Nach Jahren in Ostasien ist der Journalist und Hobbyornithologe Daniel S. zurück in Deutschland. Eigentlich will er hier nur noch seine Ruhe. Doch bereits das Begräbnis seines Jugendfreundes Viktor endet in einer wüsten Schlägerei. Danach läuft Daniels Leben völlig aus dem Ruder. Eine Frau aus der Vergangenheit taucht auf, an die er sich beim besten Willen nicht erinnert, Menschen werden ausgetauscht oder verschwinden, und überall sieht er versteckte Zeichen, die ihm verraten, dass er am 19. Oktober sterben wird. Kann Daniel diese Rätsel mit Hilfe der «Methode Cooper» lösen, wie es sein Psychiater, ein fanatischer David-Lynch-Fan, empfiehlt? Oder soll er auf seinen Berliner Dealer hören und mehr «ehrliche Siebziger-Jahre-Drogen» nehmen? Hilft googeln? Und was hat der ganze Irrsinn mit der Amerikafahrt zu tun, die Daniel 1978 mit seinen Jugendfreunden, den neodadaistischen «Huelsenbecks», unternahm?
In seinem Romandebüt schickt Christian Y. Schmidt seinen Helden auf eine mysteriöse Reise zwischen Berlin und Mexiko, die ihn über verschlungene Pfade zur Wahrheit führt. Originell, kraftvoll und mit zuweilen düsterem Witz erzählt er von der Jugend in den angeblich so wilden Siebzigern, vom Scheitern großer Pläne und dem, was dabei herauskommt, wenn man sich selbst betrügt.
In seinem Romandebüt schickt Christian Y. Schmidt seinen Helden auf eine mysteriöse Reise zwischen Berlin und Mexiko, die ihn über verschlungene Pfade zur Wahrheit führt. Originell, kraftvoll und mit zuweilen düsterem Witz erzählt er von der Jugend in den angeblich so wilden Siebzigern, vom Scheitern großer Pläne und dem, was dabei herauskommt, wenn man sich selbst betrügt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.2018Ticktack, ihr Trottel!
Früher hätte er solchen Typen gleich ins Gesicht gespuckt: Christian Y. Schmidts herzverheerend schöner Verwirrroman "Der letzte Huelsenbeck" über den tragisch unvermeidlichen Hirnschaden des Älterwerdens aller Unangepassten.
Auf Seite 236, also schon tief in dem Irrgarten, der dieses grandiose Buch ist, entwirft jemand einen Ausweg, der im weiteren Erzählgang dann weder wirklich werden darf noch wahr: "Da ist was passiert in Amerika. Irgendetwas Unerfreuliches. Das kristallisiert sich immer deutlicher heraus. Wenn du herausfindest, was es ist, hast du, schätze ich, den Schlüssel zu deinem Schlamassel. Danach dürften nicht nur die Angstzustände verschwinden, sondern auch der ganze restliche Zirkus: Kinder, Affen, die sieben Zwerge, diese ganze Menagerie in deinem Kopf . . ."
Der Kopf, von dem die Rede ist, tickt nicht mehr richtig. Die Lebensuhr läuft weiter, während er sich einrenken will, und jeder Versuch, sich bei sich selbst und auf der Welt zurechtzufinden, ist ein aussichtsloses Spiel gegen die Zeit. Der Sinn des Ganzen wie aller Kleinigkeiten darin zerrinnt dem Menschen, um den es geht, zwischen den Fingern, und das verschliffene Züngeln der Sprache stört die Konzentration: "Schlüssel", "Schlamassel", man hört die klitzekleinen Ketten rasselzischen, aus denen der Verstand sich befreien will - vergebens. Der Ich-Erzähler von Christian Y. Schmidts Roman "Der letzte Huelsenbeck" ist annähernd alt, soll heißen: Etwa sechs Jahrzehnte hat er mitgemacht, immer unwillig, sich einem vorgezeichneten Weg anzubequemen. Gerade aus Fernost in sein westdeutsches Herkunftskaff zurückgekehrt, nimmt er Teil an der Beerdigung eines etwa gleichaltrigen Mannes, der vor mehreren Dekaden zu einer Gruppe junger Leute gehörte, die sich, angeregt vom Ich-Erzähler, so etwas wie eine Parolen- und Aktionsreligion um die wiederum ein paar Menschenalter weiter zurückliegende Antikunstbewegung des Dadaismus gebaut hatten. Zu Ehren eines der Protagonisten jener Bewegung nannten sie sich "die Huelsenbecks".
Der Originaldadaismus hatte seinerzeit vor lauter Genie keine Lust gehabt, Kunst zu erzeugen; die Dadaisten (und die bis heute zu selten genannten und gekannten Dadaistinnen, etwa Hannah Höch und Sophie Taeuber-Arp) sahen die Kunst nicht nur ihrer Gegenwart nämlich als Medienvehikel für den Transport der Abgeschmacktheiten feudaler bis bürgerlicher Lebens- und Staatsfrömmigkeit; ein Mitläuferlaster, das man der Menschheit abgewöhnen musste. So zwängten sie ihre Leiber in Papprollen und quakten Quatsch, liefen quer über Straßen, die es nicht gab, zerschnitten Zeitungen und Kataloge, klebten alles falsch zusammen und schrieben wahnsinnig gute Sachen - Beweisstück 1 (Hans Arp): "Der Vater hat sich erhängt / dort wo die Wanduhr hing. / Die Mutter ist stumm. / Die Tochter ist stumm. Der Sohn ist stumm. / Alle drei verfolgen / das Ticktack des Vaters." Beweisstück 2 (Tristan Tzara): "Unbeschreibliche Milde. Die Augen von Jugend zu Jugend immer schärfer."
Der Unheld Daniel S., den uns Schmidts Buch vorstellt, gehörte in der Vorvergangenheit des Textes zu einer Jugend, die sich von solchen Sätzen dazu ermutigen ließ, das Sichdreinfinden, für das Biographieschablonen unser Menschendasein halten, mit Trotz und Witzen zurückzuweisen. Aber schon bei den Dadaisten (und den bis heute unfair vernachlässigten Dadaistinnen, etwa Beatrice Wood und Emmy Hennings) hatten sich Trotz und Witze nicht gelohnt: Sie mussten sich irgendwann enttäuscht eingestehen, dass das Ergebnis eben doch nur wieder Kunst geworden war. So wandten sie sich dem Surrealismus (also einem Dadaismus, der sich mit dem eigenen Kunstcharakter abfindet), der Psychoanalyse oder der Politik zu. Schmidts Roman ist auch Kunst; Pech gehabt.
Dass es dem Autor selbst manchmal geht wie jener Figur im Roman, die bei der Konfrontation mit irgendwelchen Idioten Anlass zur wehmütigen Reflexion gibt: "Früher hätte er solchen Typen gleich ins Gesicht gespuckt", legt der Text nahe, aber das sind Privatangelegenheiten. Nach der Beerdigung des ehemaligen Weggefährten kullert bei Schmidts Stimme Daniel S. die Denkmurmel auf erratischen Bahnen. Irgendwelche (auto-)biographischen Hintergründe mag auch das haben, aber Schmidt teilt in einem Anhang mit der allen Fragen nach der Wirklichkeit hinter der Wahrheit der Literatur angemessenen Lustlosigkeit wohltuenderweise sehr knapp mit, dass man jedenfalls nichts wörtlich nehmen und platt für sein persönliches "So war das damals" halten dürfe. Von Belang ist an der mutmaßlichen Zeitgeschichtserdung des Romans ohnehin nur die Tatsache, dass nicht allein in Schmidts Alterssegment und unter denen, die sein Bielefelder Sozialisationsgehege geteilt haben, die allermeisten der Selbstanpassung an doofe und unsinnige Normen schlechter entronnen sein dürften als der Romancier. Aus jungen Post- und Meta-Dadamenschen wurden Werbetrottel, grüne Bundestagsabgeordnete, Kinderpsychologinnen oder Buchbesprecher, mehr oder weniger korrupt, kaputt und sanft gemeingefährlich wie alle anderen, die früher als sie ihren Frieden mit dem normalen Mist gemacht hatten.
Der tatsächliche Christian Y. Schmidt (Jesus, dieser lustige Mittelinitialspaß ist aber auch zum Mäusemelken!) hat sich schon vor dem Glanzstück, das dieser Roman nun geworden ist, mehr als ordentlich geschlagen: Eine Weile ließ er sich unter anderem für "Titanic" als gefälschter Skinhead fotografieren, weil die Haupthaare früh genug futsch waren, dann schrieb er allerlei Artikelartiges und Bücher eher journalistisch-essayistischen Zuschnitts über China, Joschka Fischer und was weiß ich. In diesen stehen allerdings auch schon tolle Sätze, an denen man ablesen konnte, dass die Kunst den Autor rief, und die oft bereits davon handelten, dass der Wandel, den Leute durchmachen, die jungrebellisch sind und dann Schlimmeres werden als verrückt, zu den ekligsten Zivilisationsproblemen der Neuzeit zählt.
Im Fischer-Buch zitiert Schmidt den weltberühmten deutschen Außenminister einmal mit der Behauptung, er wäre als Taxifahrer vom Linksradikalen zum Realisten geworden, weil sich ihm dort gezeigt hätte, unter wie viel Druck der Durchschnittsfahrgast stünde, jeder "eine tickende Zeitbombe". Schmidt kommentiert ebenso lakonisch wie human polemisch: "Vielleicht hätte er einfach mal die Taxiuhr abstellen sollen, dann hätt's schon aufgehört mit dem Ticken."
Gegen Ende von "Der letzte Huelsenbeck", kurz bevor alles erklärt (und nichts billig aufgelöst) wird, steht eine kunstvoll konfus schöne Stelle darüber, wie sehr jede Erinnerung die konkrete Erfahrung verrät, von der sie handelt, und wie unvermeidlich jedes Festhaltenwollen des Gewesenen als Erkenntnis eines Totalverlusts von allem Wichtigen enden muss, das uns Sterbliche ausmacht, Moment für Moment, Mensch um Mensch, ticktack: "Aus Claires Zügen wurden die von Marion, aus Marions die von Dr. Gulistan, aus Gulistans Brigittes, aus Brigittes Sandys, aus Sandys Heikes, das blond gelockte Mädchen, mit dem ich mich zum ersten Mal geküsst hatte, damals auf der Wiese über der Stadt. Immer schneller wechselten die Gesichter. Bald waren es nicht mehr nur Frauen, mit denen ich längere Zeit zusammen gewesen war. Auch die Flirts sah ich, die One-Night-Stands, die platonischen Beziehungen und selbst die, mit denen ich nur einen flüchtigen Blick auf der Straße getauscht hatte. Die Gesichter wechselten so schnell, dass die Züge bald nicht mehr zu unterscheiden waren. Ein Allgesicht."
Genau so ist das: "mit der ich mich geküsst hatte", denn wer Gewesenes bei sich erinnert, ist notwendig allein, küsst sich selbst durch Schemen anderer hindurch, nicht mehr diese, nie mehr, vorbei. Der einzig mögliche Trost sind Scherze, aber ohne Unschuld: "Die ganze Kindheit hatte es geregnet." Drehen Sie diesen Satz in mehrere Richtungen, spielen Sie damit ("Es hat die Kindheit geregnet" zum Beispiel), dann werden Sie staunen, was er alles kann. Schmidts tolles Buch ist eine Neuigkeit, die von einer alten, sehr guten Idee spricht: Erzähldichtung ohne Getue.
DIETMAR DATH
Christian Y. Schmidt:
"Der letzte Huelsenbeck". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2018. 400 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Früher hätte er solchen Typen gleich ins Gesicht gespuckt: Christian Y. Schmidts herzverheerend schöner Verwirrroman "Der letzte Huelsenbeck" über den tragisch unvermeidlichen Hirnschaden des Älterwerdens aller Unangepassten.
Auf Seite 236, also schon tief in dem Irrgarten, der dieses grandiose Buch ist, entwirft jemand einen Ausweg, der im weiteren Erzählgang dann weder wirklich werden darf noch wahr: "Da ist was passiert in Amerika. Irgendetwas Unerfreuliches. Das kristallisiert sich immer deutlicher heraus. Wenn du herausfindest, was es ist, hast du, schätze ich, den Schlüssel zu deinem Schlamassel. Danach dürften nicht nur die Angstzustände verschwinden, sondern auch der ganze restliche Zirkus: Kinder, Affen, die sieben Zwerge, diese ganze Menagerie in deinem Kopf . . ."
Der Kopf, von dem die Rede ist, tickt nicht mehr richtig. Die Lebensuhr läuft weiter, während er sich einrenken will, und jeder Versuch, sich bei sich selbst und auf der Welt zurechtzufinden, ist ein aussichtsloses Spiel gegen die Zeit. Der Sinn des Ganzen wie aller Kleinigkeiten darin zerrinnt dem Menschen, um den es geht, zwischen den Fingern, und das verschliffene Züngeln der Sprache stört die Konzentration: "Schlüssel", "Schlamassel", man hört die klitzekleinen Ketten rasselzischen, aus denen der Verstand sich befreien will - vergebens. Der Ich-Erzähler von Christian Y. Schmidts Roman "Der letzte Huelsenbeck" ist annähernd alt, soll heißen: Etwa sechs Jahrzehnte hat er mitgemacht, immer unwillig, sich einem vorgezeichneten Weg anzubequemen. Gerade aus Fernost in sein westdeutsches Herkunftskaff zurückgekehrt, nimmt er Teil an der Beerdigung eines etwa gleichaltrigen Mannes, der vor mehreren Dekaden zu einer Gruppe junger Leute gehörte, die sich, angeregt vom Ich-Erzähler, so etwas wie eine Parolen- und Aktionsreligion um die wiederum ein paar Menschenalter weiter zurückliegende Antikunstbewegung des Dadaismus gebaut hatten. Zu Ehren eines der Protagonisten jener Bewegung nannten sie sich "die Huelsenbecks".
Der Originaldadaismus hatte seinerzeit vor lauter Genie keine Lust gehabt, Kunst zu erzeugen; die Dadaisten (und die bis heute zu selten genannten und gekannten Dadaistinnen, etwa Hannah Höch und Sophie Taeuber-Arp) sahen die Kunst nicht nur ihrer Gegenwart nämlich als Medienvehikel für den Transport der Abgeschmacktheiten feudaler bis bürgerlicher Lebens- und Staatsfrömmigkeit; ein Mitläuferlaster, das man der Menschheit abgewöhnen musste. So zwängten sie ihre Leiber in Papprollen und quakten Quatsch, liefen quer über Straßen, die es nicht gab, zerschnitten Zeitungen und Kataloge, klebten alles falsch zusammen und schrieben wahnsinnig gute Sachen - Beweisstück 1 (Hans Arp): "Der Vater hat sich erhängt / dort wo die Wanduhr hing. / Die Mutter ist stumm. / Die Tochter ist stumm. Der Sohn ist stumm. / Alle drei verfolgen / das Ticktack des Vaters." Beweisstück 2 (Tristan Tzara): "Unbeschreibliche Milde. Die Augen von Jugend zu Jugend immer schärfer."
Der Unheld Daniel S., den uns Schmidts Buch vorstellt, gehörte in der Vorvergangenheit des Textes zu einer Jugend, die sich von solchen Sätzen dazu ermutigen ließ, das Sichdreinfinden, für das Biographieschablonen unser Menschendasein halten, mit Trotz und Witzen zurückzuweisen. Aber schon bei den Dadaisten (und den bis heute unfair vernachlässigten Dadaistinnen, etwa Beatrice Wood und Emmy Hennings) hatten sich Trotz und Witze nicht gelohnt: Sie mussten sich irgendwann enttäuscht eingestehen, dass das Ergebnis eben doch nur wieder Kunst geworden war. So wandten sie sich dem Surrealismus (also einem Dadaismus, der sich mit dem eigenen Kunstcharakter abfindet), der Psychoanalyse oder der Politik zu. Schmidts Roman ist auch Kunst; Pech gehabt.
Dass es dem Autor selbst manchmal geht wie jener Figur im Roman, die bei der Konfrontation mit irgendwelchen Idioten Anlass zur wehmütigen Reflexion gibt: "Früher hätte er solchen Typen gleich ins Gesicht gespuckt", legt der Text nahe, aber das sind Privatangelegenheiten. Nach der Beerdigung des ehemaligen Weggefährten kullert bei Schmidts Stimme Daniel S. die Denkmurmel auf erratischen Bahnen. Irgendwelche (auto-)biographischen Hintergründe mag auch das haben, aber Schmidt teilt in einem Anhang mit der allen Fragen nach der Wirklichkeit hinter der Wahrheit der Literatur angemessenen Lustlosigkeit wohltuenderweise sehr knapp mit, dass man jedenfalls nichts wörtlich nehmen und platt für sein persönliches "So war das damals" halten dürfe. Von Belang ist an der mutmaßlichen Zeitgeschichtserdung des Romans ohnehin nur die Tatsache, dass nicht allein in Schmidts Alterssegment und unter denen, die sein Bielefelder Sozialisationsgehege geteilt haben, die allermeisten der Selbstanpassung an doofe und unsinnige Normen schlechter entronnen sein dürften als der Romancier. Aus jungen Post- und Meta-Dadamenschen wurden Werbetrottel, grüne Bundestagsabgeordnete, Kinderpsychologinnen oder Buchbesprecher, mehr oder weniger korrupt, kaputt und sanft gemeingefährlich wie alle anderen, die früher als sie ihren Frieden mit dem normalen Mist gemacht hatten.
Der tatsächliche Christian Y. Schmidt (Jesus, dieser lustige Mittelinitialspaß ist aber auch zum Mäusemelken!) hat sich schon vor dem Glanzstück, das dieser Roman nun geworden ist, mehr als ordentlich geschlagen: Eine Weile ließ er sich unter anderem für "Titanic" als gefälschter Skinhead fotografieren, weil die Haupthaare früh genug futsch waren, dann schrieb er allerlei Artikelartiges und Bücher eher journalistisch-essayistischen Zuschnitts über China, Joschka Fischer und was weiß ich. In diesen stehen allerdings auch schon tolle Sätze, an denen man ablesen konnte, dass die Kunst den Autor rief, und die oft bereits davon handelten, dass der Wandel, den Leute durchmachen, die jungrebellisch sind und dann Schlimmeres werden als verrückt, zu den ekligsten Zivilisationsproblemen der Neuzeit zählt.
Im Fischer-Buch zitiert Schmidt den weltberühmten deutschen Außenminister einmal mit der Behauptung, er wäre als Taxifahrer vom Linksradikalen zum Realisten geworden, weil sich ihm dort gezeigt hätte, unter wie viel Druck der Durchschnittsfahrgast stünde, jeder "eine tickende Zeitbombe". Schmidt kommentiert ebenso lakonisch wie human polemisch: "Vielleicht hätte er einfach mal die Taxiuhr abstellen sollen, dann hätt's schon aufgehört mit dem Ticken."
Gegen Ende von "Der letzte Huelsenbeck", kurz bevor alles erklärt (und nichts billig aufgelöst) wird, steht eine kunstvoll konfus schöne Stelle darüber, wie sehr jede Erinnerung die konkrete Erfahrung verrät, von der sie handelt, und wie unvermeidlich jedes Festhaltenwollen des Gewesenen als Erkenntnis eines Totalverlusts von allem Wichtigen enden muss, das uns Sterbliche ausmacht, Moment für Moment, Mensch um Mensch, ticktack: "Aus Claires Zügen wurden die von Marion, aus Marions die von Dr. Gulistan, aus Gulistans Brigittes, aus Brigittes Sandys, aus Sandys Heikes, das blond gelockte Mädchen, mit dem ich mich zum ersten Mal geküsst hatte, damals auf der Wiese über der Stadt. Immer schneller wechselten die Gesichter. Bald waren es nicht mehr nur Frauen, mit denen ich längere Zeit zusammen gewesen war. Auch die Flirts sah ich, die One-Night-Stands, die platonischen Beziehungen und selbst die, mit denen ich nur einen flüchtigen Blick auf der Straße getauscht hatte. Die Gesichter wechselten so schnell, dass die Züge bald nicht mehr zu unterscheiden waren. Ein Allgesicht."
Genau so ist das: "mit der ich mich geküsst hatte", denn wer Gewesenes bei sich erinnert, ist notwendig allein, küsst sich selbst durch Schemen anderer hindurch, nicht mehr diese, nie mehr, vorbei. Der einzig mögliche Trost sind Scherze, aber ohne Unschuld: "Die ganze Kindheit hatte es geregnet." Drehen Sie diesen Satz in mehrere Richtungen, spielen Sie damit ("Es hat die Kindheit geregnet" zum Beispiel), dann werden Sie staunen, was er alles kann. Schmidts tolles Buch ist eine Neuigkeit, die von einer alten, sehr guten Idee spricht: Erzähldichtung ohne Getue.
DIETMAR DATH
Christian Y. Schmidt:
"Der letzte Huelsenbeck". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2018. 400 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Abgekämpft fühlt sich Rezensent Frank Schäfer nach der Lektüre von Christian Y. Schmidts Wahnsinns-Roman, wie nach einem Action-Film, wo einen die Special Effekte durch die Handlung peitschen. Den filmischen Effekten, lesen wir, entsprechen im Roman des Ex-Titanic-Autors zahlreiche unerwartete, nicht immer logische Plotwendungen, Trugschlüsse, erzählerische Sackgassen, Verwirr-Manöver und jede Menge Sprachwitz und Situationskomik, die dem psychotischen Geist des Erzählers entsprungen sind. Auf diesem irrsinnig verschlungenen Erzählfluss schippert Schmidt mit seinem Kahn namens "Huelsenbeck", unterläuft dabei jegliche Erwartungen an Logik und Struktur und umschifft mit Hilfe frischer Dialoge und gutem Sprachgefühl die Klippen der Willkür und Ermüdung, schließt der Rezensent, der sich von diesem rauschhaften "Rankenwerk der Imagination" dennoch gut unterhalten gefühlt hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Christian Y. Schmidt zündet ein Feuerwerk von skurrilen Einfällen und surrealistischen Bildern ... Eines der amüsantesten Bücher dieses Jahres, mit originellen Einfällen, überraschenden Wendungen, rasant erzählt, und mit einem verblüffenden Ende." RBB Kulturradio 20181110