Produktdetails
  • Verlag: List
  • ISBN-13: 9783471791547
  • ISBN-10: 347179154X
  • Artikelnr.: 24833750
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.1995

Maler in Eis und Schrecken
Dokumentarisch: Herbjrg Wassmos tüchtige Invaliden

Mit Erleichterung nimmt man zur Kenntnis, daß Herbjrg Wassmo nach ihrem Abstecher in den Kitsch der Postmoderne, einer nordischen Schicksalssymphonie mit dem Titel "Das Buch Dina", wieder dorthin zurückgekehrt ist, wo sie sich auskennt: bei den kleinen Leuten des hohen norwegischen Nordens. Ihre preisgekrönte Trilogie über das Mädchen Tora hatte von den Leiden einer Heranwachsenden gehandelt. Jetzt geht es ihr um die Leiden einer Familie in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs.

Deutschland, die Deutschen, die deutsche Besatzung sind für Herbjrg Wassmo eine wohl auf eigenem Erleben beruhende Obsession, der sie immer wieder nachgeht. Doch auch wenn sie wie hier von einer deutschen Patrouille spricht, die ihren Flüchtlingen "als Bluthund auf den Fersen" ist, zeichnet sie kein vom Haß verzerrtes Bild. Die Besatzer sind der große Angsthintergrund dieses Buches. Sie tun schreckliche, mehr angedeutete als ausgemalte Dinge, aber manchmal sehen sie auch weg, etwa wenn ein norwegisches Kind einem russischen Gefangenen ein Stück Brot zusteckt.

Die Geschichte ist so einfach wie eindringlich. Sie handelt von Flucht und Rettung und von dem furchtbaren Preis, der dafür zu zahlen ist. Ein Mann, Handwerker, Maler von Beruf, der im norwegischen Widerstand engagiert ist, flieht, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, mit Frau und Kind nach Schweden. Schlecht ausgerüstet gehen sie auf Skiern durch Nacht und Eis, erreichen eine Hütte und werden im letzten Augenblick von einem schwedischen Flugzeug entdeckt und gerettet. Alle drei haben schwerste Erfrierungen, verlieren Finger und Zehen, ein Bein, die Nase.

Der Geschichte liegen Ereignisse zugrunde, die tatsächlich stattgefunden haben; die Überlebenden haben sie Wassmo erzählt. Die Schriftstellerin nennt das Buch deshalb einen "Dokumentarroman". Zeit und Ort sind genau benannt: Am 5. Januar 1945 brechen die drei auf, sie gehen zwei Tage und zwei Nächte, elf Tage halten sie sich in der Hütte auf. Es ist die Gegend südlich von Narvik weit im Norden; der rettende Hafen ist die schwedische Erzstadt Kiruna. Die äußeren Ereignisse übernimmt Wassmo von ihren Gewährsleuten; Gedanken, Gefühle sind ihre Erfindung, ebenso die Nebenfiguren, die Polen und Tschechen in der Schutzhütte, die aus einem Gefangenenlager der Deutschen geflohen sind.

Herbjrg Wassmo erzählt zuerst lakonisch aus der Perspektive des Kindes, das nichts versteht, dann aus der der Frau, die sich ins Leiden fügt, wenig aus der des Mannes. Mit quälender Intensität sind "der lange Weg" über die eisige Hochfläche, die stumme Verzweiflung, das langsame Erfrieren wiedergegeben. Ebenso überzeugend wird das Dahinvegetieren in der Hütte geschildert. Alle drei versinken, von Wundbrand und Blutvergiftung befallen, in Halluzinationen und sind nahe dabei, sich aufzugeben.

Jeder Schriftsteller weiß, daß es leichter ist, Schrecknisse darzustellen als "das Rettende". Auch Herbjrg Wassmos Darstellung verflacht, sobald ihre drei im Hospital liegen, wo "verdammt gute Laune" und "schwarzer Humor" angesagt sind. Sie wird vollends zum platten Erlebnisbericht, sobald die Protagonisten - sie tragen übrigens keine Namen - in den Alltag Stockholms geschickt werden, wo sie nun den Umgang mit ihrer Behinderung lernen müssen. Hier wird alles direkt erzählt, das "Positive" steht im Vordergrund.

Die Tücken des Genres "Dokumentarroman" sind nun nicht länger zu übersehen. Die Autorin wagt es nicht, ihrem "Mann" und ihrer "Frau", die sie kennt und befragt hat, ein Gefühls- oder gar ein Sexualleben zu geben oder diesen einfachen Menschen längere Reflexionen über das Geschehene zuzugestehen. Im Leiden so plastisch und nah, wirken sie nun als tüchtige Invaliden wie die Helden eines gehobenen Jugendbuchs. RENATE SCHOSTACK

Herbjrg Wassmo: "Der lange Weg". Dokumentarroman aus dem Krieg Januar 1945. Aus dem Norwegischen übersetzt von Ingrid Sack. List Verlag, München und Leipzig 1995. 178 S., geb., 34,- DM.

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