieder zum 50. Jahrestag 1983 öffentlich hervorgehobene, nicht von der Regimespitze, sondern vom universitären Nachwuchs – genauer gesagt: von der Deutschen Studentenschaft – organisierte „Aktion wider den undeutschen Geist“ vom 10. Mai 1933. Mit welchem Entsetzen die westliche Welt auf diese Bücherverbrennung reagierte, zeigten die Berichte im US-Nachrichtenmagazin Newsweek , wo von einem „Holocaust of the books“ die Rede war, und im Time Magazine , das zwei Tage später den Begriff „Bibliocaust“ erfand.
Doch Reinhard Rürup ist nicht nur ein Meister der treffenden Details, sondern auch der präzisen Deutlichkeit. Ein Beispiel dafür ist das Urteil des Historikers der Judenemanzipation über die Novemberpogrome 1938. Diese, schreibt er, könnten nur dem als Drehpunkt in der Geschichte der nationalsozialistischen Judenpolitik erscheinen, der zu wenig auf die seit den ersten Tagen des Regimes errichtete „Trennwand“ zwischen Deutschem und Jüdischem achte: „Das Ende der Emanzipation trat deshalb bereits 1933 und nicht erst 1938 ein.“
NORBERT FREI
Reinhard Rürup: Der lange Schatten des Nationalsozialismus. Geschichte, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Wallstein Verlag, 2014. 248 Seiten, 24,90 Euro.
Norbert Frei lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.
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»Reinhard Rürup ist nicht nur ein Meister der treffenden Details, sondern auch der präzisen Deutlichkeit.« (Norbert Frei, Süddeutsche Zeitung, 27.01.2015)