Giuliano reist durch das zerstörte Nachkriegseuropa auf der Suche nach seiner Vergangenheit - und nach seiner Zukunft
Italien in den 1950er-Jahren: Giuliano erlebt und beobachtet in Rom und Neapel das totale Chaos aller Institutionen, die Kämpfe zwischen Royalisten und Kommunisten und die beginnende Modernisierung. Er muss sich entscheiden: Will er noch einmal teilnehmen, teilhaben an den Umbrüchen und Entwicklungen? Welche Aufgabe hat ihm das Schicksal zugedacht? Eine Reise in das kriegszerstörte London, eine junge Frau - vielleicht seine Tochter - und ein kleines Mädchen in einem süditalienischen Dorf bringen ihn unvermutet weiter auf seiner Suche.
Der letzte Sansevero erzählt vom Ende einer einzigartigen Reise zu sich selbst - und beschließt Giovenes großes Gesellschaftspanorama, das ein halbes Jahrhundert Italien umfasst.
Italien in den 1950er-Jahren: Giuliano erlebt und beobachtet in Rom und Neapel das totale Chaos aller Institutionen, die Kämpfe zwischen Royalisten und Kommunisten und die beginnende Modernisierung. Er muss sich entscheiden: Will er noch einmal teilnehmen, teilhaben an den Umbrüchen und Entwicklungen? Welche Aufgabe hat ihm das Schicksal zugedacht? Eine Reise in das kriegszerstörte London, eine junge Frau - vielleicht seine Tochter - und ein kleines Mädchen in einem süditalienischen Dorf bringen ihn unvermutet weiter auf seiner Suche.
Der letzte Sansevero erzählt vom Ende einer einzigartigen Reise zu sich selbst - und beschließt Giovenes großes Gesellschaftspanorama, das ein halbes Jahrhundert Italien umfasst.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Wolfgang Schneider widmet sich Andrea Giovenes fünfbändigem Romanzyklus über den neapolitanischen Spross Giuliano di Sansevero in Moshe Kahns Übersetzung. Die einzelnen Bände unterscheiden sich laut Rezensent durchaus in der Qualität. So besticht etwa der vierte Band mit seinen dokumentarischen Passagen über den Zweiten Weltkrieg und den italienischen Faschismus, während der Nachkriegsband für Schneider Schwächen zeigt. Eher schwach findet er Giovenes Neigung zum Räsonnement, stark hingegen die Beschreibungen einfacher italienischer Lebenswelten der 30er Jahre im dritten Band. Laut Schneider muss man die Bände nicht chronologisch lesen. Jeder für sich bietet "erfahrungssatte" Geschichten, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein vor allem aus zeit- und kulturgeschichtlichen Gründen fesselndes Werk. Dass der Galiani Verlag sich überhaupt an dieses Unterfangen gewagt hat, kann man nicht genug loben. Der hochgebildete Verfasser knüpft an die klassischen Werke der Memoirenliteratur von Giambattista Vico bis zu Casanova an. Maike Albath Süddeutsche Zeitung 20240101
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2024In einem Dorf vor unserer Zeit
Archaische Anderswelt: Andrea Giovenes
"Autobiographie des Giuliano di Sansevero" liegt nun in Moshe Kahns Übersetzung erstmals vollständig auf Deutsch vor.
Andrea Giovene wurde 1904 geboren als später Spross einer altadligen, seit dem 11. Jahrhundert aktenkundigen neapolitanischen Familie. Sein Alter Ego Giuliano di Sansevero steht ihm da nicht nach, und eine gewisse umständliche Noblesse ist das auffallendste Merkmal seines Stils. Obwohl der zwischen 1966 und 1970 erschienene fünfbändige Zyklus von Sanseveros fiktiver Autobiographie am damaligen Zeitgeist weit vorbeigeschrieben war, konnte Giovene doch einen internationalen Achtungserfolg damit erzielen und war kurzfristig sogar für den Nobelpreis im Gespräch. Heute ist er auch in Italien ein Geheimtipp.
Nach der Erzählung seiner Jugend sowie der von Reisen und Liebesverwicklungen geprägten Bohemejahre in den ersten beiden Bänden (F.A.Z. vom 6. Dezember 2022) zieht sich Giuliano im dritten Band, der Mitte der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts spielt, aus der Welt zurück, um eine ganz eigene zu finden, fern vom Getöse des Faschismus. "Der Weg, auf den sich die moderne Welt begeben hatte, war ein Irrtum", meint er. Zum Glück gibt es den Mezzogiorno, dessen Unterentwicklung sich nun als Vorzug erweist. In dem fiktiven, an steiler Küste gelegenen kalabrischen Dorf Licudi unterhalb des real existierenden Monte Palanuda besitzt die Familie noch einen Olivenhain. Dort will sich Giuliano "das Haus der Häuser" bauen - auch wenn der Titel weniger superlativisch zu verstehen ist, als es scheint. In Licudi bestehen Häuser seit je aus einem Raum; ein Haus mit mehreren Zimmern ist deshalb ein "Haus der Häuser".
Das ganze Dorf wird beim Bau involviert. Die einen stellen ihren Esel, die anderen ihre Muskeln zur Verfügung, und dennoch ist es ein Unternehmen sondergleichen, denn es führt keine Straße nach Licudi, über die sich Material herbeischaffen ließe. Eine nahe gelegene Ruine bietet allerhand Verwertbares, und die Frauen des Dorfes bringen von jedem Weg in den Wald einen Stein für das Haus mit, den sie auf dem Kopf balancieren wie sonst die Wasserkrüge. So wird aus Giulianos Spleen ein wunderlich-wunderbares Gemeinschaftserlebnis.
Die viel gesuchte, oft auch fragwürdige Poesie des einfachen Lebens - Giovene zelebriert sie, ohne ins Kitschige abzugleiten. Es gibt magische Beschreibungen, wenn mitten im Winter die Oliven geerntet werden oder wenn Giuliano mit dem Fischer Geniacolo in der Morgendämmerung zu den Netzen hinausfährt, auch wenn Geniacolos Gehilfe so nach Fisch stinkt, dass ihm alle Katzen sehnsüchtig hinterherlaufen. In Licudi begegnet Giuliano dem "Genius des Mediterranen", er erfreut sich an knorrigen Charakteren und unverfälschten Urtypen, von denen es jeweils ein Exemplar gibt ("der Wirt", "der Seefahrer", "der Tischler", "der Karrenkutscher"). Dazu gehört auch der Koch Giacomo, genannt "il Fimminella", "der Weibliche", gewissermaßen die Transperson am Ort. Sein Leben lang hat er sich gewünscht, eine Frau zu sein; die Dörfler akzeptieren es als Laune der Natur. Unter den Menschen und Tieren, eingebettet in die Natur, fühlt Giuliano die Nähe zu uralten Mythen und zum Göttlichen, das noch erfahrbarer wird, als er die Licuder bei ihrer alljährlichen Wallfahrt auf den Berggipfel begleitet - ein großes, anrührendes Kapitel.
Nachts schreibt er bei spärlichem Lampenschein und meint, ringsum "das Atmen der einfachen Leute zu spüren, für die man wach bleiben und nachdenken musste". Nichts liegt ihm ferner, als das mühselige, rückständige Leben im Stil Carlo Levis zu beklagen. Außerdem belebt die Liebe zu einem zauberhaften Dorfmädchen sein Herz. Das Problem besteht darin, dass er über vierzig, Arrichetta aber erst zwölf ist, weshalb er sich darum bemüht, die "dunkle Woge seiner Gefühle" ins Väterliche hinüberzuleiten.
Bisweilen kommt aus dem Nachbardorf der faschistische Ortswart herüber, ein vormaliger Viehdieb, und schwadroniert vom Bau einer Straße, mit der Licudi an die Moderne angeschlossen würde - für Giuliano eine Schreckensvision, die er am Ende selbst umsetzt, als er auf seinem Gelände eine antike Grabstätte entdeckt und die Behörden zur Bergung der archäologischen Kostbarkeiten den Bau der Straße in Angriff nehmen. Die uralten Olivenbäume werden gefällt, Grundstücksspekulation und touristische Erschließung beginnen, und dann sind plötzlich, dank der Achse Berlin-Rom, auch die Deutschen in Licudi.
Bisweilen wurde der Zyklus mit Proust verglichen, an den Andrea Giovene allerdings weder in der Figurenpsychologie noch in der Gesellschaftsanalyse und der Kommentierung politischer Ereignisse heranreicht, auch wenn sein - von Moshe Kahn geschmeidig ins Deutsche übertragener - Satzbau ebenfalls zum Verschachteln neigt und der Erzähler die Schilderung seiner Erlebnisse mit ausgiebigen, leider nicht immer überzeugenden Räsonnements anzureichern pflegt. Wo Giovene aber seine etwas unglückliche Liebe zur Reflexion im Zaum hält und einfach beschreibt, dort entwickelt die romanhafte Autobiographie Faszination und literarische Qualitäten.
Das gilt insbesondere für den herausragenden vierten Band "Fremde Mächte", der den Jahren des Zweiten Weltkriegs gewidmet ist. Giuliano wird einberufen und erlebt die faschistische Armee als Sumpf der Korruption. Die Offiziere sind vor allem damit beschäftigt, ihre Karrieren voranzubringen. Sie erteilen den Soldaten unsinnige Befehle und kämpfen mit den überreichlichen Mahlzeiten in der Etappe. In satirischer Zuspitzung beschreibt Giovene Kommandeure, die im bürgerlichen Leben "Nullen" waren und nun den Rausch der Macht auskosten. Noch erbärmlicher erscheint die Moral der Truppe, wenn Giuliano beschämt die italienische Besatzung in Griechenland schildert. Da ist nur noch von Schiebereien, Intrigen und Prostitution die Rede. Aber warum heißt es wiederholt, dass Giulianos Abteilung "aus alten Lanzenreitern" besteht? Handelt es sich um einen Missgriff der Übersetzung, oder war Mussolinis Militär tatsächlich so antiquiert ausgerüstet?
Als Italien im September 1943 die Seiten wechselt, wird Giuliano in Griechenland mit anderen italienischen Soldaten von der Wehrmacht gefangen genommen und in wochenlanger Reise im offenen Waggon zunächst in ein Lager in der Nähe von Lemberg verfrachtet, später nach Soltau in der Lüneburger Heide, wo die Deutschen zuvor 15.000 Rotarmisten hatten elend verhungern lassen. Mit sparsamem Kalorienverbrauch (möglichst wenig Bewegung) versuchen die Italiener bis zur unvermeidlichen deutschen Niederlage zu überleben. Die Republik von Salò - der faschistische Marionettenstaat in Norditalien - schickt einen Waggon voller Kekse für willige Überläufer. Giuliano hilft sich mit asketischer Selbstdisziplin und Tagebuchschreiben. Ab Herbst 1944 wird er dann als Zwangsarbeiter in einer Kleinstadt an der Elbe eingesetzt, bevor es ihn im Inferno des Kriegsendes noch ins umkämpfte Berlin verschlägt.
Es gibt in diesem Band, der hohe dokumentarische Qualitäten besitzt, viele starke Szenen und Beobachtungen, etwa wenn Giovene beschreibt, wie sich die deutschen Passanten daran gewöhnt haben, den alltäglichen Anblick von Zwangsarbeitern und Häftlingen gleichsam wegzufiltern: "Sie sahen uns demonstrativ nicht an." Eindringliche Charakterskizzen wechseln mit der Darstellung von Bombenangriffen, panischen Flüchtlingstrecks und stillen Momenten in der Natur. Zu den einprägsamsten Gestalten gehört - kein Scherz - ein Gänsepaar. Bei einem Bombenangriff erleidet Giuliano eine schwere Gesichtsverletzung; nur haarscharf entgeht er dem Tod.
Der abschließende, schwächere Band "Der letzte Sansevero" handelt von den Nachkriegsjahren in Italien. Giuliano arbeitet im zerstörten Neapel einige Jahre als Journalist für eine Zeitung namens "Der freie Vesuv" und erlebt hautnah mit, wie Korruption und Intrigenwirtschaft zu neuer Blüte kommen, nun auch unter lebhafter Beteiligung der Mafia. Die zweite Hälfte spielt in London, wo er sich als Sammler von Antiquitäten umtut, eigentlich aber auf der Suche nach einer ganz besonderen Rarität ist: seiner inzwischen erwachsenen Tochter, die er nie gekannt hat, weil er sich von ihrer Mutter schon getrennt hat, als sie - wahrscheinlich - von ihm schwanger war. Aus der Begegnung entwickelt sich eine dieser heiklen, unlebbaren Beinahe-Liebesgeschichten, die Giulianos Schicksal zu sein scheinen.
Man muss die fünf Bände nicht hintereinander lesen. Jeder Teil der Biographie steht für sich, jeder hat einen eigenen Charakter: Das gilt verstärkt für den dritten Band, der die archaische Anderswelt von Licudi beschwört, und den vierten über die Erlebnisse im Weltkrieg. Allein für diese beiden erfahrungssatten und ganz eigenständig lesbaren Bücher darf man dem Verlag und dem Übersetzer Moshe Kahn danken. WOLFGANG SCHNEIDER
Andrea Giovene:
"Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero - Das Haus der Häuser".
Roman.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2023.
304 S., geb., 26,- Euro.
Andrea Giovene:
"Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero - Fremde Mächte".
Roman.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2023. 336 S., geb., 26,- Euro.
Andrea Giovene:
"Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero -
Der letzte Sansevero".
Roman.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2023. 336 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Archaische Anderswelt: Andrea Giovenes
"Autobiographie des Giuliano di Sansevero" liegt nun in Moshe Kahns Übersetzung erstmals vollständig auf Deutsch vor.
Andrea Giovene wurde 1904 geboren als später Spross einer altadligen, seit dem 11. Jahrhundert aktenkundigen neapolitanischen Familie. Sein Alter Ego Giuliano di Sansevero steht ihm da nicht nach, und eine gewisse umständliche Noblesse ist das auffallendste Merkmal seines Stils. Obwohl der zwischen 1966 und 1970 erschienene fünfbändige Zyklus von Sanseveros fiktiver Autobiographie am damaligen Zeitgeist weit vorbeigeschrieben war, konnte Giovene doch einen internationalen Achtungserfolg damit erzielen und war kurzfristig sogar für den Nobelpreis im Gespräch. Heute ist er auch in Italien ein Geheimtipp.
Nach der Erzählung seiner Jugend sowie der von Reisen und Liebesverwicklungen geprägten Bohemejahre in den ersten beiden Bänden (F.A.Z. vom 6. Dezember 2022) zieht sich Giuliano im dritten Band, der Mitte der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts spielt, aus der Welt zurück, um eine ganz eigene zu finden, fern vom Getöse des Faschismus. "Der Weg, auf den sich die moderne Welt begeben hatte, war ein Irrtum", meint er. Zum Glück gibt es den Mezzogiorno, dessen Unterentwicklung sich nun als Vorzug erweist. In dem fiktiven, an steiler Küste gelegenen kalabrischen Dorf Licudi unterhalb des real existierenden Monte Palanuda besitzt die Familie noch einen Olivenhain. Dort will sich Giuliano "das Haus der Häuser" bauen - auch wenn der Titel weniger superlativisch zu verstehen ist, als es scheint. In Licudi bestehen Häuser seit je aus einem Raum; ein Haus mit mehreren Zimmern ist deshalb ein "Haus der Häuser".
Das ganze Dorf wird beim Bau involviert. Die einen stellen ihren Esel, die anderen ihre Muskeln zur Verfügung, und dennoch ist es ein Unternehmen sondergleichen, denn es führt keine Straße nach Licudi, über die sich Material herbeischaffen ließe. Eine nahe gelegene Ruine bietet allerhand Verwertbares, und die Frauen des Dorfes bringen von jedem Weg in den Wald einen Stein für das Haus mit, den sie auf dem Kopf balancieren wie sonst die Wasserkrüge. So wird aus Giulianos Spleen ein wunderlich-wunderbares Gemeinschaftserlebnis.
Die viel gesuchte, oft auch fragwürdige Poesie des einfachen Lebens - Giovene zelebriert sie, ohne ins Kitschige abzugleiten. Es gibt magische Beschreibungen, wenn mitten im Winter die Oliven geerntet werden oder wenn Giuliano mit dem Fischer Geniacolo in der Morgendämmerung zu den Netzen hinausfährt, auch wenn Geniacolos Gehilfe so nach Fisch stinkt, dass ihm alle Katzen sehnsüchtig hinterherlaufen. In Licudi begegnet Giuliano dem "Genius des Mediterranen", er erfreut sich an knorrigen Charakteren und unverfälschten Urtypen, von denen es jeweils ein Exemplar gibt ("der Wirt", "der Seefahrer", "der Tischler", "der Karrenkutscher"). Dazu gehört auch der Koch Giacomo, genannt "il Fimminella", "der Weibliche", gewissermaßen die Transperson am Ort. Sein Leben lang hat er sich gewünscht, eine Frau zu sein; die Dörfler akzeptieren es als Laune der Natur. Unter den Menschen und Tieren, eingebettet in die Natur, fühlt Giuliano die Nähe zu uralten Mythen und zum Göttlichen, das noch erfahrbarer wird, als er die Licuder bei ihrer alljährlichen Wallfahrt auf den Berggipfel begleitet - ein großes, anrührendes Kapitel.
Nachts schreibt er bei spärlichem Lampenschein und meint, ringsum "das Atmen der einfachen Leute zu spüren, für die man wach bleiben und nachdenken musste". Nichts liegt ihm ferner, als das mühselige, rückständige Leben im Stil Carlo Levis zu beklagen. Außerdem belebt die Liebe zu einem zauberhaften Dorfmädchen sein Herz. Das Problem besteht darin, dass er über vierzig, Arrichetta aber erst zwölf ist, weshalb er sich darum bemüht, die "dunkle Woge seiner Gefühle" ins Väterliche hinüberzuleiten.
Bisweilen kommt aus dem Nachbardorf der faschistische Ortswart herüber, ein vormaliger Viehdieb, und schwadroniert vom Bau einer Straße, mit der Licudi an die Moderne angeschlossen würde - für Giuliano eine Schreckensvision, die er am Ende selbst umsetzt, als er auf seinem Gelände eine antike Grabstätte entdeckt und die Behörden zur Bergung der archäologischen Kostbarkeiten den Bau der Straße in Angriff nehmen. Die uralten Olivenbäume werden gefällt, Grundstücksspekulation und touristische Erschließung beginnen, und dann sind plötzlich, dank der Achse Berlin-Rom, auch die Deutschen in Licudi.
Bisweilen wurde der Zyklus mit Proust verglichen, an den Andrea Giovene allerdings weder in der Figurenpsychologie noch in der Gesellschaftsanalyse und der Kommentierung politischer Ereignisse heranreicht, auch wenn sein - von Moshe Kahn geschmeidig ins Deutsche übertragener - Satzbau ebenfalls zum Verschachteln neigt und der Erzähler die Schilderung seiner Erlebnisse mit ausgiebigen, leider nicht immer überzeugenden Räsonnements anzureichern pflegt. Wo Giovene aber seine etwas unglückliche Liebe zur Reflexion im Zaum hält und einfach beschreibt, dort entwickelt die romanhafte Autobiographie Faszination und literarische Qualitäten.
Das gilt insbesondere für den herausragenden vierten Band "Fremde Mächte", der den Jahren des Zweiten Weltkriegs gewidmet ist. Giuliano wird einberufen und erlebt die faschistische Armee als Sumpf der Korruption. Die Offiziere sind vor allem damit beschäftigt, ihre Karrieren voranzubringen. Sie erteilen den Soldaten unsinnige Befehle und kämpfen mit den überreichlichen Mahlzeiten in der Etappe. In satirischer Zuspitzung beschreibt Giovene Kommandeure, die im bürgerlichen Leben "Nullen" waren und nun den Rausch der Macht auskosten. Noch erbärmlicher erscheint die Moral der Truppe, wenn Giuliano beschämt die italienische Besatzung in Griechenland schildert. Da ist nur noch von Schiebereien, Intrigen und Prostitution die Rede. Aber warum heißt es wiederholt, dass Giulianos Abteilung "aus alten Lanzenreitern" besteht? Handelt es sich um einen Missgriff der Übersetzung, oder war Mussolinis Militär tatsächlich so antiquiert ausgerüstet?
Als Italien im September 1943 die Seiten wechselt, wird Giuliano in Griechenland mit anderen italienischen Soldaten von der Wehrmacht gefangen genommen und in wochenlanger Reise im offenen Waggon zunächst in ein Lager in der Nähe von Lemberg verfrachtet, später nach Soltau in der Lüneburger Heide, wo die Deutschen zuvor 15.000 Rotarmisten hatten elend verhungern lassen. Mit sparsamem Kalorienverbrauch (möglichst wenig Bewegung) versuchen die Italiener bis zur unvermeidlichen deutschen Niederlage zu überleben. Die Republik von Salò - der faschistische Marionettenstaat in Norditalien - schickt einen Waggon voller Kekse für willige Überläufer. Giuliano hilft sich mit asketischer Selbstdisziplin und Tagebuchschreiben. Ab Herbst 1944 wird er dann als Zwangsarbeiter in einer Kleinstadt an der Elbe eingesetzt, bevor es ihn im Inferno des Kriegsendes noch ins umkämpfte Berlin verschlägt.
Es gibt in diesem Band, der hohe dokumentarische Qualitäten besitzt, viele starke Szenen und Beobachtungen, etwa wenn Giovene beschreibt, wie sich die deutschen Passanten daran gewöhnt haben, den alltäglichen Anblick von Zwangsarbeitern und Häftlingen gleichsam wegzufiltern: "Sie sahen uns demonstrativ nicht an." Eindringliche Charakterskizzen wechseln mit der Darstellung von Bombenangriffen, panischen Flüchtlingstrecks und stillen Momenten in der Natur. Zu den einprägsamsten Gestalten gehört - kein Scherz - ein Gänsepaar. Bei einem Bombenangriff erleidet Giuliano eine schwere Gesichtsverletzung; nur haarscharf entgeht er dem Tod.
Der abschließende, schwächere Band "Der letzte Sansevero" handelt von den Nachkriegsjahren in Italien. Giuliano arbeitet im zerstörten Neapel einige Jahre als Journalist für eine Zeitung namens "Der freie Vesuv" und erlebt hautnah mit, wie Korruption und Intrigenwirtschaft zu neuer Blüte kommen, nun auch unter lebhafter Beteiligung der Mafia. Die zweite Hälfte spielt in London, wo er sich als Sammler von Antiquitäten umtut, eigentlich aber auf der Suche nach einer ganz besonderen Rarität ist: seiner inzwischen erwachsenen Tochter, die er nie gekannt hat, weil er sich von ihrer Mutter schon getrennt hat, als sie - wahrscheinlich - von ihm schwanger war. Aus der Begegnung entwickelt sich eine dieser heiklen, unlebbaren Beinahe-Liebesgeschichten, die Giulianos Schicksal zu sein scheinen.
Man muss die fünf Bände nicht hintereinander lesen. Jeder Teil der Biographie steht für sich, jeder hat einen eigenen Charakter: Das gilt verstärkt für den dritten Band, der die archaische Anderswelt von Licudi beschwört, und den vierten über die Erlebnisse im Weltkrieg. Allein für diese beiden erfahrungssatten und ganz eigenständig lesbaren Bücher darf man dem Verlag und dem Übersetzer Moshe Kahn danken. WOLFGANG SCHNEIDER
Andrea Giovene:
"Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero - Das Haus der Häuser".
Roman.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2023.
304 S., geb., 26,- Euro.
Andrea Giovene:
"Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero - Fremde Mächte".
Roman.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2023. 336 S., geb., 26,- Euro.
Andrea Giovene:
"Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero -
Der letzte Sansevero".
Roman.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2023. 336 S., geb., 26,- Euro.
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Rezensentin Maike Albath freut sich, dass Andrea Giovenes autobiografische Romanserie nun komplett auf Deutsch vorliegt, in der ausgezeichneten Übersetzung Moshe Kahns. Das vierbändige Werk des 1995 verstorbenen Italieners folgt, erfahren wir, dem Lebenslauf seines Alter Egos namens Giuliano di Sansevero, der, einem neapolitanischen Adelsgeschlecht entstammend, nach dem 1. Weltkrieg zum Soldaten wird, nach dem zweiten in Kriegsgefangenschaft gerät und schließlich im fünften Band die italienischen Nachkriegswirren durchlebt. Man sollte alle Bände lesen, und zwar am Stück, empfiehlt Albath, nur so entfaltet das panoramatisch aufbereitete Leben seinen vollen Reiz. Die bestimmende Eigenschaft der Hauptfigur ist ihr Stoizismus, beschreibt die Rezensentin, toll sind etwa die Passagen, die im Kriegsgefangenenlager spielen und zeigen, wie Sansevero diese dank seiner Selbstdisziplin übersteht. Albath identifiziert gelegentliche Längen und ein dem 19. Jahrhundert entstammendes Frauenbild, das sich in den meist unglücklich verlaufenden Liebesgeschichten der Hauptfigur niederschlägt. Voll durchgesetzt als Literat hat sich Giovene nie, so Albath am Ende ihrer Besprechung, umso schöner, dass man ihn nun entdecken kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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