1926 startete John Robert Shaw mit seiner Maschine, um einen neuen Rekord im Alleinflug aufzustellen. Anfangs war das Glück auf seiner Seite. Doch nördlich von Alaska geriet der blutjunge Pilot in einen Sturm, stürzte ab und galt von da an als vermisst, höchstwahrscheinlich tot. Bis im Jahr 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, die Amerikaner die Aleuten evakuierten und John entdeckt wurde: Er war seinerzeit von den Bewohnern einer Insel, die auf keiner Karte verzeichnet war, gefunden und gesund gepflegt worden. Siebzehn Jahre hatte John mit den Inuit gelebt - am Ende der Welt, in einer Einöde aus ewigem Eis und Schnee. Und dann wird er abermals gezwungen, ein völlig neues Leben zu beginnen... Ein bewegender Roman über die Macht der Liebe und den Mut, mit dem wir unseren Träumen und Passionen folgen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.1996Der mit dem Walroß tanzt
Allein unter Inuit: Julie Harris surft auf der Ethno-Welle
Und ewig schäumt die Ethno-Welle. Der Tag, an dem selbst der unverwüstlich wirkende Kino-Cowboy der Marlboro-Werbung seinen Platz im Canyon erstmals an eine fröhliche Multikulti-Musikertruppe abtreten mußte, bedeutete einen weiteren Etappensieg der längst kommerziell gesteuerten One-World-Bewegung. Kaum ein Zivilisationsmensch, dem der Blick in die Augen eines südamerikanischen Indios oder eines Tibeter Mönches nicht eine dunkle Ahnung seiner eigenen, Generationen zuvor verlorenen Ursprünge beschert. Indigen ist in, und ein Beleg dafür ist die etwa zeitgleich aufgekommene Political-Correctness-Debatte.
"Die Verwendung von Begriffen, die heute als unangemessen gelten", teilt uns die Australierin Julie Harris in einer Anmerkung zu ihrem dritten Roman mit, sei "nicht als Herabsetzung irgendeiner Gruppe gedacht". Die politische Korrektheit müsse der historischen geopfert werden; wurde doch in der von ihr beschriebenen Epoche ein Begriff verwendet, der in unserer "aufgeklärten Ära" diskreditiert ist. Die Rede ist von dem Wort "Eskimo".
Harris wäre diese Erklärung erspart geblieben, hätte sie das Flugzeug ihres Helden John Shaw in den Neunzigern auf eine Insel vor Alaska stürzen lassen. Statt dessen datierte sie seine Bruchlandung auf 1926, und der unaufgeklärte Pilot sah sich umgeben von Eskimos - und nicht, wie wir es heute besser wissen, von Inuit. Mit ihnen sollte Shaw siebzehn Jahre verbringen, bis er von der US-Marine geborgen würde. Genug Zeit also für den homo faber, sich mit dem fremden Kulturkreis vertraut zu machen. Robinson, Livingstone und Kevin Costner lassen grüßen.
Keine Frage, daß das Kind der Industriegesellschaft trotz anfänglicher Abneigung gegen eine gute Tasse frischen Seehundblutes geläutert aus seiner Eiszeit hervorgeht. "Ich war nicht vermißt, Betty-Sue", erklärt er seiner Krankenschwester und späteren Biographin. "Ich wurde gefunden. Von mir." Julie Harris bedient sich des schlichten Strickmusters der klassischen Back-to-nature-Literatur. Um so erstaunlicher, daß das fertige Produkt voller Laufmaschen steckt. Acht Jahre habe es gedauert, erzählt Betty-Sue, aus Johns Aufzeichnungen und Berichten "eine Geschichte aus einem Guß zu machen". Diese freilich suchen wir vergebens. John ist kein Saint-Exupéry, und er selbst bekennt, "nicht der beste Tagebuchschreiber der Welt" zu sein.
Krankenschwestern dagegen neigen offenbar zum Kitsch. "John wußte, daß es allein der Glaube war, der die Herzen weiterschlagen ließ und das Licht der Zufriedenheit aufrechterhielt, das ständig in diesen dunklen Augen leuchtete", berichtet Betty-Sue. Ansonsten erfahren wir, daß die Eskimos/Inuit ab und zu nicht näher beschriebene Feste feiern und sich "gern so zum Sterben" hinlegen, Erfahrungen, die auch ein Pauschal-Kurzreisender hätte machen können. Dafür liest man um so mehr über Johns Vorleben in South Carolina, das die Autorin in einer Art Handlungs-Fetischismus mit so vielen dramatischen Ereignissen ausstattet - grausige Unfälle, Tod des Vaters, Kinderlähmung der Schwester und so weiter -, daß eine Daily Soap daraus Stoff für ein Jahr beziehen könnte.
Nicht nur Johns Gespür für Windstärken beeindruckt, wenn er mit verblüffender Exaktheit schildert, wie er "von einem Windstoß von hundertdreißig Stundenkilometern" erfaßt wird. Sein Hang zur Transzendenz, verstärkt durch häufigen Kontakt zum Medizinmann, beschert ihm Visionen von Walroßherden sowie regelmäßige Besuche seines verstorbenen Kumpels Bobby. Auch der tote Paps schaut vorbei und teilt Beruhigendes mit: "Deine Zeit ist noch nicht um, mein Sohn."
Es deutet sich in solchen Szenen schon an, daß Julie Harris sich als Meisterin der, so sei unterstellt, unfreiwilligen Komik erweist - ganz sicher nicht ohne tatkräftige Hilfe der Übersetzung. Immer wieder stößt man auf herrliche Stilblüten. "Die Menschen hier sterben oder kommen durch Unfall um", konstatiert John einmal; und wenn er, der beim Absturz einen Arm verloren hat, in einem Wutanfall seine Eskimofrau würgt, sieht man "an ihrer Kehle die roten Abdrücke meiner Hände". Niemand, so erinnert er sich an anderer Stelle an sein Geburtshaus, "hatte Rosen, die so dufteten wie die Teerosen, die am Strauch rechts neben dem Klohäuschen wuchsen". Auf dieses Geruchserlebnis verzichtet der Rezensent nur zu gerne. JÖRG THOMANN
Julie Harris: "Der lange Winter am Ende der Welt". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Joachim Maass. Ernst Kabel Verlag, Hamburg 1996. 314 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Allein unter Inuit: Julie Harris surft auf der Ethno-Welle
Und ewig schäumt die Ethno-Welle. Der Tag, an dem selbst der unverwüstlich wirkende Kino-Cowboy der Marlboro-Werbung seinen Platz im Canyon erstmals an eine fröhliche Multikulti-Musikertruppe abtreten mußte, bedeutete einen weiteren Etappensieg der längst kommerziell gesteuerten One-World-Bewegung. Kaum ein Zivilisationsmensch, dem der Blick in die Augen eines südamerikanischen Indios oder eines Tibeter Mönches nicht eine dunkle Ahnung seiner eigenen, Generationen zuvor verlorenen Ursprünge beschert. Indigen ist in, und ein Beleg dafür ist die etwa zeitgleich aufgekommene Political-Correctness-Debatte.
"Die Verwendung von Begriffen, die heute als unangemessen gelten", teilt uns die Australierin Julie Harris in einer Anmerkung zu ihrem dritten Roman mit, sei "nicht als Herabsetzung irgendeiner Gruppe gedacht". Die politische Korrektheit müsse der historischen geopfert werden; wurde doch in der von ihr beschriebenen Epoche ein Begriff verwendet, der in unserer "aufgeklärten Ära" diskreditiert ist. Die Rede ist von dem Wort "Eskimo".
Harris wäre diese Erklärung erspart geblieben, hätte sie das Flugzeug ihres Helden John Shaw in den Neunzigern auf eine Insel vor Alaska stürzen lassen. Statt dessen datierte sie seine Bruchlandung auf 1926, und der unaufgeklärte Pilot sah sich umgeben von Eskimos - und nicht, wie wir es heute besser wissen, von Inuit. Mit ihnen sollte Shaw siebzehn Jahre verbringen, bis er von der US-Marine geborgen würde. Genug Zeit also für den homo faber, sich mit dem fremden Kulturkreis vertraut zu machen. Robinson, Livingstone und Kevin Costner lassen grüßen.
Keine Frage, daß das Kind der Industriegesellschaft trotz anfänglicher Abneigung gegen eine gute Tasse frischen Seehundblutes geläutert aus seiner Eiszeit hervorgeht. "Ich war nicht vermißt, Betty-Sue", erklärt er seiner Krankenschwester und späteren Biographin. "Ich wurde gefunden. Von mir." Julie Harris bedient sich des schlichten Strickmusters der klassischen Back-to-nature-Literatur. Um so erstaunlicher, daß das fertige Produkt voller Laufmaschen steckt. Acht Jahre habe es gedauert, erzählt Betty-Sue, aus Johns Aufzeichnungen und Berichten "eine Geschichte aus einem Guß zu machen". Diese freilich suchen wir vergebens. John ist kein Saint-Exupéry, und er selbst bekennt, "nicht der beste Tagebuchschreiber der Welt" zu sein.
Krankenschwestern dagegen neigen offenbar zum Kitsch. "John wußte, daß es allein der Glaube war, der die Herzen weiterschlagen ließ und das Licht der Zufriedenheit aufrechterhielt, das ständig in diesen dunklen Augen leuchtete", berichtet Betty-Sue. Ansonsten erfahren wir, daß die Eskimos/Inuit ab und zu nicht näher beschriebene Feste feiern und sich "gern so zum Sterben" hinlegen, Erfahrungen, die auch ein Pauschal-Kurzreisender hätte machen können. Dafür liest man um so mehr über Johns Vorleben in South Carolina, das die Autorin in einer Art Handlungs-Fetischismus mit so vielen dramatischen Ereignissen ausstattet - grausige Unfälle, Tod des Vaters, Kinderlähmung der Schwester und so weiter -, daß eine Daily Soap daraus Stoff für ein Jahr beziehen könnte.
Nicht nur Johns Gespür für Windstärken beeindruckt, wenn er mit verblüffender Exaktheit schildert, wie er "von einem Windstoß von hundertdreißig Stundenkilometern" erfaßt wird. Sein Hang zur Transzendenz, verstärkt durch häufigen Kontakt zum Medizinmann, beschert ihm Visionen von Walroßherden sowie regelmäßige Besuche seines verstorbenen Kumpels Bobby. Auch der tote Paps schaut vorbei und teilt Beruhigendes mit: "Deine Zeit ist noch nicht um, mein Sohn."
Es deutet sich in solchen Szenen schon an, daß Julie Harris sich als Meisterin der, so sei unterstellt, unfreiwilligen Komik erweist - ganz sicher nicht ohne tatkräftige Hilfe der Übersetzung. Immer wieder stößt man auf herrliche Stilblüten. "Die Menschen hier sterben oder kommen durch Unfall um", konstatiert John einmal; und wenn er, der beim Absturz einen Arm verloren hat, in einem Wutanfall seine Eskimofrau würgt, sieht man "an ihrer Kehle die roten Abdrücke meiner Hände". Niemand, so erinnert er sich an anderer Stelle an sein Geburtshaus, "hatte Rosen, die so dufteten wie die Teerosen, die am Strauch rechts neben dem Klohäuschen wuchsen". Auf dieses Geruchserlebnis verzichtet der Rezensent nur zu gerne. JÖRG THOMANN
Julie Harris: "Der lange Winter am Ende der Welt". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Joachim Maass. Ernst Kabel Verlag, Hamburg 1996. 314 S., geb., 44,- DM.
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»Ein Entwicklungsroman, der Seinsfragen stellt und sie tröstlich beantwortet: Überleben macht Sinn.« Neue Westfälische