Giuliano reist durch das zerstörte Nachkriegseuropa auf der Suche nach seiner Vergangenheit - und nach seiner Zukunft
Italien in den 1950er-Jahren: Giuliano erlebt und beobachtet in Rom und Neapel das totale Chaos aller Institutionen, die Kämpfe zwischen Royalisten und Kommunisten und die beginnende Modernisierung. Er muss sich entscheiden: Will er noch einmal teilnehmen, teilhaben an den Umbrüchen und Entwicklungen? Welche Aufgabe hat ihm das Schicksal zugedacht? Eine Reise in das kriegszerstörte London, eine junge Frau - vielleicht seine Tochter - und ein kleines Mädchen in einem süditalienischen Dorf bringen ihn unvermutet weiter auf seiner Suche.
Der letzte Sansevero erzählt vom Ende einer einzigartigen Reise zu sich selbst - und beschließt Giovenes großes Gesellschaftspanorama, das ein halbes Jahrhundert Italien umfasst.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Italien in den 1950er-Jahren: Giuliano erlebt und beobachtet in Rom und Neapel das totale Chaos aller Institutionen, die Kämpfe zwischen Royalisten und Kommunisten und die beginnende Modernisierung. Er muss sich entscheiden: Will er noch einmal teilnehmen, teilhaben an den Umbrüchen und Entwicklungen? Welche Aufgabe hat ihm das Schicksal zugedacht? Eine Reise in das kriegszerstörte London, eine junge Frau - vielleicht seine Tochter - und ein kleines Mädchen in einem süditalienischen Dorf bringen ihn unvermutet weiter auf seiner Suche.
Der letzte Sansevero erzählt vom Ende einer einzigartigen Reise zu sich selbst - und beschließt Giovenes großes Gesellschaftspanorama, das ein halbes Jahrhundert Italien umfasst.
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Anmerkungen
eines Adligen
Andrea Giovene hat in fünf
prunkvollen Romanen ein einzigartiges
Epochenbild gezeichnet – und wurde
zu Lebzeiten beharrlich ignoriert. Jetzt endlich
ist die deutsche Übersetzung seines
monumentalen Werkes abgeschlossen.
VON MAIKE ALBATH
Irgendwann Ende der Sechzigerjahre muss Andrea Giovene den Füller aus der Hand gelegt, den Manuskriptstapel seiner Sekretärin übergeben und tief durchgeatmet haben. Es war vollbracht: Knapp 2000 Seiten autobiografischer Selbsterkundung lagen hinter ihm, er hatte die gesamte erste Jahrhunderthälfte schreibend durchschritten und den Lebensfaden seines Helden Giuliano di Sansevero in fünf Bänden aufgerollt.
Sansevero ist eine Art stilisiertes Spiegelbild, dem Giovene, den frühen Tod mit nur 53 Jahren einmal ausgenommen, seine eigenen Erfahrungen als letzter Nachkomme eines hochadligen neapolitanischen Geschlechts umlegt wie einen samtenen Gehrock. In den ersten beiden Teilen, die vor zwei Jahren beim Galiani Verlag erstmals auf Deutsch erschienen, ging es um Kindheit, Jugend, frühes Erwachsenenalter und erste Schritte zur Reife.
Nach dem 1. Weltkrieg überwand der müßiggängerische junge Mann seine Passivität und ließ sich zum Offizier der italienischen Armee ausbilden. Gegenstand des dritten Bandes war der Versuch, auf dem Anwesen eines Onkels in Kalabrien inmitten einer Dorfgemeinschaft eine selbstgenügsame Existenz zu führen. Das vermeintliche Arkadien wurde durch den Bau einer Straße zerstört, außerdem erreichte Giuliano die Einberufung. Mussolini und dem faschistischen Regime stand er zwar von Anfang an ablehnend gegenüber, aber als Militärangehöriger fühlt er sich zur Loyalität verpflichtet.
Der vierte, jetzt vorliegende Band „Fremde Mächte“ erzählt von den Wechselfällen während des Zweiten Weltkriegs: Stationierungen in Frankreich und Griechenland, Gefangenschaft und Zwangsarbeit in Deutschland und schließlich die Rückkehr nach Italien. Davon handelt schließlich der fünfte, ebenfalls in diesem Herbst veröffentlichte Band „Der letzte Sansevero“: Giuliano schildert die chaotischen Verhältnisse im geschundenen Nachkriegsitalien.
Genießen kann das detailgesättigte, mitunter prunkvolle und in ausschweifenden Satzgirlanden dargebotene Historienpanorama nur, wer alle Teile nacheinander liest. Dann gewinnt man Freude an dem gemächlichen, altväterlichen und von Moshe Kahn glänzend nachgeahmtem Rhythmus der Betrachtungen, die manchmal eine untergründige Ironie entfalten, manchmal von einem tiefen Fatalismus durchdrungen sind.
Giovenes Held und Ich-Erzähler ist ein Stoiker. Er besitzt eine eiserne Disziplin und eine große innere Unabhängigkeit, erlernt bei den Benediktinermönchen auf dem Giglio bei Caserta, wo er zur Schule ging. Sansevero neigt nicht zum Konformismus, und als die italienischen Streitkräfte nach Griechenland beordert werden, bemüht er sich nicht wie viele andere um Freistellung, sondern folgt dem Befehl. Auf der Peloponnes handelt er dann nach seinem eigenen Ermessen und erlangt sogar den Respekt der Bevölkerung.
Ebenso wenig wäre ihm in den Sinn gekommen, sich nach Italiens Waffenstillstandserklärung 1943 der Gefangennahme durch die Deutschen zu entziehen. Zu den eindringlichsten Passagen des vierten Bandes „Fremde Mächte“ gehören die Schilderungen des Lagers in Soltau, wo die italienischen Soldaten unter elenden Bedingungen dahinvegetieren. Durch die strenge Klostererziehung an Entbehrungen gewöhnt, findet Sansevero bei seinen Tagebuchaufzeichnungen Trost.
Ihn stützen ähnlich disziplinierte Mitgefangene: Einer strukturiert seinen Tag durch Gebete, der andere bewahrt seine Würde durch systematisches Abbürsten seiner geflickten Jacke und die sorgfältige Instandhaltung sämtlicher Kleidungsstücke. Außer den – ebenfalls sehr eindrücklichen – Journalen der Schriftsteller Carlo Emilio Gadda und Bonaventura Tecchi, die unter dem Titel „Die Baracke der Dichter. Italienische Kriegsgefangene im Celle-Lager“ (2014) ebenfalls auf Deutsch vorliegen, existiert nichts Vergleichbares. Nach einigen Wochen entscheidet sich Giuliano di Sansevero zur Zwangsarbeit und kommt in ein Sägewerk, wo er die Bombardierungen durch die Engländer erlebt, bis er sich in Richtung Berlin durchschlägt und hier die dramatische Schlussphase des Krieges übersteht. Die Verheerungen sind maßlos.
Im fünften Band – der Held ist inzwischen 42 Jahre alt - überzeugen die anschaulichen Beschreibungen des vom Krieg zerstörten Neapel, wo sich im Handumdrehen mafiös-camorristische Machtstrukturen etablieren. Giuliano di Sansevero ist als Journalist Teil des immer neu zu kalibrierenden Gefüges: Er durchschaut sofort, wer mit wem aus welchen Gründen paktiert und liefert ein Lehrbeispiel für die gesellschaftlichen Mechanismen Süditaliens. „Der letzte Sansevero“ hat gewisse Längen, die erst wieder verfliegen, als Frauen ins Spiel kommen. Allerdings verhält es sich hier so, wie in allen anderen Teilen der Autobiografie auch: In der Liebe hat Giuliano kein Glück. Entweder ereilt seine angebeteten Geschöpfe der Tod oder sie sind anderweitig gebunden oder noch längst nicht erwachsen. In London fahndet er nach der Tochter seiner verstorbenen Geliebten Mavì, deren Vater er möglicherweise ist.
Die Szenen, wie er sich unter falschem Namen in einer bescheidenen Bleibe einmietet, zum Zeitvertreib Antiquitäten erwirbt, eine Seemannskneipe frequentiert und mithilfe von Detektiven und des Barmanns schließlich die hinreißende Penny ausfindig macht, besitzen ein starkes Zeitkolorit. Wieder einmal wird Giuliano di Sansevero seine eigentümliche emotionale Abstinenz zum Verhängnis: Er kann Penny seine Vaterschaft nicht gestehen und ergreift nach einem Anflug von Verliebtheit die Flucht. Da ist es nur folgerichtig, dass er kurz vor seinem Tod in der sizilianischen Einöde noch eine letzte Mission absolviert und einer anderen jungen Frau zu einer Zukunft verhilft. Giovenes Frauenbild ist dem 19. Jahrhundert verhaftet, aber insgesamt handelt es sich bei seiner „Autobiographie des Giuliano di Sansevero“, wie die deutsche Ausgabe überschrieben ist, um ein vor allem aus zeit- und kulturgeschichtlichen Gründen fesselndes Werk. Dass der Galiani Verlag sich überhaupt an dieses Unterfangen gewagt hat, kann man nicht genug loben. Der hochgebildete Verfasser knüpft an die klassischen Werke der Memoirenliteratur von Giambattista Vico bis zu Casanova an.
Ein genuiner Romancier ist er nicht, und der Snobismus, den der Ich-Erzähler gegenüber dem Literaturbetrieb pflegt, verrät die gekränkte Eitelkeit des Autors. Die Rezeption seiner „Autobiographie“ stellt nämlich mediengeschichtlich eine Kuriosität dar. Weil Giovene, der immer wieder journalistisch arbeitete, 1966 keinen Verlag fand, veröffentlichte er den zweiten Band seiner Reihe in 999 Exemplaren auf eigene Kosten und sandte das Buch an die einschlägigen Repräsentanten des Literaturbetriebs.
Was folgte, war dröhnendes Schweigen allerorten, aber der Band kam einem umtriebigen Schwedisch-Dozenten von der Universität Neapel in die Finger, ausgerechnet ein Finne. Dieser Edvard Gummerus setzte alle Hebel in Bewegung und tat das, was ihm die größte Aufmerksamkeit versprach: Er schlug Giovene für den Nobelpreis vor. Dies konnte der Korrespondent der schwedischen Wochenzeitung „Expressen“ nicht auf sich sitzen lassen: Er reiste nach Neapel, um den unbekannten Schriftsteller kennenzulernen und veröffentlichte am 7. Juli 1966 einen Artikel mit der reißerischen Überschrift: „Don Andrea: Eine literarische Entdeckung von Weltrang?“
Es kam zu Lizenzverträgen und rasch auch zur Veröffentlichung in Italien, ebenfalls mit beachtlicher Resonanz. Hier focht man allerdings auch einen Kampf zwischen der tonangebenden Neoavantgarde und dem traditionsverhafteten Erzählen aus, der Giovene eher schadete. So kometenhaft sein Aufstieg war, so rasch verglühte sein Stern. Sein sehr eigener Blick, sein individuelles Schicksal in einem zerberstenden Europa kam 2012 noch einmal in dem kleinen römischen Verlag Eliott heraus, fand aber keine größere Beachtung. Immerhin, eine kleine deutsche Renaissance ist ihm jetzt beschieden.
In einem Lager in Soltau
vegetieren italienische
Soldaten vor sich hin
„Don Andrea: Eine
literarische Entdeckung
von Weltrang?“
Andrea Giovene:
Die Autobiographie
des Giuliano di Sansevero. Der letzte Sansevero.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn.
Galiani Verlag, Berlin 2023. 336 Seiten, 26 Euro.
Andrea Giovene: Die
Autobiographie des
Giuliano di Sansevero. Fremde Mächte. Roman. Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn.
Galiani Verlag,Berlin 2023. 334 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
eines Adligen
Andrea Giovene hat in fünf
prunkvollen Romanen ein einzigartiges
Epochenbild gezeichnet – und wurde
zu Lebzeiten beharrlich ignoriert. Jetzt endlich
ist die deutsche Übersetzung seines
monumentalen Werkes abgeschlossen.
VON MAIKE ALBATH
Irgendwann Ende der Sechzigerjahre muss Andrea Giovene den Füller aus der Hand gelegt, den Manuskriptstapel seiner Sekretärin übergeben und tief durchgeatmet haben. Es war vollbracht: Knapp 2000 Seiten autobiografischer Selbsterkundung lagen hinter ihm, er hatte die gesamte erste Jahrhunderthälfte schreibend durchschritten und den Lebensfaden seines Helden Giuliano di Sansevero in fünf Bänden aufgerollt.
Sansevero ist eine Art stilisiertes Spiegelbild, dem Giovene, den frühen Tod mit nur 53 Jahren einmal ausgenommen, seine eigenen Erfahrungen als letzter Nachkomme eines hochadligen neapolitanischen Geschlechts umlegt wie einen samtenen Gehrock. In den ersten beiden Teilen, die vor zwei Jahren beim Galiani Verlag erstmals auf Deutsch erschienen, ging es um Kindheit, Jugend, frühes Erwachsenenalter und erste Schritte zur Reife.
Nach dem 1. Weltkrieg überwand der müßiggängerische junge Mann seine Passivität und ließ sich zum Offizier der italienischen Armee ausbilden. Gegenstand des dritten Bandes war der Versuch, auf dem Anwesen eines Onkels in Kalabrien inmitten einer Dorfgemeinschaft eine selbstgenügsame Existenz zu führen. Das vermeintliche Arkadien wurde durch den Bau einer Straße zerstört, außerdem erreichte Giuliano die Einberufung. Mussolini und dem faschistischen Regime stand er zwar von Anfang an ablehnend gegenüber, aber als Militärangehöriger fühlt er sich zur Loyalität verpflichtet.
Der vierte, jetzt vorliegende Band „Fremde Mächte“ erzählt von den Wechselfällen während des Zweiten Weltkriegs: Stationierungen in Frankreich und Griechenland, Gefangenschaft und Zwangsarbeit in Deutschland und schließlich die Rückkehr nach Italien. Davon handelt schließlich der fünfte, ebenfalls in diesem Herbst veröffentlichte Band „Der letzte Sansevero“: Giuliano schildert die chaotischen Verhältnisse im geschundenen Nachkriegsitalien.
Genießen kann das detailgesättigte, mitunter prunkvolle und in ausschweifenden Satzgirlanden dargebotene Historienpanorama nur, wer alle Teile nacheinander liest. Dann gewinnt man Freude an dem gemächlichen, altväterlichen und von Moshe Kahn glänzend nachgeahmtem Rhythmus der Betrachtungen, die manchmal eine untergründige Ironie entfalten, manchmal von einem tiefen Fatalismus durchdrungen sind.
Giovenes Held und Ich-Erzähler ist ein Stoiker. Er besitzt eine eiserne Disziplin und eine große innere Unabhängigkeit, erlernt bei den Benediktinermönchen auf dem Giglio bei Caserta, wo er zur Schule ging. Sansevero neigt nicht zum Konformismus, und als die italienischen Streitkräfte nach Griechenland beordert werden, bemüht er sich nicht wie viele andere um Freistellung, sondern folgt dem Befehl. Auf der Peloponnes handelt er dann nach seinem eigenen Ermessen und erlangt sogar den Respekt der Bevölkerung.
Ebenso wenig wäre ihm in den Sinn gekommen, sich nach Italiens Waffenstillstandserklärung 1943 der Gefangennahme durch die Deutschen zu entziehen. Zu den eindringlichsten Passagen des vierten Bandes „Fremde Mächte“ gehören die Schilderungen des Lagers in Soltau, wo die italienischen Soldaten unter elenden Bedingungen dahinvegetieren. Durch die strenge Klostererziehung an Entbehrungen gewöhnt, findet Sansevero bei seinen Tagebuchaufzeichnungen Trost.
Ihn stützen ähnlich disziplinierte Mitgefangene: Einer strukturiert seinen Tag durch Gebete, der andere bewahrt seine Würde durch systematisches Abbürsten seiner geflickten Jacke und die sorgfältige Instandhaltung sämtlicher Kleidungsstücke. Außer den – ebenfalls sehr eindrücklichen – Journalen der Schriftsteller Carlo Emilio Gadda und Bonaventura Tecchi, die unter dem Titel „Die Baracke der Dichter. Italienische Kriegsgefangene im Celle-Lager“ (2014) ebenfalls auf Deutsch vorliegen, existiert nichts Vergleichbares. Nach einigen Wochen entscheidet sich Giuliano di Sansevero zur Zwangsarbeit und kommt in ein Sägewerk, wo er die Bombardierungen durch die Engländer erlebt, bis er sich in Richtung Berlin durchschlägt und hier die dramatische Schlussphase des Krieges übersteht. Die Verheerungen sind maßlos.
Im fünften Band – der Held ist inzwischen 42 Jahre alt - überzeugen die anschaulichen Beschreibungen des vom Krieg zerstörten Neapel, wo sich im Handumdrehen mafiös-camorristische Machtstrukturen etablieren. Giuliano di Sansevero ist als Journalist Teil des immer neu zu kalibrierenden Gefüges: Er durchschaut sofort, wer mit wem aus welchen Gründen paktiert und liefert ein Lehrbeispiel für die gesellschaftlichen Mechanismen Süditaliens. „Der letzte Sansevero“ hat gewisse Längen, die erst wieder verfliegen, als Frauen ins Spiel kommen. Allerdings verhält es sich hier so, wie in allen anderen Teilen der Autobiografie auch: In der Liebe hat Giuliano kein Glück. Entweder ereilt seine angebeteten Geschöpfe der Tod oder sie sind anderweitig gebunden oder noch längst nicht erwachsen. In London fahndet er nach der Tochter seiner verstorbenen Geliebten Mavì, deren Vater er möglicherweise ist.
Die Szenen, wie er sich unter falschem Namen in einer bescheidenen Bleibe einmietet, zum Zeitvertreib Antiquitäten erwirbt, eine Seemannskneipe frequentiert und mithilfe von Detektiven und des Barmanns schließlich die hinreißende Penny ausfindig macht, besitzen ein starkes Zeitkolorit. Wieder einmal wird Giuliano di Sansevero seine eigentümliche emotionale Abstinenz zum Verhängnis: Er kann Penny seine Vaterschaft nicht gestehen und ergreift nach einem Anflug von Verliebtheit die Flucht. Da ist es nur folgerichtig, dass er kurz vor seinem Tod in der sizilianischen Einöde noch eine letzte Mission absolviert und einer anderen jungen Frau zu einer Zukunft verhilft. Giovenes Frauenbild ist dem 19. Jahrhundert verhaftet, aber insgesamt handelt es sich bei seiner „Autobiographie des Giuliano di Sansevero“, wie die deutsche Ausgabe überschrieben ist, um ein vor allem aus zeit- und kulturgeschichtlichen Gründen fesselndes Werk. Dass der Galiani Verlag sich überhaupt an dieses Unterfangen gewagt hat, kann man nicht genug loben. Der hochgebildete Verfasser knüpft an die klassischen Werke der Memoirenliteratur von Giambattista Vico bis zu Casanova an.
Ein genuiner Romancier ist er nicht, und der Snobismus, den der Ich-Erzähler gegenüber dem Literaturbetrieb pflegt, verrät die gekränkte Eitelkeit des Autors. Die Rezeption seiner „Autobiographie“ stellt nämlich mediengeschichtlich eine Kuriosität dar. Weil Giovene, der immer wieder journalistisch arbeitete, 1966 keinen Verlag fand, veröffentlichte er den zweiten Band seiner Reihe in 999 Exemplaren auf eigene Kosten und sandte das Buch an die einschlägigen Repräsentanten des Literaturbetriebs.
Was folgte, war dröhnendes Schweigen allerorten, aber der Band kam einem umtriebigen Schwedisch-Dozenten von der Universität Neapel in die Finger, ausgerechnet ein Finne. Dieser Edvard Gummerus setzte alle Hebel in Bewegung und tat das, was ihm die größte Aufmerksamkeit versprach: Er schlug Giovene für den Nobelpreis vor. Dies konnte der Korrespondent der schwedischen Wochenzeitung „Expressen“ nicht auf sich sitzen lassen: Er reiste nach Neapel, um den unbekannten Schriftsteller kennenzulernen und veröffentlichte am 7. Juli 1966 einen Artikel mit der reißerischen Überschrift: „Don Andrea: Eine literarische Entdeckung von Weltrang?“
Es kam zu Lizenzverträgen und rasch auch zur Veröffentlichung in Italien, ebenfalls mit beachtlicher Resonanz. Hier focht man allerdings auch einen Kampf zwischen der tonangebenden Neoavantgarde und dem traditionsverhafteten Erzählen aus, der Giovene eher schadete. So kometenhaft sein Aufstieg war, so rasch verglühte sein Stern. Sein sehr eigener Blick, sein individuelles Schicksal in einem zerberstenden Europa kam 2012 noch einmal in dem kleinen römischen Verlag Eliott heraus, fand aber keine größere Beachtung. Immerhin, eine kleine deutsche Renaissance ist ihm jetzt beschieden.
In einem Lager in Soltau
vegetieren italienische
Soldaten vor sich hin
„Don Andrea: Eine
literarische Entdeckung
von Weltrang?“
Andrea Giovene:
Die Autobiographie
des Giuliano di Sansevero. Der letzte Sansevero.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn.
Galiani Verlag, Berlin 2023. 336 Seiten, 26 Euro.
Andrea Giovene: Die
Autobiographie des
Giuliano di Sansevero. Fremde Mächte. Roman. Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn.
Galiani Verlag,Berlin 2023. 334 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Wolfgang Schneider widmet sich Andrea Giovenes fünfbändigem Romanzyklus über den neapolitanischen Spross Giuliano di Sansevero in Moshe Kahns Übersetzung. Die einzelnen Bände unterscheiden sich laut Rezensent durchaus in der Qualität. So besticht etwa der vierte Band mit seinen dokumentarischen Passagen über den Zweiten Weltkrieg und den italienischen Faschismus, während der Nachkriegsband für Schneider Schwächen zeigt. Eher schwach findet er Giovenes Neigung zum Räsonnement, stark hingegen die Beschreibungen einfacher italienischer Lebenswelten der 30er Jahre im dritten Band. Laut Schneider muss man die Bände nicht chronologisch lesen. Jeder für sich bietet "erfahrungssatte" Geschichten, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein vor allem aus zeit- und kulturgeschichtlichen Gründen fesselndes Werk. Dass der Galiani Verlag sich überhaupt an dieses Unterfangen gewagt hat, kann man nicht genug loben. Der hochgebildete Verfasser knüpft an die klassischen Werke der Memoirenliteratur von Giambattista Vico bis zu Casanova an. Maike Albath Süddeutsche Zeitung 20240101
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.01.2024Anmerkungen
eines Adligen
Andrea Giovene hat in fünf
prunkvollen Romanen ein einzigartiges
Epochenbild gezeichnet – und wurde
zu Lebzeiten beharrlich ignoriert. Jetzt endlich
ist die deutsche Übersetzung seines
monumentalen Werkes abgeschlossen.
VON MAIKE ALBATH
Irgendwann Ende der Sechzigerjahre muss Andrea Giovene den Füller aus der Hand gelegt, den Manuskriptstapel seiner Sekretärin übergeben und tief durchgeatmet haben. Es war vollbracht: Knapp 2000 Seiten autobiografischer Selbsterkundung lagen hinter ihm, er hatte die gesamte erste Jahrhunderthälfte schreibend durchschritten und den Lebensfaden seines Helden Giuliano di Sansevero in fünf Bänden aufgerollt.
Sansevero ist eine Art stilisiertes Spiegelbild, dem Giovene, den frühen Tod mit nur 53 Jahren einmal ausgenommen, seine eigenen Erfahrungen als letzter Nachkomme eines hochadligen neapolitanischen Geschlechts umlegt wie einen samtenen Gehrock. In den ersten beiden Teilen, die vor zwei Jahren beim Galiani Verlag erstmals auf Deutsch erschienen, ging es um Kindheit, Jugend, frühes Erwachsenenalter und erste Schritte zur Reife.
Nach dem 1. Weltkrieg überwand der müßiggängerische junge Mann seine Passivität und ließ sich zum Offizier der italienischen Armee ausbilden. Gegenstand des dritten Bandes war der Versuch, auf dem Anwesen eines Onkels in Kalabrien inmitten einer Dorfgemeinschaft eine selbstgenügsame Existenz zu führen. Das vermeintliche Arkadien wurde durch den Bau einer Straße zerstört, außerdem erreichte Giuliano die Einberufung. Mussolini und dem faschistischen Regime stand er zwar von Anfang an ablehnend gegenüber, aber als Militärangehöriger fühlt er sich zur Loyalität verpflichtet.
Der vierte, jetzt vorliegende Band „Fremde Mächte“ erzählt von den Wechselfällen während des Zweiten Weltkriegs: Stationierungen in Frankreich und Griechenland, Gefangenschaft und Zwangsarbeit in Deutschland und schließlich die Rückkehr nach Italien. Davon handelt schließlich der fünfte, ebenfalls in diesem Herbst veröffentlichte Band „Der letzte Sansevero“: Giuliano schildert die chaotischen Verhältnisse im geschundenen Nachkriegsitalien.
Genießen kann das detailgesättigte, mitunter prunkvolle und in ausschweifenden Satzgirlanden dargebotene Historienpanorama nur, wer alle Teile nacheinander liest. Dann gewinnt man Freude an dem gemächlichen, altväterlichen und von Moshe Kahn glänzend nachgeahmtem Rhythmus der Betrachtungen, die manchmal eine untergründige Ironie entfalten, manchmal von einem tiefen Fatalismus durchdrungen sind.
Giovenes Held und Ich-Erzähler ist ein Stoiker. Er besitzt eine eiserne Disziplin und eine große innere Unabhängigkeit, erlernt bei den Benediktinermönchen auf dem Giglio bei Caserta, wo er zur Schule ging. Sansevero neigt nicht zum Konformismus, und als die italienischen Streitkräfte nach Griechenland beordert werden, bemüht er sich nicht wie viele andere um Freistellung, sondern folgt dem Befehl. Auf der Peloponnes handelt er dann nach seinem eigenen Ermessen und erlangt sogar den Respekt der Bevölkerung.
Ebenso wenig wäre ihm in den Sinn gekommen, sich nach Italiens Waffenstillstandserklärung 1943 der Gefangennahme durch die Deutschen zu entziehen. Zu den eindringlichsten Passagen des vierten Bandes „Fremde Mächte“ gehören die Schilderungen des Lagers in Soltau, wo die italienischen Soldaten unter elenden Bedingungen dahinvegetieren. Durch die strenge Klostererziehung an Entbehrungen gewöhnt, findet Sansevero bei seinen Tagebuchaufzeichnungen Trost.
Ihn stützen ähnlich disziplinierte Mitgefangene: Einer strukturiert seinen Tag durch Gebete, der andere bewahrt seine Würde durch systematisches Abbürsten seiner geflickten Jacke und die sorgfältige Instandhaltung sämtlicher Kleidungsstücke. Außer den – ebenfalls sehr eindrücklichen – Journalen der Schriftsteller Carlo Emilio Gadda und Bonaventura Tecchi, die unter dem Titel „Die Baracke der Dichter. Italienische Kriegsgefangene im Celle-Lager“ (2014) ebenfalls auf Deutsch vorliegen, existiert nichts Vergleichbares. Nach einigen Wochen entscheidet sich Giuliano di Sansevero zur Zwangsarbeit und kommt in ein Sägewerk, wo er die Bombardierungen durch die Engländer erlebt, bis er sich in Richtung Berlin durchschlägt und hier die dramatische Schlussphase des Krieges übersteht. Die Verheerungen sind maßlos.
Im fünften Band – der Held ist inzwischen 42 Jahre alt - überzeugen die anschaulichen Beschreibungen des vom Krieg zerstörten Neapel, wo sich im Handumdrehen mafiös-camorristische Machtstrukturen etablieren. Giuliano di Sansevero ist als Journalist Teil des immer neu zu kalibrierenden Gefüges: Er durchschaut sofort, wer mit wem aus welchen Gründen paktiert und liefert ein Lehrbeispiel für die gesellschaftlichen Mechanismen Süditaliens. „Der letzte Sansevero“ hat gewisse Längen, die erst wieder verfliegen, als Frauen ins Spiel kommen. Allerdings verhält es sich hier so, wie in allen anderen Teilen der Autobiografie auch: In der Liebe hat Giuliano kein Glück. Entweder ereilt seine angebeteten Geschöpfe der Tod oder sie sind anderweitig gebunden oder noch längst nicht erwachsen. In London fahndet er nach der Tochter seiner verstorbenen Geliebten Mavì, deren Vater er möglicherweise ist.
Die Szenen, wie er sich unter falschem Namen in einer bescheidenen Bleibe einmietet, zum Zeitvertreib Antiquitäten erwirbt, eine Seemannskneipe frequentiert und mithilfe von Detektiven und des Barmanns schließlich die hinreißende Penny ausfindig macht, besitzen ein starkes Zeitkolorit. Wieder einmal wird Giuliano di Sansevero seine eigentümliche emotionale Abstinenz zum Verhängnis: Er kann Penny seine Vaterschaft nicht gestehen und ergreift nach einem Anflug von Verliebtheit die Flucht. Da ist es nur folgerichtig, dass er kurz vor seinem Tod in der sizilianischen Einöde noch eine letzte Mission absolviert und einer anderen jungen Frau zu einer Zukunft verhilft. Giovenes Frauenbild ist dem 19. Jahrhundert verhaftet, aber insgesamt handelt es sich bei seiner „Autobiographie des Giuliano di Sansevero“, wie die deutsche Ausgabe überschrieben ist, um ein vor allem aus zeit- und kulturgeschichtlichen Gründen fesselndes Werk. Dass der Galiani Verlag sich überhaupt an dieses Unterfangen gewagt hat, kann man nicht genug loben. Der hochgebildete Verfasser knüpft an die klassischen Werke der Memoirenliteratur von Giambattista Vico bis zu Casanova an.
Ein genuiner Romancier ist er nicht, und der Snobismus, den der Ich-Erzähler gegenüber dem Literaturbetrieb pflegt, verrät die gekränkte Eitelkeit des Autors. Die Rezeption seiner „Autobiographie“ stellt nämlich mediengeschichtlich eine Kuriosität dar. Weil Giovene, der immer wieder journalistisch arbeitete, 1966 keinen Verlag fand, veröffentlichte er den zweiten Band seiner Reihe in 999 Exemplaren auf eigene Kosten und sandte das Buch an die einschlägigen Repräsentanten des Literaturbetriebs.
Was folgte, war dröhnendes Schweigen allerorten, aber der Band kam einem umtriebigen Schwedisch-Dozenten von der Universität Neapel in die Finger, ausgerechnet ein Finne. Dieser Edvard Gummerus setzte alle Hebel in Bewegung und tat das, was ihm die größte Aufmerksamkeit versprach: Er schlug Giovene für den Nobelpreis vor. Dies konnte der Korrespondent der schwedischen Wochenzeitung „Expressen“ nicht auf sich sitzen lassen: Er reiste nach Neapel, um den unbekannten Schriftsteller kennenzulernen und veröffentlichte am 7. Juli 1966 einen Artikel mit der reißerischen Überschrift: „Don Andrea: Eine literarische Entdeckung von Weltrang?“
Es kam zu Lizenzverträgen und rasch auch zur Veröffentlichung in Italien, ebenfalls mit beachtlicher Resonanz. Hier focht man allerdings auch einen Kampf zwischen der tonangebenden Neoavantgarde und dem traditionsverhafteten Erzählen aus, der Giovene eher schadete. So kometenhaft sein Aufstieg war, so rasch verglühte sein Stern. Sein sehr eigener Blick, sein individuelles Schicksal in einem zerberstenden Europa kam 2012 noch einmal in dem kleinen römischen Verlag Eliott heraus, fand aber keine größere Beachtung. Immerhin, eine kleine deutsche Renaissance ist ihm jetzt beschieden.
In einem Lager in Soltau
vegetieren italienische
Soldaten vor sich hin
„Don Andrea: Eine
literarische Entdeckung
von Weltrang?“
Andrea Giovene:
Die Autobiographie
des Giuliano di Sansevero. Der letzte Sansevero.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn.
Galiani Verlag, Berlin 2023. 336 Seiten, 26 Euro.
Andrea Giovene: Die
Autobiographie des
Giuliano di Sansevero. Fremde Mächte. Roman. Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn.
Galiani Verlag,Berlin 2023. 334 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
eines Adligen
Andrea Giovene hat in fünf
prunkvollen Romanen ein einzigartiges
Epochenbild gezeichnet – und wurde
zu Lebzeiten beharrlich ignoriert. Jetzt endlich
ist die deutsche Übersetzung seines
monumentalen Werkes abgeschlossen.
VON MAIKE ALBATH
Irgendwann Ende der Sechzigerjahre muss Andrea Giovene den Füller aus der Hand gelegt, den Manuskriptstapel seiner Sekretärin übergeben und tief durchgeatmet haben. Es war vollbracht: Knapp 2000 Seiten autobiografischer Selbsterkundung lagen hinter ihm, er hatte die gesamte erste Jahrhunderthälfte schreibend durchschritten und den Lebensfaden seines Helden Giuliano di Sansevero in fünf Bänden aufgerollt.
Sansevero ist eine Art stilisiertes Spiegelbild, dem Giovene, den frühen Tod mit nur 53 Jahren einmal ausgenommen, seine eigenen Erfahrungen als letzter Nachkomme eines hochadligen neapolitanischen Geschlechts umlegt wie einen samtenen Gehrock. In den ersten beiden Teilen, die vor zwei Jahren beim Galiani Verlag erstmals auf Deutsch erschienen, ging es um Kindheit, Jugend, frühes Erwachsenenalter und erste Schritte zur Reife.
Nach dem 1. Weltkrieg überwand der müßiggängerische junge Mann seine Passivität und ließ sich zum Offizier der italienischen Armee ausbilden. Gegenstand des dritten Bandes war der Versuch, auf dem Anwesen eines Onkels in Kalabrien inmitten einer Dorfgemeinschaft eine selbstgenügsame Existenz zu führen. Das vermeintliche Arkadien wurde durch den Bau einer Straße zerstört, außerdem erreichte Giuliano die Einberufung. Mussolini und dem faschistischen Regime stand er zwar von Anfang an ablehnend gegenüber, aber als Militärangehöriger fühlt er sich zur Loyalität verpflichtet.
Der vierte, jetzt vorliegende Band „Fremde Mächte“ erzählt von den Wechselfällen während des Zweiten Weltkriegs: Stationierungen in Frankreich und Griechenland, Gefangenschaft und Zwangsarbeit in Deutschland und schließlich die Rückkehr nach Italien. Davon handelt schließlich der fünfte, ebenfalls in diesem Herbst veröffentlichte Band „Der letzte Sansevero“: Giuliano schildert die chaotischen Verhältnisse im geschundenen Nachkriegsitalien.
Genießen kann das detailgesättigte, mitunter prunkvolle und in ausschweifenden Satzgirlanden dargebotene Historienpanorama nur, wer alle Teile nacheinander liest. Dann gewinnt man Freude an dem gemächlichen, altväterlichen und von Moshe Kahn glänzend nachgeahmtem Rhythmus der Betrachtungen, die manchmal eine untergründige Ironie entfalten, manchmal von einem tiefen Fatalismus durchdrungen sind.
Giovenes Held und Ich-Erzähler ist ein Stoiker. Er besitzt eine eiserne Disziplin und eine große innere Unabhängigkeit, erlernt bei den Benediktinermönchen auf dem Giglio bei Caserta, wo er zur Schule ging. Sansevero neigt nicht zum Konformismus, und als die italienischen Streitkräfte nach Griechenland beordert werden, bemüht er sich nicht wie viele andere um Freistellung, sondern folgt dem Befehl. Auf der Peloponnes handelt er dann nach seinem eigenen Ermessen und erlangt sogar den Respekt der Bevölkerung.
Ebenso wenig wäre ihm in den Sinn gekommen, sich nach Italiens Waffenstillstandserklärung 1943 der Gefangennahme durch die Deutschen zu entziehen. Zu den eindringlichsten Passagen des vierten Bandes „Fremde Mächte“ gehören die Schilderungen des Lagers in Soltau, wo die italienischen Soldaten unter elenden Bedingungen dahinvegetieren. Durch die strenge Klostererziehung an Entbehrungen gewöhnt, findet Sansevero bei seinen Tagebuchaufzeichnungen Trost.
Ihn stützen ähnlich disziplinierte Mitgefangene: Einer strukturiert seinen Tag durch Gebete, der andere bewahrt seine Würde durch systematisches Abbürsten seiner geflickten Jacke und die sorgfältige Instandhaltung sämtlicher Kleidungsstücke. Außer den – ebenfalls sehr eindrücklichen – Journalen der Schriftsteller Carlo Emilio Gadda und Bonaventura Tecchi, die unter dem Titel „Die Baracke der Dichter. Italienische Kriegsgefangene im Celle-Lager“ (2014) ebenfalls auf Deutsch vorliegen, existiert nichts Vergleichbares. Nach einigen Wochen entscheidet sich Giuliano di Sansevero zur Zwangsarbeit und kommt in ein Sägewerk, wo er die Bombardierungen durch die Engländer erlebt, bis er sich in Richtung Berlin durchschlägt und hier die dramatische Schlussphase des Krieges übersteht. Die Verheerungen sind maßlos.
Im fünften Band – der Held ist inzwischen 42 Jahre alt - überzeugen die anschaulichen Beschreibungen des vom Krieg zerstörten Neapel, wo sich im Handumdrehen mafiös-camorristische Machtstrukturen etablieren. Giuliano di Sansevero ist als Journalist Teil des immer neu zu kalibrierenden Gefüges: Er durchschaut sofort, wer mit wem aus welchen Gründen paktiert und liefert ein Lehrbeispiel für die gesellschaftlichen Mechanismen Süditaliens. „Der letzte Sansevero“ hat gewisse Längen, die erst wieder verfliegen, als Frauen ins Spiel kommen. Allerdings verhält es sich hier so, wie in allen anderen Teilen der Autobiografie auch: In der Liebe hat Giuliano kein Glück. Entweder ereilt seine angebeteten Geschöpfe der Tod oder sie sind anderweitig gebunden oder noch längst nicht erwachsen. In London fahndet er nach der Tochter seiner verstorbenen Geliebten Mavì, deren Vater er möglicherweise ist.
Die Szenen, wie er sich unter falschem Namen in einer bescheidenen Bleibe einmietet, zum Zeitvertreib Antiquitäten erwirbt, eine Seemannskneipe frequentiert und mithilfe von Detektiven und des Barmanns schließlich die hinreißende Penny ausfindig macht, besitzen ein starkes Zeitkolorit. Wieder einmal wird Giuliano di Sansevero seine eigentümliche emotionale Abstinenz zum Verhängnis: Er kann Penny seine Vaterschaft nicht gestehen und ergreift nach einem Anflug von Verliebtheit die Flucht. Da ist es nur folgerichtig, dass er kurz vor seinem Tod in der sizilianischen Einöde noch eine letzte Mission absolviert und einer anderen jungen Frau zu einer Zukunft verhilft. Giovenes Frauenbild ist dem 19. Jahrhundert verhaftet, aber insgesamt handelt es sich bei seiner „Autobiographie des Giuliano di Sansevero“, wie die deutsche Ausgabe überschrieben ist, um ein vor allem aus zeit- und kulturgeschichtlichen Gründen fesselndes Werk. Dass der Galiani Verlag sich überhaupt an dieses Unterfangen gewagt hat, kann man nicht genug loben. Der hochgebildete Verfasser knüpft an die klassischen Werke der Memoirenliteratur von Giambattista Vico bis zu Casanova an.
Ein genuiner Romancier ist er nicht, und der Snobismus, den der Ich-Erzähler gegenüber dem Literaturbetrieb pflegt, verrät die gekränkte Eitelkeit des Autors. Die Rezeption seiner „Autobiographie“ stellt nämlich mediengeschichtlich eine Kuriosität dar. Weil Giovene, der immer wieder journalistisch arbeitete, 1966 keinen Verlag fand, veröffentlichte er den zweiten Band seiner Reihe in 999 Exemplaren auf eigene Kosten und sandte das Buch an die einschlägigen Repräsentanten des Literaturbetriebs.
Was folgte, war dröhnendes Schweigen allerorten, aber der Band kam einem umtriebigen Schwedisch-Dozenten von der Universität Neapel in die Finger, ausgerechnet ein Finne. Dieser Edvard Gummerus setzte alle Hebel in Bewegung und tat das, was ihm die größte Aufmerksamkeit versprach: Er schlug Giovene für den Nobelpreis vor. Dies konnte der Korrespondent der schwedischen Wochenzeitung „Expressen“ nicht auf sich sitzen lassen: Er reiste nach Neapel, um den unbekannten Schriftsteller kennenzulernen und veröffentlichte am 7. Juli 1966 einen Artikel mit der reißerischen Überschrift: „Don Andrea: Eine literarische Entdeckung von Weltrang?“
Es kam zu Lizenzverträgen und rasch auch zur Veröffentlichung in Italien, ebenfalls mit beachtlicher Resonanz. Hier focht man allerdings auch einen Kampf zwischen der tonangebenden Neoavantgarde und dem traditionsverhafteten Erzählen aus, der Giovene eher schadete. So kometenhaft sein Aufstieg war, so rasch verglühte sein Stern. Sein sehr eigener Blick, sein individuelles Schicksal in einem zerberstenden Europa kam 2012 noch einmal in dem kleinen römischen Verlag Eliott heraus, fand aber keine größere Beachtung. Immerhin, eine kleine deutsche Renaissance ist ihm jetzt beschieden.
In einem Lager in Soltau
vegetieren italienische
Soldaten vor sich hin
„Don Andrea: Eine
literarische Entdeckung
von Weltrang?“
Andrea Giovene:
Die Autobiographie
des Giuliano di Sansevero. Der letzte Sansevero.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn.
Galiani Verlag, Berlin 2023. 336 Seiten, 26 Euro.
Andrea Giovene: Die
Autobiographie des
Giuliano di Sansevero. Fremde Mächte. Roman. Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn.
Galiani Verlag,Berlin 2023. 334 Seiten, 26 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2024In einem Dorf vor unserer Zeit
Archaische Anderswelt: Andrea Giovenes
"Autobiographie des Giuliano di Sansevero" liegt nun in Moshe Kahns Übersetzung erstmals vollständig auf Deutsch vor.
Andrea Giovene wurde 1904 geboren als später Spross einer altadligen, seit dem 11. Jahrhundert aktenkundigen neapolitanischen Familie. Sein Alter Ego Giuliano di Sansevero steht ihm da nicht nach, und eine gewisse umständliche Noblesse ist das auffallendste Merkmal seines Stils. Obwohl der zwischen 1966 und 1970 erschienene fünfbändige Zyklus von Sanseveros fiktiver Autobiographie am damaligen Zeitgeist weit vorbeigeschrieben war, konnte Giovene doch einen internationalen Achtungserfolg damit erzielen und war kurzfristig sogar für den Nobelpreis im Gespräch. Heute ist er auch in Italien ein Geheimtipp.
Nach der Erzählung seiner Jugend sowie der von Reisen und Liebesverwicklungen geprägten Bohemejahre in den ersten beiden Bänden (F.A.Z. vom 6. Dezember 2022) zieht sich Giuliano im dritten Band, der Mitte der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts spielt, aus der Welt zurück, um eine ganz eigene zu finden, fern vom Getöse des Faschismus. "Der Weg, auf den sich die moderne Welt begeben hatte, war ein Irrtum", meint er. Zum Glück gibt es den Mezzogiorno, dessen Unterentwicklung sich nun als Vorzug erweist. In dem fiktiven, an steiler Küste gelegenen kalabrischen Dorf Licudi unterhalb des real existierenden Monte Palanuda besitzt die Familie noch einen Olivenhain. Dort will sich Giuliano "das Haus der Häuser" bauen - auch wenn der Titel weniger superlativisch zu verstehen ist, als es scheint. In Licudi bestehen Häuser seit je aus einem Raum; ein Haus mit mehreren Zimmern ist deshalb ein "Haus der Häuser".
Das ganze Dorf wird beim Bau involviert. Die einen stellen ihren Esel, die anderen ihre Muskeln zur Verfügung, und dennoch ist es ein Unternehmen sondergleichen, denn es führt keine Straße nach Licudi, über die sich Material herbeischaffen ließe. Eine nahe gelegene Ruine bietet allerhand Verwertbares, und die Frauen des Dorfes bringen von jedem Weg in den Wald einen Stein für das Haus mit, den sie auf dem Kopf balancieren wie sonst die Wasserkrüge. So wird aus Giulianos Spleen ein wunderlich-wunderbares Gemeinschaftserlebnis.
Die viel gesuchte, oft auch fragwürdige Poesie des einfachen Lebens - Giovene zelebriert sie, ohne ins Kitschige abzugleiten. Es gibt magische Beschreibungen, wenn mitten im Winter die Oliven geerntet werden oder wenn Giuliano mit dem Fischer Geniacolo in der Morgendämmerung zu den Netzen hinausfährt, auch wenn Geniacolos Gehilfe so nach Fisch stinkt, dass ihm alle Katzen sehnsüchtig hinterherlaufen. In Licudi begegnet Giuliano dem "Genius des Mediterranen", er erfreut sich an knorrigen Charakteren und unverfälschten Urtypen, von denen es jeweils ein Exemplar gibt ("der Wirt", "der Seefahrer", "der Tischler", "der Karrenkutscher"). Dazu gehört auch der Koch Giacomo, genannt "il Fimminella", "der Weibliche", gewissermaßen die Transperson am Ort. Sein Leben lang hat er sich gewünscht, eine Frau zu sein; die Dörfler akzeptieren es als Laune der Natur. Unter den Menschen und Tieren, eingebettet in die Natur, fühlt Giuliano die Nähe zu uralten Mythen und zum Göttlichen, das noch erfahrbarer wird, als er die Licuder bei ihrer alljährlichen Wallfahrt auf den Berggipfel begleitet - ein großes, anrührendes Kapitel.
Nachts schreibt er bei spärlichem Lampenschein und meint, ringsum "das Atmen der einfachen Leute zu spüren, für die man wach bleiben und nachdenken musste". Nichts liegt ihm ferner, als das mühselige, rückständige Leben im Stil Carlo Levis zu beklagen. Außerdem belebt die Liebe zu einem zauberhaften Dorfmädchen sein Herz. Das Problem besteht darin, dass er über vierzig, Arrichetta aber erst zwölf ist, weshalb er sich darum bemüht, die "dunkle Woge seiner Gefühle" ins Väterliche hinüberzuleiten.
Bisweilen kommt aus dem Nachbardorf der faschistische Ortswart herüber, ein vormaliger Viehdieb, und schwadroniert vom Bau einer Straße, mit der Licudi an die Moderne angeschlossen würde - für Giuliano eine Schreckensvision, die er am Ende selbst umsetzt, als er auf seinem Gelände eine antike Grabstätte entdeckt und die Behörden zur Bergung der archäologischen Kostbarkeiten den Bau der Straße in Angriff nehmen. Die uralten Olivenbäume werden gefällt, Grundstücksspekulation und touristische Erschließung beginnen, und dann sind plötzlich, dank der Achse Berlin-Rom, auch die Deutschen in Licudi.
Bisweilen wurde der Zyklus mit Proust verglichen, an den Andrea Giovene allerdings weder in der Figurenpsychologie noch in der Gesellschaftsanalyse und der Kommentierung politischer Ereignisse heranreicht, auch wenn sein - von Moshe Kahn geschmeidig ins Deutsche übertragener - Satzbau ebenfalls zum Verschachteln neigt und der Erzähler die Schilderung seiner Erlebnisse mit ausgiebigen, leider nicht immer überzeugenden Räsonnements anzureichern pflegt. Wo Giovene aber seine etwas unglückliche Liebe zur Reflexion im Zaum hält und einfach beschreibt, dort entwickelt die romanhafte Autobiographie Faszination und literarische Qualitäten.
Das gilt insbesondere für den herausragenden vierten Band "Fremde Mächte", der den Jahren des Zweiten Weltkriegs gewidmet ist. Giuliano wird einberufen und erlebt die faschistische Armee als Sumpf der Korruption. Die Offiziere sind vor allem damit beschäftigt, ihre Karrieren voranzubringen. Sie erteilen den Soldaten unsinnige Befehle und kämpfen mit den überreichlichen Mahlzeiten in der Etappe. In satirischer Zuspitzung beschreibt Giovene Kommandeure, die im bürgerlichen Leben "Nullen" waren und nun den Rausch der Macht auskosten. Noch erbärmlicher erscheint die Moral der Truppe, wenn Giuliano beschämt die italienische Besatzung in Griechenland schildert. Da ist nur noch von Schiebereien, Intrigen und Prostitution die Rede. Aber warum heißt es wiederholt, dass Giulianos Abteilung "aus alten Lanzenreitern" besteht? Handelt es sich um einen Missgriff der Übersetzung, oder war Mussolinis Militär tatsächlich so antiquiert ausgerüstet?
Als Italien im September 1943 die Seiten wechselt, wird Giuliano in Griechenland mit anderen italienischen Soldaten von der Wehrmacht gefangen genommen und in wochenlanger Reise im offenen Waggon zunächst in ein Lager in der Nähe von Lemberg verfrachtet, später nach Soltau in der Lüneburger Heide, wo die Deutschen zuvor 15.000 Rotarmisten hatten elend verhungern lassen. Mit sparsamem Kalorienverbrauch (möglichst wenig Bewegung) versuchen die Italiener bis zur unvermeidlichen deutschen Niederlage zu überleben. Die Republik von Salò - der faschistische Marionettenstaat in Norditalien - schickt einen Waggon voller Kekse für willige Überläufer. Giuliano hilft sich mit asketischer Selbstdisziplin und Tagebuchschreiben. Ab Herbst 1944 wird er dann als Zwangsarbeiter in einer Kleinstadt an der Elbe eingesetzt, bevor es ihn im Inferno des Kriegsendes noch ins umkämpfte Berlin verschlägt.
Es gibt in diesem Band, der hohe dokumentarische Qualitäten besitzt, viele starke Szenen und Beobachtungen, etwa wenn Giovene beschreibt, wie sich die deutschen Passanten daran gewöhnt haben, den alltäglichen Anblick von Zwangsarbeitern und Häftlingen gleichsam wegzufiltern: "Sie sahen uns demonstrativ nicht an." Eindringliche Charakterskizzen wechseln mit der Darstellung von Bombenangriffen, panischen Flüchtlingstrecks und stillen Momenten in der Natur. Zu den einprägsamsten Gestalten gehört - kein Scherz - ein Gänsepaar. Bei einem Bombenangriff erleidet Giuliano eine schwere Gesichtsverletzung; nur haarscharf entgeht er dem Tod.
Der abschließende, schwächere Band "Der letzte Sansevero" handelt von den Nachkriegsjahren in Italien. Giuliano arbeitet im zerstörten Neapel einige Jahre als Journalist für eine Zeitung namens "Der freie Vesuv" und erlebt hautnah mit, wie Korruption und Intrigenwirtschaft zu neuer Blüte kommen, nun auch unter lebhafter Beteiligung der Mafia. Die zweite Hälfte spielt in London, wo er sich als Sammler von Antiquitäten umtut, eigentlich aber auf der Suche nach einer ganz besonderen Rarität ist: seiner inzwischen erwachsenen Tochter, die er nie gekannt hat, weil er sich von ihrer Mutter schon getrennt hat, als sie - wahrscheinlich - von ihm schwanger war. Aus der Begegnung entwickelt sich eine dieser heiklen, unlebbaren Beinahe-Liebesgeschichten, die Giulianos Schicksal zu sein scheinen.
Man muss die fünf Bände nicht hintereinander lesen. Jeder Teil der Biographie steht für sich, jeder hat einen eigenen Charakter: Das gilt verstärkt für den dritten Band, der die archaische Anderswelt von Licudi beschwört, und den vierten über die Erlebnisse im Weltkrieg. Allein für diese beiden erfahrungssatten und ganz eigenständig lesbaren Bücher darf man dem Verlag und dem Übersetzer Moshe Kahn danken. WOLFGANG SCHNEIDER
Andrea Giovene:
"Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero - Das Haus der Häuser".
Roman.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2023.
304 S., geb., 26,- Euro.
Andrea Giovene:
"Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero - Fremde Mächte".
Roman.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2023. 336 S., geb., 26,- Euro.
Andrea Giovene:
"Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero -
Der letzte Sansevero".
Roman.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2023. 336 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Archaische Anderswelt: Andrea Giovenes
"Autobiographie des Giuliano di Sansevero" liegt nun in Moshe Kahns Übersetzung erstmals vollständig auf Deutsch vor.
Andrea Giovene wurde 1904 geboren als später Spross einer altadligen, seit dem 11. Jahrhundert aktenkundigen neapolitanischen Familie. Sein Alter Ego Giuliano di Sansevero steht ihm da nicht nach, und eine gewisse umständliche Noblesse ist das auffallendste Merkmal seines Stils. Obwohl der zwischen 1966 und 1970 erschienene fünfbändige Zyklus von Sanseveros fiktiver Autobiographie am damaligen Zeitgeist weit vorbeigeschrieben war, konnte Giovene doch einen internationalen Achtungserfolg damit erzielen und war kurzfristig sogar für den Nobelpreis im Gespräch. Heute ist er auch in Italien ein Geheimtipp.
Nach der Erzählung seiner Jugend sowie der von Reisen und Liebesverwicklungen geprägten Bohemejahre in den ersten beiden Bänden (F.A.Z. vom 6. Dezember 2022) zieht sich Giuliano im dritten Band, der Mitte der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts spielt, aus der Welt zurück, um eine ganz eigene zu finden, fern vom Getöse des Faschismus. "Der Weg, auf den sich die moderne Welt begeben hatte, war ein Irrtum", meint er. Zum Glück gibt es den Mezzogiorno, dessen Unterentwicklung sich nun als Vorzug erweist. In dem fiktiven, an steiler Küste gelegenen kalabrischen Dorf Licudi unterhalb des real existierenden Monte Palanuda besitzt die Familie noch einen Olivenhain. Dort will sich Giuliano "das Haus der Häuser" bauen - auch wenn der Titel weniger superlativisch zu verstehen ist, als es scheint. In Licudi bestehen Häuser seit je aus einem Raum; ein Haus mit mehreren Zimmern ist deshalb ein "Haus der Häuser".
Das ganze Dorf wird beim Bau involviert. Die einen stellen ihren Esel, die anderen ihre Muskeln zur Verfügung, und dennoch ist es ein Unternehmen sondergleichen, denn es führt keine Straße nach Licudi, über die sich Material herbeischaffen ließe. Eine nahe gelegene Ruine bietet allerhand Verwertbares, und die Frauen des Dorfes bringen von jedem Weg in den Wald einen Stein für das Haus mit, den sie auf dem Kopf balancieren wie sonst die Wasserkrüge. So wird aus Giulianos Spleen ein wunderlich-wunderbares Gemeinschaftserlebnis.
Die viel gesuchte, oft auch fragwürdige Poesie des einfachen Lebens - Giovene zelebriert sie, ohne ins Kitschige abzugleiten. Es gibt magische Beschreibungen, wenn mitten im Winter die Oliven geerntet werden oder wenn Giuliano mit dem Fischer Geniacolo in der Morgendämmerung zu den Netzen hinausfährt, auch wenn Geniacolos Gehilfe so nach Fisch stinkt, dass ihm alle Katzen sehnsüchtig hinterherlaufen. In Licudi begegnet Giuliano dem "Genius des Mediterranen", er erfreut sich an knorrigen Charakteren und unverfälschten Urtypen, von denen es jeweils ein Exemplar gibt ("der Wirt", "der Seefahrer", "der Tischler", "der Karrenkutscher"). Dazu gehört auch der Koch Giacomo, genannt "il Fimminella", "der Weibliche", gewissermaßen die Transperson am Ort. Sein Leben lang hat er sich gewünscht, eine Frau zu sein; die Dörfler akzeptieren es als Laune der Natur. Unter den Menschen und Tieren, eingebettet in die Natur, fühlt Giuliano die Nähe zu uralten Mythen und zum Göttlichen, das noch erfahrbarer wird, als er die Licuder bei ihrer alljährlichen Wallfahrt auf den Berggipfel begleitet - ein großes, anrührendes Kapitel.
Nachts schreibt er bei spärlichem Lampenschein und meint, ringsum "das Atmen der einfachen Leute zu spüren, für die man wach bleiben und nachdenken musste". Nichts liegt ihm ferner, als das mühselige, rückständige Leben im Stil Carlo Levis zu beklagen. Außerdem belebt die Liebe zu einem zauberhaften Dorfmädchen sein Herz. Das Problem besteht darin, dass er über vierzig, Arrichetta aber erst zwölf ist, weshalb er sich darum bemüht, die "dunkle Woge seiner Gefühle" ins Väterliche hinüberzuleiten.
Bisweilen kommt aus dem Nachbardorf der faschistische Ortswart herüber, ein vormaliger Viehdieb, und schwadroniert vom Bau einer Straße, mit der Licudi an die Moderne angeschlossen würde - für Giuliano eine Schreckensvision, die er am Ende selbst umsetzt, als er auf seinem Gelände eine antike Grabstätte entdeckt und die Behörden zur Bergung der archäologischen Kostbarkeiten den Bau der Straße in Angriff nehmen. Die uralten Olivenbäume werden gefällt, Grundstücksspekulation und touristische Erschließung beginnen, und dann sind plötzlich, dank der Achse Berlin-Rom, auch die Deutschen in Licudi.
Bisweilen wurde der Zyklus mit Proust verglichen, an den Andrea Giovene allerdings weder in der Figurenpsychologie noch in der Gesellschaftsanalyse und der Kommentierung politischer Ereignisse heranreicht, auch wenn sein - von Moshe Kahn geschmeidig ins Deutsche übertragener - Satzbau ebenfalls zum Verschachteln neigt und der Erzähler die Schilderung seiner Erlebnisse mit ausgiebigen, leider nicht immer überzeugenden Räsonnements anzureichern pflegt. Wo Giovene aber seine etwas unglückliche Liebe zur Reflexion im Zaum hält und einfach beschreibt, dort entwickelt die romanhafte Autobiographie Faszination und literarische Qualitäten.
Das gilt insbesondere für den herausragenden vierten Band "Fremde Mächte", der den Jahren des Zweiten Weltkriegs gewidmet ist. Giuliano wird einberufen und erlebt die faschistische Armee als Sumpf der Korruption. Die Offiziere sind vor allem damit beschäftigt, ihre Karrieren voranzubringen. Sie erteilen den Soldaten unsinnige Befehle und kämpfen mit den überreichlichen Mahlzeiten in der Etappe. In satirischer Zuspitzung beschreibt Giovene Kommandeure, die im bürgerlichen Leben "Nullen" waren und nun den Rausch der Macht auskosten. Noch erbärmlicher erscheint die Moral der Truppe, wenn Giuliano beschämt die italienische Besatzung in Griechenland schildert. Da ist nur noch von Schiebereien, Intrigen und Prostitution die Rede. Aber warum heißt es wiederholt, dass Giulianos Abteilung "aus alten Lanzenreitern" besteht? Handelt es sich um einen Missgriff der Übersetzung, oder war Mussolinis Militär tatsächlich so antiquiert ausgerüstet?
Als Italien im September 1943 die Seiten wechselt, wird Giuliano in Griechenland mit anderen italienischen Soldaten von der Wehrmacht gefangen genommen und in wochenlanger Reise im offenen Waggon zunächst in ein Lager in der Nähe von Lemberg verfrachtet, später nach Soltau in der Lüneburger Heide, wo die Deutschen zuvor 15.000 Rotarmisten hatten elend verhungern lassen. Mit sparsamem Kalorienverbrauch (möglichst wenig Bewegung) versuchen die Italiener bis zur unvermeidlichen deutschen Niederlage zu überleben. Die Republik von Salò - der faschistische Marionettenstaat in Norditalien - schickt einen Waggon voller Kekse für willige Überläufer. Giuliano hilft sich mit asketischer Selbstdisziplin und Tagebuchschreiben. Ab Herbst 1944 wird er dann als Zwangsarbeiter in einer Kleinstadt an der Elbe eingesetzt, bevor es ihn im Inferno des Kriegsendes noch ins umkämpfte Berlin verschlägt.
Es gibt in diesem Band, der hohe dokumentarische Qualitäten besitzt, viele starke Szenen und Beobachtungen, etwa wenn Giovene beschreibt, wie sich die deutschen Passanten daran gewöhnt haben, den alltäglichen Anblick von Zwangsarbeitern und Häftlingen gleichsam wegzufiltern: "Sie sahen uns demonstrativ nicht an." Eindringliche Charakterskizzen wechseln mit der Darstellung von Bombenangriffen, panischen Flüchtlingstrecks und stillen Momenten in der Natur. Zu den einprägsamsten Gestalten gehört - kein Scherz - ein Gänsepaar. Bei einem Bombenangriff erleidet Giuliano eine schwere Gesichtsverletzung; nur haarscharf entgeht er dem Tod.
Der abschließende, schwächere Band "Der letzte Sansevero" handelt von den Nachkriegsjahren in Italien. Giuliano arbeitet im zerstörten Neapel einige Jahre als Journalist für eine Zeitung namens "Der freie Vesuv" und erlebt hautnah mit, wie Korruption und Intrigenwirtschaft zu neuer Blüte kommen, nun auch unter lebhafter Beteiligung der Mafia. Die zweite Hälfte spielt in London, wo er sich als Sammler von Antiquitäten umtut, eigentlich aber auf der Suche nach einer ganz besonderen Rarität ist: seiner inzwischen erwachsenen Tochter, die er nie gekannt hat, weil er sich von ihrer Mutter schon getrennt hat, als sie - wahrscheinlich - von ihm schwanger war. Aus der Begegnung entwickelt sich eine dieser heiklen, unlebbaren Beinahe-Liebesgeschichten, die Giulianos Schicksal zu sein scheinen.
Man muss die fünf Bände nicht hintereinander lesen. Jeder Teil der Biographie steht für sich, jeder hat einen eigenen Charakter: Das gilt verstärkt für den dritten Band, der die archaische Anderswelt von Licudi beschwört, und den vierten über die Erlebnisse im Weltkrieg. Allein für diese beiden erfahrungssatten und ganz eigenständig lesbaren Bücher darf man dem Verlag und dem Übersetzer Moshe Kahn danken. WOLFGANG SCHNEIDER
Andrea Giovene:
"Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero - Das Haus der Häuser".
Roman.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2023.
304 S., geb., 26,- Euro.
Andrea Giovene:
"Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero - Fremde Mächte".
Roman.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2023. 336 S., geb., 26,- Euro.
Andrea Giovene:
"Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero -
Der letzte Sansevero".
Roman.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2023. 336 S., geb., 26,- Euro.
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