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Theorie ? von dem Wort ging seit den sechziger Jahren ein magisches Leuchten aus. Theorie war ein Glaubensartikel, eine Wahrheitsmaschine und ein Lebensstil. Doch woher kam die Faszination für die gefährlichen Gedanken? Philipp Felsch folgt in seinem grandios geschriebenen Buch den Hoffnungen und Irrwegen einer Generation, die sich in den Dschungel der schwierigen Texte begab. Für drei Jahrzehnte gehörte der Theorieband als Vademekum in jede Manteltasche. Es war die Zeit der apokalyptischen Meisterdenker, der glamourösen Unverständlichkeit und der umstürzenden Lektüreerlebnisse. In einer Welt,…mehr

Produktbeschreibung
Theorie ? von dem Wort ging seit den sechziger Jahren ein magisches Leuchten aus. Theorie war ein Glaubensartikel, eine Wahrheitsmaschine und ein Lebensstil. Doch woher kam die Faszination für die gefährlichen Gedanken? Philipp Felsch folgt in seinem grandios geschriebenen Buch den Hoffnungen und Irrwegen einer Generation, die sich in den Dschungel der schwierigen Texte begab. Für drei Jahrzehnte gehörte der Theorieband als Vademekum in jede Manteltasche. Es war die Zeit der apokalyptischen Meisterdenker, der glamourösen Unverständlichkeit und der umstürzenden Lektüreerlebnisse. In einer Welt, die im Kalten Krieg erstarrte, ging nur von großen Ideen Bewegung aus. Je schwieriger die Texte, desto intensiver die Lektüre, je abstrakter die Argumente, desto relevanter für die Wirklichkeit. Heute, wo die intellektuellen Energien von '68 in schwach glimmende Substanzen zerfallen sind und viele der einstigen Akteure ihre Memoiren geschrieben haben, ist es Zeit zurückzublicken: Was war Theorie? In West-Berlin versorgte der Merve Verlag die Leser von den Kadern der Studentenbewegung über Spontis und Punks bis zu den Avantgarden des Kunstbetriebs mit ihrer Ration von wildem Denken. Philipp Felsch schreibt die Geschichte einer geistigen Revolte, indem er den Abenteuern der Büchermacher und ihres Umfelds folgt. Vor allem aber vertraut er sich der Geschichte ihrer Leser an, um eine Epoche wiederauferstehen zu lassen, in der das Denken noch geholfen hat.
Autorenporträt
Philipp Felsch, Jahrgang 1972, ist Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2015

Theorie fürs Schwimmbad und für unterwegs

Im Zeichen der Raute: Philipp Felschs Geschichte des Merve-Verlags erzählt auch davon, wie die Mentalität des Denkens sich zwischen 1960 und 1990 veränderte

Die Erfolgsgeschichte des Genres "Theorie" in Deutschland verdankt sich einer geometrischen Verschiebung. 1966 beginnt Suhrkamp eine nur kurzlebige Buchreihe dieses Namens, deren Umschläge ein liniertes Rechteck in der oberen Hälfte prägt. Vier Jahre später erscheint der erste Band des West-Berliner Merve-Verlags, mit der berühmt gewordenen, bis heute verwendeten Raute auf dem Cover. Von der geraden zur ungeraden Linie, vom Rechteck zur Raute: Es scheint im Rückblick konsequent, dass das Aufblühen des Genres seit den siebziger Jahren mit diesem Wechsel verbunden ist. "Theorie", die unstete, illegitime Schwester der akademischen "Philosophie", findet ihr adäquates grafisches Symbol in der Schräge.

Philipp Felschs "Der lange Sommer der Theorie", in Leipzig für den Sachbuchpreis nominiert, ist vor allem eine Biographie des Merve-Verlags und seines vor kurzem gestorbenen Mitgründers Peter Gente, der mit seinen brüchigen, kleinformatigen Büchern Autoren wie Althusser, Foucault, Deleuze oder Lyotard in Deutschland bekannt gemacht hat. Das Buch kann als Komplementärwerk zu Ulrich Raulffs im vergangenen Herbst erschienenen Erinnerungen "Wiedersehen mit den Siebzigern" gelesen werden. Wo der frühe Foucault-Übersetzer die "wilden Jahre des Lesens" aus subjektiver Perspektive erzählte, schreibt der gut zwanzig Jahre jüngere Berliner Wissenschaftshistoriker Felsch aus archivgesättigter Distanz.

Peter Gente kommt um 1960 als Student nach West-Berlin und hat sein "intellektuelles Erweckungserlebnis" während eines Ferienjobs bei Siemens. Von einem Kommilitonen am Fließband hört er zum ersten Mal von Adornos Aufzeichnungsbuch "Minima Moralia", das er dann fünf Jahre lang unentwegt bei sich trägt wie frühere Lesergenerationen einen Gedichtband von Georg Trakl oder Stefan George. In den Jahren der Studentenbewegung fühlt sich Gente weder zum Aktivisten noch zum Autor berufen; er ist aber, wie Felsch schreibt, ein besessener Leser, der schon früh, Mitte der sechziger Jahre, zeitgenössische französische Theoretiker entdeckt und sie ins Deutsche übersetzt.

Für die Ausrichtung des Merve-Verlags, benannt nach dem Vornamen von Gentes damaliger Ehefrau, spielen die "Minima Moralia" dann eine entscheidende Rolle. Denn das Verständnis von "Theorie", das Gente von seinem Lehrer an der Freien Universität, Jacob Taubes, übernimmt, ist nicht in erster Linie an spezifische Erkenntnispositionen gebunden, sondern an Formate. Die Merve-Bücher sollen überall gelesen werden können, in der U-Bahn, auf Reisen, im Park oder Schwimmbad; sie sind "gegen die Seinsfrage, gegen das Curriculum und gegen das systematische Philosophieren" gerichtet, und das heißt zuallererst: Sie müssen aus kurzen Texten bestehen, aus Fragmenten, Aufsätzen, Gesprächen, Best-of-Versionen.

Adornos Schreibprogramm im "Essay als Form" von 1959 - "Er fängt nicht mit Adam und Eva an, sondern mit dem, worüber er reden will" - wird auch zum Credo des Merve-Verlags. Das Genre der "Theorie" ist also von Beginn an eher der Literatur verwandt als der Philosophie, und ihre bedeutendsten Autoren, von Blanchot bis Roland Barthes, haben sich mit ihrer Schreibweise immer an der Grenze zum Literarischen bewegt.

Philipp Felschs Chronologie legt ihren Fokus vor allem auf das Jahr 1977, das durch die Ereignisse von Mogadischu und Stammheim nicht nur eine politische Zäsur in Deutschland markierte, sondern auch eine der Ausrichtung von Theorie. Als der Merve-Verlag 1970 anfing, war theoretische Arbeit gleichbedeutend mit einer dialektisch geschulten Kritik der Verhältnisse, getreu jenem Diktum der Studentenbewegung, dass "Revolution" vor allem "Textarbeit" heiße. Im Lauf der siebziger Jahre (und spätestens im "Deutschen Herbst") bricht die Allianz von Politik und Theorie zusammen. Felsch nennt diesen Einschnitt, die Ablösung von marxistischen und der kritischen Theorie verpflichteten Positionen durch poststrukturalistische, ein "Überschreiten der intellektuellen Wasserscheide", und es ist vielleicht das größte Verdienst des Buchs, dieses Überschreiten noch einmal Fußspur für Fußspur nachzuzeichnen.

Ermattet von den großen Erzählungen des Klassenkampfs, voller Zweifel an der vermeintlich souveränen Position des Intellektuellen, der die Begriffe und gesellschaftlichen Widersprüche universal zu ordnen vermag, entfalten die unscheinbareren, amorpheren Methoden der französischen Autoren für das Merve-Kollektiv umso stärkere Kraft. Nicht zufällig ist es die Vorsilbe "Mikro", die im Titel der nun erscheinenden, bis heute berühmtesten Bände auftaucht: Foucaults "Mikrophysik der Macht" oder die "Mikro-Politik des Wunsches" von Deleuze und Guattari.

Emblematisch für diesen Bruch steht ein Besuch der Merve-Leute in Michel Foucaults Pariser Wohnung, mitten im Oktober 1977. Der Gastgeber, nach Adorno Peter Gentes zweite "innere Instanz", zerlegt die Strategie der RAF mit schneidenden Argumenten, beschreibt die Idee, durch brutale Anschläge die Fratze des Polizeistaats hinter der demokratischen Fassade hervorzukitzeln, als hermeneutisches Missverständnis, getragen von einem überholten Begriff vom modernen Staat, dessen subtile Kontrollmechanismen längst eine andere Kritik, einen anderen Widerstand erfordern würden. Allein die Beschreibung dieser Szene, die sich Felsch bei einem seiner Gespräche mit Peter Gente erzählen ließ, lohnt die Lektüre des Buchs.

Am "Grabmal des Intellektuellen", wie es Jean-François Lyotard kurz darauf formuliert, entstehen neue, eher affirmative Perspektiven des Denkens, deren Losungsworte "Vermischung" und "Intensität" heißen. Ihr Referent ist das von Frankreich aus neu entdeckte Werk Friedrich Nietzsches, und wieder zeigt sich, wie eng in der Geschichte der Theorie Positionen und Formate zusammenhängen. Denn gerade Nietzsches fragmentarische Schreibweise macht ihn zum nachträglich installierten Ahnherrn des Genres. Merve wird im Umbruchsjahr 1977 konsequenterweise noch kleiner, die von Gente und seiner neuen Lebensgefährtin Heidi Paris herausgegebenen Bände schrumpfen vom DIN-A5-Format auf das bis heute gültige DIN B6. Ihr bisheriger Untertitel, "Internationale Marxistische Diskussion", verschwindet.

Die ursprüngliche Kongruenz von Politik und Theorie zerfällt nun endgültig. Wo linke Utopien Ende der siebziger Jahre in der eher beschaulichen Ökologie- und Umweltbewegung aufgehen, sucht der Merve-Verlag seine Konturen in einem neuen Milieu zu schärfen, in dem er laut Felsch bis heute seine Heimat gefunden hat: der Sphäre der Kunst. Zum Verhältnis von Theorie und Pop sagt er seltsamerweise so gut wie nichts.

Zwei Begegnungen spielen für den langjährigen Kunst-Ignoranten Gente dabei eine entscheidende Rolle: einmal mit dem Schweizer Kurator Harald Szeemann, dessen Schriften als Merve-Band Nr. 100 erscheinen, und einmal mit Martin Kippenberger, der ein Magazin zum zehnten Verlagsjubiläum zusammenstellt und einen Band namens "Frauen" herausgibt, der sowohl programmatisch als auch politisch die neue Zeit verkörpert. Er enthält nur Bilder und keine Worte und wird von den traditionell belieferten alternativen Buchläden als Zeugnis des Chauvinismus zurückgeschickt. Um 1980 ist bei Merve, wie Philipp Felsch es ausdrückt, die "Transsubstantiation von Theorie in Kunst" erfolgt.

"Der lange Sommer der Theorie" ist eine anregende Mentalitätsgeschichte des Denkens, die nicht zuletzt der Frage nachgeht, ob das insuläre West-Berlin zwischen 1960 und 1990 als "idealer Theorie-Standort" zu begreifen sei. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Lage und Denkstil, zwischen urbanen und intellektuellen Dispositionen? Jacob Taubes, dieser so einflussreiche wie werklos gebliebene Lehrer (außer seiner Dissertation wurde zu Lebzeiten kein Buch von ihm veröffentlicht), bot 1982 ein Seminar zum "Ende der Geschichte" an, in dem er West-Berlin als den beispielhaften Ort eines posthistorischen, radikalen Ästhetizismus beschrieb. Sieben Jahre später erfährt das vermeintliche Ende eine unverhoffte Coda, und es ist kein Wunder, dass Philipp Felschs Buch mit diesem Datum abbricht (oder vielmehr ein wenig unmotiviert ausläuft), mit einem recht lieblosen Abschnitt über den ersten Niklas-Luhmann-Band bei Merve.

Nach 1989 hat es - gemessen an der Intensität, mit der Autoren wie Foucault, Deleuze oder Luhmann ihre Leser beeindruckten - keine entscheidenden Theorie-Ereignisse mehr gegeben. Poststrukturalismus und Systemtheorie erscheinen als die bislang letzten essentiellen Strömungen, und die Absenz vergleichbar elektrisierender Konzepte heute scheint das Bedürfnis nach Historisierung umso stärker hervorzubringen. Davon geben die Bücher von Ulrich Raulff und Philipp Felsch Zeugnis.

Aber woran liegt es, dass die Epoche der Theorie seit 25 Jahren abgebrochen ist - aktuelle Anknüpfungsversuche wie der "Neue Realismus" tragen eher zur Bestätigung diese These bei? Vielleicht liegt ein Grund in der Einebnung von Feldern der Rivalität. Wenn die Postmoderne im Sinne Lyotards den "großen Erzählungen" ein Ende setzte und ihnen das Heterogene, Plurale entgegenhielt, dann bezog sich diese Antithese zumindest noch auf eine als tonangebend empfundene Gegenseite, so wie es weltpolitisch eine Konkurrenz zweier Ideologien gab. Seit 1989 entfällt diese politische Konkurrenz und mit ihr auch die philosophisch-theoretische. Denn der gegenwärtige Kapitalismus hat alle Facetten des Handelns, Denkens und Fühlens im Namen von Freiheit und Pluralität durchdrungen. Theorie, die sich von jeher in den Falten des Gegebenen als Widerhaken eingrub, gleitet an dieser glatten Oberfläche ab. Sie muss erst wieder den Ort ausmachen, von dem aus sie operieren kann.

ANDREAS BERNARD

Philipp Felsch: "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 bis 1990". C. H. Beck, 327 Seiten, 24,95 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Philipp Felsch widmet sich in seinem Buch "Der lange Sommer der Theorie" dem intellektuellen Vor- und Nachspiel der Achtundsechziger Revolte, besonders den Entwicklungen innerhalb des Merve Verlages, berichtet Michael Rutschky, der sich hauptsächlich mit dem Resümieren des Inhalts begnügt. Der ist zwar durchaus interessant zusammengetragen, es fehlt allerdings an kritischen Momenten, findet der Rezensent. Felsch beteilige sich so an der einseitigen Darstellung des Bildungsbürgertums, die im traditionellen Kulturkult münde.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015

Am Ende kommen
Archiv-Künstler
Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse:
Philipp Felschs Geschichte des Merve-Verlags
VON JENS BISKY
Die Sommer werden immer länger. Dreißig Jahre, von 1960 bis 1990, habe die heiße Zeit der Theorie gedauert, behauptet der Historiker Philipp Felsch im Titel seines neuen Buches. „Der lange Sommer der Theorie“ hat zwei Helden: einen Verleger und ein Genre.
  Das Buch erzählt vom Leben des Peter Gente, der 1936 in Halberstadt geboren wurde, 1968 Josef W. Stalins Schrift über „Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft“ herausgab und 1970 gemeinsam mit seiner ersten Frau, Merve Lowien, einen Verlag gründete – so wie viele andere im Umfeld der Studentenbewegung es auch getan hatten. Der Merve Verlag, seit 1975 von Peter Gente und seiner neuen Liebe, Heidi Paris geführt, lieferte verlässlich Stichworte und Thesen zur geistigen Situation der Zeit, verzauberte seine Leser durch immer neue Varianten „gefährlichen Denkens“. Dessen Schicksale hängen mit dem Genre der Theorie zusammen. Theorie das meinte zunächst Distanz zur akademischen Philosophie, das meinte Taschenbücher und damit meist auch kürzere Texte, die versuchten oder wenigstens versprachen, das „Bewusstsein der Gegenwart“ auf den Punkt zu bringen.
  Am Anfang stand ein Erweckungserlebnis: Peter Gente las „Minima Moralia“, Theodor W. Adornos „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Sie führten den jungen Mann in einen eigenen Kosmos der Bildung, den er sich nach und nach erschloss, und sie hinterließen zwei Fragen, an denen Gente und andere in den folgenden Jahrzehnten auf höchst produktive Weise laborierten. Zum einen ging es um das Verhältnis von kritischer Theorie und Veränderung der Verhältnisse. Adornos Einsicht, dass allein Theorie, die nicht schnurstracks aufs Ziel der Veränderung zusteuere, Veränderung ermögliche und dem Impuls, es müsse anders werden, die Treue halte, provozierte bald Widerspruch. Zugleich hatte er die Ästhetisierung von Theorie weit vorangetrieben.
  „Wie sollen wir ,Das Kapital‘ lesen?“ hieß das erste Buch, das Gente gemeinsam mit seiner Frau und einem Freund druckte. Es stammte von Louis Althusser, erschien noch ohne Verlagsnamen und passte bestens zum Programm des „sozialistischen Kollektivs“, das nicht nur „Kalkulation, Rechnungsführung, Druck, Vertrieb usw.“ in gemeinsamer Kollektivarbeit machte, sondern auch „Selbstagitation und Erarbeitung der Grundlagen der Marx’schen Theorie“. Aufs Urheberrecht mochte und konnte man dabei nicht viel Rücksicht nehmen. Es folgten Texte italienischer Marxisten, nach einem Besuch in Paris kamen die Franzosen – Michel Foucault, Gilles Deleuze, Félix Guattari, Jean-François Lyotard, Paul Virilio und Jean Baudrillard, später ergänzt um Carl Schmitt und Niklas Luhmann. In den Achtzigern gehörten Merve-Bände zur obligatorischen Ausstattung eines intellektuell ambitionierten Zeitgenossen, in den Neunzigern las sie, wer als Student auf sich hielt.
  Von Althusser übernimmt Philipp Felsch die glückliche Prägung von der „theoretischen Praxis“. Theorie als eine Form produktiver Arbeit zu betrachten, bei der eben Erkenntnisse produziert würden, mag heute wie ein philosophischer Kurzschluss erscheinen, eine arge Übertreibung der marxistisch tradierten Überschätzung von Arbeit, aber es erlaubt dem Historiker in den Illusionen und Begriffen der Zeit zu erklären, wie es gelingen konnte, „Revolution in Textarbeit“ zu verwandeln.
Wie diese für die Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik entscheidende Sublimierungsleistung erbracht wurde, wie die Praxis des Theorieverlegens aussah, wie Alltag und Deutung einander beförderten, davon erzählt Felsch auf suggestive Art. Seine klaren, oft aus ironischer Halbdistanz formulierten Sätze locken den Leser rasch ins Spiegelkabinett dieser „Geschichte einer Revolte“. Die Form der Bücher, der Stil der Argumentation und der Lebensstil werden so geschildert, dass sie einander wechselseitig erhellen. Zu Althusser und der Reihe „internationale marxistische diskussion“ passt das verstaubte Steglitzer Ladenlokal, zu Foucaults „Mikrophysik der Macht“ und Lyotards „Patchwork der Minderheiten“ der Tunix-Kongress, damals 1978, an der TU-Berlin, mit Baudrillard nähert man sich dann dem „Ende der Geschichte“, das einen schönen Heiner-Müller-Satz zufolge, in Berlin deutlicher zu sehen sei.
  Berlin, genauer: der West-Teil der Stadt, wird allmählich zum dritten Helden des Buches. Es erscheint als „Traumstadt der bricolage“, als Häusermeer mit erschwinglichen Mieten – obwohl, wie gern vergessen wird, stets Wohnungsnot beklagt wurde –, als wintergraue Stadt voller schwarz-weißer Fahndungsplakate, als „Insel des Posthistoire“, als jener Ort, an dem man lernen konnte, wie Nachtleben geht. Martin Kippenberger kümmert sich im „SO 36“ um Punk, Heiner Müller versackt in der „Paris Bar“ – er ist der Letzte nicht –, Dietmar Kamper, Sportlehrer, Philosoph, Erziehungswissenschaftler und Kultursoziologe in einem, lädt zur „Wilden Akademie“ ins Kempinski. Hedonismus übernimmt den Theoriebetrieb. Der Germanist Klaus Laermann, der mit „Lacancan und Derridada“ ohnehin nichts am Hut hatte, verurteilte auch diese „Schicky-Micky-Partys“.
  Über die besondere Liebe der alternativen Szene zum Wohnen – und die damit einhergehende Entleerung des öffentlichen Raums, wird man ebenso belehrt wie über „Kneipengerede“; noch einmal taucht der Leser ein in den New-Wave-Club „Dschungel“ – und stellt erstaunt fest, dass dieses Buch auf vielen Seiten einem Erinnerungsbericht ähnelt, einer jener Veteranenerzählungen wie Helmut Lethens „Suche nach dem Handorakel“ (2012), Wolfgang Müllers „Subkultur West-Berlin“ (2013) oder Ulrich Raulffs „Wiedersehen mit den Siebzigern“ (2014).
  Philipp Felsch, geboren 1972, hat sich diese Perspektive mühsam erarbeiten müssen, er hat die Archive von Merve und Suhrkamp ebenso ausgewertet wie den Nachlass Adornos oder Dietmar Kampers, er hat mit vielen der damals Beteiligten Gespräche geführt, entlegene Publikationen studiert. Es fehlt diesem Buch über den „langen Sommer der Theorie“ an Theorie, an einem kälteren, analytischen Zugriff oder wenigstens einigen Blicken in die nähere Außenwelt, etwa auf den Rotbuch Verlag, die alternative Szene in Berlin (West).
  Diese Kulturgeschichte zeigt auch einige Verbindungslinien in die Gegenwart auf: Merve-Bände liegen heute vor allem in Museumshops und Kunstbuchhandlungen aus. „Und während sich der Kunstbetrieb mit einer Wolke aus Theorie umgibt, wird die Theorie der Kunst immer ähnlicher“. Ja, die nicht-mehr schönen Künste scheinen jene Erlösungssehnsüchte anzuziehen, die in den Sechzigern Theorie befriedigen sollte: Inszenierung und Verkunstung statt Anstrengung des Begriffs.
  Die Diagnose hat viel für sich und ist keineswegs düster. Aber sie wird aus der Binnensicht formuliert, die sich Felsch ebenso gekonnt zu eigen macht, wie er den Leser virtuos in die Binnenwelt bannt. So zum Beispiel, wenn er über ein Seminar zur „Ästhetik des Post-Histoire“ berichtet, das der großartige Apokalyptiker Jacob Taubes und Dietmar Kamper 1982 gemeinsam veranstalteten. Peter Gente hatte ihnen empfohlen, einen Duchamp-Spezialisten einzuladen, der seinen Vortrag offenbar wie eine „künstlerische Performance“ anlegte. Das Protokoll der Diskussion ist ausführlich wiedergegeben als Zeugnis einer „Verwirrung zwischen Theorie und Kunst“. Unruhe und Gemurmel, absurdes akademisches Theater, an dem Sibylle Lewitscharoff, Norbert Bolz und einige mehr beteiligt waren. „Der Surrealismus ist tot.“ – „Würde ein dicker Sachse diesen Vortrag in sächsischer Mundart vortragen, wäre es gut. Es liegt am Vortragskünstler.“ – „Das Liebesbenzin ist ausgegangen.“ – „Nein, lustig war es nicht . . . “
  Philipp Felsch hat einige Trouvaillen aus den Archiven geborgen, seine Darstellung lebt wesentlich von der Begeisterung des glücklichen Finders. Daher kann er längst Entschwundenes noch einmal vergegenwärtigen, als gerade Entdecktes. Der Leser hat sein Vergnügen, vermisst aber Historisierung. Im Seminar, November 1982, rettete sich Norbert Bolz aus der Wirrnis mit dem Ruf: „Ab damit ins Museum.“
Am Leben Peter Gentes lässt sich
lernen, wie Revolution in
Textarbeit verwandelt wurde
Berlin, das graue Häusermeer,
erscheint dennoch als Traumstadt
der Bricolage
Verwirrung zwischen Theorie
und Kunst: „Das Liebesbenzin ist
ausgegangen.“
Ein Idyll im Spiegel: Heidi Paris und Peter Gente, West-Berlin, um 1980.
Foto: aus dem besprochenen Band
      
    
  
Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie.
Geschichte einer Revolte
1960-1990. Verlag C. H. Beck, München 2015. 327 Seiten mit 23 Abbildungen.
24,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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"Es ist eine Geschichte, die Westberlin so erzählt, wie die Serie 'Mad Men' es für New York tat."
Tobias Rapp, Literatur Spiegel, Dez 15/Jan 16

"Eine Archäologie der Merve-Kultur als Lebensform, gleichzeitig ein spannender und höchst anregender Berlin-Roman."
Mark Siemons, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12. Juli 2015

"Eine intellektuelle Geschichte von 1960 bis 1990 (...) wenn man nicht fünfzig Bücher lesen will, sondern nur eins, muss man eigentlich das lesen." SRF Literaturclub, Milo Rau

"Eine der aufregendsten und gleichzeitig anspruchsvollsten Neuerscheinungen des diesjährigen Bücherfrühlings."
Wilfried Mommert, dpa, 28. April 2015

"Mit leisem Witz und respektvollem Sicherheitsabstand."
Otto A. Böhmer, Frankfurter Rundschau, 24. März 2015

"Philipp Felsch hat einige Trouvaillen aus den Archiven geborgen, seine Darstellung lebt wesentlich von der Begeisterung des glücklichen Finders."
Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung, 10. März 2015