1828 kam Victor Hugo über den Platz der Guillotine, als dort die letzten Vorbereitungen für eine Hinrichtung getroffen wurden. Der Scharfrichter veranstaltete eine Art Generalprobe. Am anderen Morgen setzte sich Victor Hugo an seinen Schreibtisch und begann die Niederschrift seines Buches Der letzte Tag eines Verurteilten. 1829 erschien das dramatische Plädoyer gegen die Todesstrafe. Ein dramatischeres wurde in der Tat wohl niemals geschrieben. Daß Hugo sich in das Leid der anderen versenken konnte, ist die große Quelle seiner Kraft und seiner Wirkung. Daß wir neben dem Verstand und dem Gefühl des Dichters das Herz des großen Menschen spüren, das sichert dieser spannenden, packenden und ergreifenden Erzählung ihren mitreißenden Erfolg.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.04.2007Ablauf des Lebens
Christian Brückner liest V. Hugo: „Der letzte Tag eines Verurteilten”
Um acht Uhr morgens im August bei Sonnenschein wird X zum Tode verurteilt. Sechs Wochen darauf wird er „hingerichtet” werden, „hin” zum Tode durch die Rechtsprechung, wie man den Mord durch Staatsgewalt nennt. Noch immer gehört die Todesstrafe zu den Mitteln der sogenannten Rechtsprechung, wenn auch nicht in unserem Land. Auch wegen dieser andauernden faktischen Beständigkeit gehört Victor Hugos Erzählung „Der letzte Tag eines Verurteilten”, die er um 1829 schrieb, nicht nur zu den historischen Dokumenten.
Christian Brückner hat sich einen Stoff gegriffen, der ihn wieder einmal zur Meisterleistung beflügelt: Der Verurteilte, ein 40-jähriger Mann, ein Sohn, Gatte, Vater, dessen Leben vor der Verurteilung Victor Hugo aber nur andeutet, um die Niederschrift eines Gebildeten plausibel erscheinen zu lassen, dieser Mann beschreibt sein Gefängnis und dessen Personal und wie er von der vergehenden Zeit, in dieser grausamen Umgebung einem Verbrechen entgegengetrieben wird, das beraten, beschlossen, beurkundet, erneut erwogen und geprüft, von letzter staatlicher Instanz bestätigt und besiegelt wurde und dessen Opfer er sein wird: Die Durchtrennung seines Halses mit einer Maschine, benannt nach einem Arzt, der sie 1789 empfohlen hatte: Joseph-Ignace Guillotin. Bis 1977 war die Guillotine in Frankreich in Gebrauch.
Brüchige Stimme, klarer Ton
Was hatte Christian Brückner vorzutragen? Was geht einem vernunftbegabten Kaninchen durch den Kopf, das sechs Wochen lang auf den Fütterungstermin der Schlange wartet? Fluchterwägungen, sinnlose, gewiss; die Beobachtungen des eigenen Körpers, seiner Ausfallerscheinungen, seiner Erholung, neuer Zusammenbrüche, weil sich der Instinkt nicht beruhigen lässt, weil der Körper leben will; philosophische Erwägungen, die mangels Übung nicht mehr zum Trost gereichen können; Anschauung entsetzlichsten Schauspiels im Gefängnis: das Schmieden der Häftlinge in eiserne Rahmen um den Hals und an Ketten; Erinnerungsfenster der Kinderzeit; wirre Träume; die Routine der kirchlichen und der weltlichen Mordhelfer; schließlich die Begegnung mit dem Henker selbst zur „Toilette”: dem Abschneiden der Haare und des Hemdkragens, und die Fahrt durch die laute Menschenmasse zur Freilichtbühne der Justiz: dem Schafott.
Christian Brückners brüchige Stimme ist ein geeignetes Werkzeug. Er kennt nicht nur seine Möglichkeiten der Interpretation – feste Stimme hier, scheinbares Ersticken in Tränen dort –, die den Hörer fesselt, sondern auch das Maß der effektvollen Pause. Jener überraschenden Leerstelle im vermeintlichen Wortfluss, die den Hörer nervös macht und in Anspannung versetzt und die im richtigen Moment endet.
Die angemessene Langsamkeit, mit der Brückner auf das letzte Wort des Textes hinarbeitet, gibt dem Hörer Raum, sich selbst in diese grauenhafte Geschichte zu denken. Oder auch zu überlegen, wie das, was der Staat heute mit derselben Überzeugung seines Rechtes tut und von der Masse als genauso vernünftig angesehen wird wie die Todesstrafe vor nur wenigen Jahrzehnten, nämlich die jahrelange Freiheitsberaubung, unser Denken und unser armseliges Bild von uns selbst als ewig der Abschreckung Bedürftigen beeinflusst.
Alfred Wolfenstein, der große Übersetzer, der auch ein Lyriker und Dramatiker war, bemerkte zu Hugos Erzählung: „Die Todesstrafe ist das sichtbarste Zeichen der barbarischen Anschauung, die in der Strafe Vergeltung sieht.” Man sehe den Superlativ und bedenke kühl, ob unsere Gefängnisse entgegen ihrem offiziellen Zweck der „Resozialisierung”, die sie nicht bewerkstelligen, auch Zeichen derselben Barbarei sein könnten, sorgsam versteckt an den Rändern unserer Städte. MARTIN Z. SCHRÖDER
VICTOR HUGO: Der letzte Tag eines Verurteilten. Erzählung. Aus dem Französischen von Alfred Wolfenstein. Gesprochen von Christian Brückner. 138 min., Edition Parlando 2007. 2 CD, 19,95 Euro.
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Christian Brückner liest V. Hugo: „Der letzte Tag eines Verurteilten”
Um acht Uhr morgens im August bei Sonnenschein wird X zum Tode verurteilt. Sechs Wochen darauf wird er „hingerichtet” werden, „hin” zum Tode durch die Rechtsprechung, wie man den Mord durch Staatsgewalt nennt. Noch immer gehört die Todesstrafe zu den Mitteln der sogenannten Rechtsprechung, wenn auch nicht in unserem Land. Auch wegen dieser andauernden faktischen Beständigkeit gehört Victor Hugos Erzählung „Der letzte Tag eines Verurteilten”, die er um 1829 schrieb, nicht nur zu den historischen Dokumenten.
Christian Brückner hat sich einen Stoff gegriffen, der ihn wieder einmal zur Meisterleistung beflügelt: Der Verurteilte, ein 40-jähriger Mann, ein Sohn, Gatte, Vater, dessen Leben vor der Verurteilung Victor Hugo aber nur andeutet, um die Niederschrift eines Gebildeten plausibel erscheinen zu lassen, dieser Mann beschreibt sein Gefängnis und dessen Personal und wie er von der vergehenden Zeit, in dieser grausamen Umgebung einem Verbrechen entgegengetrieben wird, das beraten, beschlossen, beurkundet, erneut erwogen und geprüft, von letzter staatlicher Instanz bestätigt und besiegelt wurde und dessen Opfer er sein wird: Die Durchtrennung seines Halses mit einer Maschine, benannt nach einem Arzt, der sie 1789 empfohlen hatte: Joseph-Ignace Guillotin. Bis 1977 war die Guillotine in Frankreich in Gebrauch.
Brüchige Stimme, klarer Ton
Was hatte Christian Brückner vorzutragen? Was geht einem vernunftbegabten Kaninchen durch den Kopf, das sechs Wochen lang auf den Fütterungstermin der Schlange wartet? Fluchterwägungen, sinnlose, gewiss; die Beobachtungen des eigenen Körpers, seiner Ausfallerscheinungen, seiner Erholung, neuer Zusammenbrüche, weil sich der Instinkt nicht beruhigen lässt, weil der Körper leben will; philosophische Erwägungen, die mangels Übung nicht mehr zum Trost gereichen können; Anschauung entsetzlichsten Schauspiels im Gefängnis: das Schmieden der Häftlinge in eiserne Rahmen um den Hals und an Ketten; Erinnerungsfenster der Kinderzeit; wirre Träume; die Routine der kirchlichen und der weltlichen Mordhelfer; schließlich die Begegnung mit dem Henker selbst zur „Toilette”: dem Abschneiden der Haare und des Hemdkragens, und die Fahrt durch die laute Menschenmasse zur Freilichtbühne der Justiz: dem Schafott.
Christian Brückners brüchige Stimme ist ein geeignetes Werkzeug. Er kennt nicht nur seine Möglichkeiten der Interpretation – feste Stimme hier, scheinbares Ersticken in Tränen dort –, die den Hörer fesselt, sondern auch das Maß der effektvollen Pause. Jener überraschenden Leerstelle im vermeintlichen Wortfluss, die den Hörer nervös macht und in Anspannung versetzt und die im richtigen Moment endet.
Die angemessene Langsamkeit, mit der Brückner auf das letzte Wort des Textes hinarbeitet, gibt dem Hörer Raum, sich selbst in diese grauenhafte Geschichte zu denken. Oder auch zu überlegen, wie das, was der Staat heute mit derselben Überzeugung seines Rechtes tut und von der Masse als genauso vernünftig angesehen wird wie die Todesstrafe vor nur wenigen Jahrzehnten, nämlich die jahrelange Freiheitsberaubung, unser Denken und unser armseliges Bild von uns selbst als ewig der Abschreckung Bedürftigen beeinflusst.
Alfred Wolfenstein, der große Übersetzer, der auch ein Lyriker und Dramatiker war, bemerkte zu Hugos Erzählung: „Die Todesstrafe ist das sichtbarste Zeichen der barbarischen Anschauung, die in der Strafe Vergeltung sieht.” Man sehe den Superlativ und bedenke kühl, ob unsere Gefängnisse entgegen ihrem offiziellen Zweck der „Resozialisierung”, die sie nicht bewerkstelligen, auch Zeichen derselben Barbarei sein könnten, sorgsam versteckt an den Rändern unserer Städte. MARTIN Z. SCHRÖDER
VICTOR HUGO: Der letzte Tag eines Verurteilten. Erzählung. Aus dem Französischen von Alfred Wolfenstein. Gesprochen von Christian Brückner. 138 min., Edition Parlando 2007. 2 CD, 19,95 Euro.
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