Pedro Almodóvar betritt die literarische Bühne: »Der letzte Traum«
Befreiung und Liebe sind die Lebensthemen von Pedro Almodóvar, einem der wichtigsten Filmemacher der Gegenwart, der auch ein leidenschaftlicher Schriftsteller ist. Mit zwölf Erzählungen betritt Pedro Almodóvar nun die literarische Bühne: Sie handeln von Paradiesvögeln und inbrünstigen Sängerinnen, von Schicksalsschlägen und radikalen Zäsuren, sie verhandeln die Abgründe und die Schönheit des Lebens. Wie kein anderer mischt dieser große Geschichtenerzähler tiefe Melancholie und grellen Humor - nicht zuletzt im Blick auf sich selbst.
Schonungslos und poetisch entsteht eine Autobiographie im Spiegel der Literatur, eine Feier des Lebens und der Kunst.
Befreiung und Liebe sind die Lebensthemen von Pedro Almodóvar, einem der wichtigsten Filmemacher der Gegenwart, der auch ein leidenschaftlicher Schriftsteller ist. Mit zwölf Erzählungen betritt Pedro Almodóvar nun die literarische Bühne: Sie handeln von Paradiesvögeln und inbrünstigen Sängerinnen, von Schicksalsschlägen und radikalen Zäsuren, sie verhandeln die Abgründe und die Schönheit des Lebens. Wie kein anderer mischt dieser große Geschichtenerzähler tiefe Melancholie und grellen Humor - nicht zuletzt im Blick auf sich selbst.
Schonungslos und poetisch entsteht eine Autobiographie im Spiegel der Literatur, eine Feier des Lebens und der Kunst.
Geschichten träumen mit Pedro Almodóvar
Von Bert Rebhandl
Pedro Almodóvar hat einen Traum. Keinen erfreulichen, eher einen schrecklichen. Er kommt auf einen Filmset, hat einen Drehtag vor sich, viele Menschen warten auf ihn, Beleuchter, Kabelträger, Kameraleute und natürlich Schauspieler. Er möchte die ersten Anweisungen geben, aber irgendetwas klappt nicht. Er kann sich nicht mitteilen, die Atmosphäre ist "dicht", zwischen ihm und der Welt, zwischen ihm und dem Kino ist eine Barriere, über die er nicht hinwegkommt. Vermutlich haben die meisten Filmemacher ab und zu ähnliche Albträume. Und Pedro Almodóvar kann ja auf eine sehr lange Liste von Titeln zurückblicken, die bezeugen, dass er die Barriere immer wieder überwunden hat. Er ist der größte Filmemacher Spaniens, vielleicht sogar Europas. Er ist die Verkörperung des demokratischen Aufbruchs seines Landes, seine Jugend verbrachte er noch in einer klerikal gefärbten Diktatur. Nächstes Jahr wird er 75 Jahre alt, er könnte sich längst zur Ruhe setzen.
Aber dazu hat er noch zu viele Träume. Einer davon ist schon ganz konkret: Im März 2024 erscheint sein Buch "Der letzte Traum". Es enthält Erzählungen, die er im Lauf seines Lebens geschrieben hat. Anstelle einer Autobiographie, die er nie schreiben will. Weil sein Terminkalender sehr eng getaktet ist, macht er jetzt schon einmal ein bisschen Presse für sein Buch. Und so sitzen am letzten Donnerstagnachmittag dieses Oktobers ein paar Journalisten aus allen Gegenden Europas vor ihren Bildschirmen und in einem Zoom-Raum mit Almodóvar.
Der hat einen klassischen Hintergrund gewählt: eine Bücherwand, vielleicht eher die in seinem Verlag als seine eigene. Die stellt man sich ein wenig lebendiger vor, nicht so ehrwürdig und bildungsschwer. Jeder Teilnehmer darf eine Frage stellen, eine zweite geht sich dann auch noch aus, alle warten beflissen reihum, bis sie ihr Mikro einschalten dürfen.
Schriftsteller zu werden, das war sein erster Traum, so kann man es in seinem Buch lesen. Gibt es nun, da er auf eine reiche Karriere im Kino zurückblicken kann, so etwas wie ein spätes Bedauern, dass er das Feld der Literatur nur beiläufig gepflegt hat? "Ich muss realistisch sein. Ich kann kleine Geschichten schreiben und alle meine Drehbücher. Aber einen großen Roman habe ich nicht in mir, das wäre nicht gut genug, da hätte ich höhere Ansprüche." Die Geschichten aus "Der letzte Traum" haben tatsächlich alle eine beiläufige Anmutung und sind in der Lebensgeschichte von Almodóvar verhaftet. Die Titelgeschichte erzählt vom Tod seiner Mutter und von dem Rätsel, das jeder Mensch für die anderen ist - Träume sind nun einmal unerreichbar, niemand kann in die Träume von jemand anderem wirklich hineinschauen.
Eine Kollegin aus Polen fragt Almodóvar danach, ob er - ähnlich wie fast alle seiner Filmfiguren - viel Schmerz in seinem Leben gekannt habe. "Schmerz ist ein Teil unseres Lebens, körperlicher wie seelischer Schmerz", antwortet er. "In meiner Familie gab es immer schon Migräne. Seit 2005 bin ich auch getroffen. Glauben Sie mir, eine Migräne hat mit Kopfschmerzen nichts zu tun. Das ist etwas ganz anderes. Aber was soll ich sagen? Schmerz gibt einem ein tieferes Verständnis des Lebens."
In der ersten Geschichte seines Buchs kommt eine Frau in einem extravaganten Kleid, mit dem sie ihre Verehrung für Marlene Dietrich kundtut, in ein katholisches Internat und konfrontiert dort den Schulleiter mit den Sünden, die an ihrem Bruder begangen wurden. Almodóvar ging selbst in eine solche Schule, sexuelle Repression und deren Überwindung sind ein Lebensthema. "Wenn die Kirche ihre Priester heiraten lassen würde, wenn sie den Zölibat abschaffen würde, wenn alle Kleriker ein sexuelles Leben haben könnten: Ich bin sicher, neunzig Prozent der Missbräuche würden unterbleiben. Ich wusste damals von vielen Fällen in meiner unmittelbaren Umgebung. Drei Jahre lang war ich ein ,interno', lebte im Internat, es war wie 'Big Brother'."
Als er zehn Jahre war, bekam er von seiner Mutter eine Schreibmaschine geschenkt. Und als er aus La Mancha nach Madrid kam, entdeckte er Super 8. Almodóvar war für ganz Europa ein Pionier einer queeren Gesellschaft, in der Menschen ihre Rollen wechseln konnten und immer wieder auch mussten, um dem Leidensdruck zu entkommen, der ihnen von den Traditionen auferlegt wurde. Derzeit ist er viel in New York, weil er dort ein Kammerspiel mit Cate Blanchett drehen möchte. Doch seine wahre Heimat bleibt Madrid: "Ich brauche die Geräusche der Stadt vor meinem Fenster, um mich wohlzufühlen." Das Schreiben, und zwar nicht nur von Drehbüchern, ist inzwischen sein täglicher Begleiter. "Ich habe nie Tagebuch geführt, aber inzwischen mache ich etwas Vergleichbares. Ich notiere mir etwas aus dem Leben und verwandle es in kleine Erzählungen. Man nennt das Autofiktion."
Wenn später einmal jemand den Nachlass von Pedro Almodóvar aufarbeitet, wer weiß, vielleicht findet sich dann sogar ein unerwarteter Text, den man als eine Art Roman lesen kann. Bis dahin möge er aber noch viele Filmsets betreten und sich dort problemlos Gehör verschaffen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Bert Rebhandl
Pedro Almodóvar hat einen Traum. Keinen erfreulichen, eher einen schrecklichen. Er kommt auf einen Filmset, hat einen Drehtag vor sich, viele Menschen warten auf ihn, Beleuchter, Kabelträger, Kameraleute und natürlich Schauspieler. Er möchte die ersten Anweisungen geben, aber irgendetwas klappt nicht. Er kann sich nicht mitteilen, die Atmosphäre ist "dicht", zwischen ihm und der Welt, zwischen ihm und dem Kino ist eine Barriere, über die er nicht hinwegkommt. Vermutlich haben die meisten Filmemacher ab und zu ähnliche Albträume. Und Pedro Almodóvar kann ja auf eine sehr lange Liste von Titeln zurückblicken, die bezeugen, dass er die Barriere immer wieder überwunden hat. Er ist der größte Filmemacher Spaniens, vielleicht sogar Europas. Er ist die Verkörperung des demokratischen Aufbruchs seines Landes, seine Jugend verbrachte er noch in einer klerikal gefärbten Diktatur. Nächstes Jahr wird er 75 Jahre alt, er könnte sich längst zur Ruhe setzen.
Aber dazu hat er noch zu viele Träume. Einer davon ist schon ganz konkret: Im März 2024 erscheint sein Buch "Der letzte Traum". Es enthält Erzählungen, die er im Lauf seines Lebens geschrieben hat. Anstelle einer Autobiographie, die er nie schreiben will. Weil sein Terminkalender sehr eng getaktet ist, macht er jetzt schon einmal ein bisschen Presse für sein Buch. Und so sitzen am letzten Donnerstagnachmittag dieses Oktobers ein paar Journalisten aus allen Gegenden Europas vor ihren Bildschirmen und in einem Zoom-Raum mit Almodóvar.
Der hat einen klassischen Hintergrund gewählt: eine Bücherwand, vielleicht eher die in seinem Verlag als seine eigene. Die stellt man sich ein wenig lebendiger vor, nicht so ehrwürdig und bildungsschwer. Jeder Teilnehmer darf eine Frage stellen, eine zweite geht sich dann auch noch aus, alle warten beflissen reihum, bis sie ihr Mikro einschalten dürfen.
Schriftsteller zu werden, das war sein erster Traum, so kann man es in seinem Buch lesen. Gibt es nun, da er auf eine reiche Karriere im Kino zurückblicken kann, so etwas wie ein spätes Bedauern, dass er das Feld der Literatur nur beiläufig gepflegt hat? "Ich muss realistisch sein. Ich kann kleine Geschichten schreiben und alle meine Drehbücher. Aber einen großen Roman habe ich nicht in mir, das wäre nicht gut genug, da hätte ich höhere Ansprüche." Die Geschichten aus "Der letzte Traum" haben tatsächlich alle eine beiläufige Anmutung und sind in der Lebensgeschichte von Almodóvar verhaftet. Die Titelgeschichte erzählt vom Tod seiner Mutter und von dem Rätsel, das jeder Mensch für die anderen ist - Träume sind nun einmal unerreichbar, niemand kann in die Träume von jemand anderem wirklich hineinschauen.
Eine Kollegin aus Polen fragt Almodóvar danach, ob er - ähnlich wie fast alle seiner Filmfiguren - viel Schmerz in seinem Leben gekannt habe. "Schmerz ist ein Teil unseres Lebens, körperlicher wie seelischer Schmerz", antwortet er. "In meiner Familie gab es immer schon Migräne. Seit 2005 bin ich auch getroffen. Glauben Sie mir, eine Migräne hat mit Kopfschmerzen nichts zu tun. Das ist etwas ganz anderes. Aber was soll ich sagen? Schmerz gibt einem ein tieferes Verständnis des Lebens."
In der ersten Geschichte seines Buchs kommt eine Frau in einem extravaganten Kleid, mit dem sie ihre Verehrung für Marlene Dietrich kundtut, in ein katholisches Internat und konfrontiert dort den Schulleiter mit den Sünden, die an ihrem Bruder begangen wurden. Almodóvar ging selbst in eine solche Schule, sexuelle Repression und deren Überwindung sind ein Lebensthema. "Wenn die Kirche ihre Priester heiraten lassen würde, wenn sie den Zölibat abschaffen würde, wenn alle Kleriker ein sexuelles Leben haben könnten: Ich bin sicher, neunzig Prozent der Missbräuche würden unterbleiben. Ich wusste damals von vielen Fällen in meiner unmittelbaren Umgebung. Drei Jahre lang war ich ein ,interno', lebte im Internat, es war wie 'Big Brother'."
Als er zehn Jahre war, bekam er von seiner Mutter eine Schreibmaschine geschenkt. Und als er aus La Mancha nach Madrid kam, entdeckte er Super 8. Almodóvar war für ganz Europa ein Pionier einer queeren Gesellschaft, in der Menschen ihre Rollen wechseln konnten und immer wieder auch mussten, um dem Leidensdruck zu entkommen, der ihnen von den Traditionen auferlegt wurde. Derzeit ist er viel in New York, weil er dort ein Kammerspiel mit Cate Blanchett drehen möchte. Doch seine wahre Heimat bleibt Madrid: "Ich brauche die Geräusche der Stadt vor meinem Fenster, um mich wohlzufühlen." Das Schreiben, und zwar nicht nur von Drehbüchern, ist inzwischen sein täglicher Begleiter. "Ich habe nie Tagebuch geführt, aber inzwischen mache ich etwas Vergleichbares. Ich notiere mir etwas aus dem Leben und verwandle es in kleine Erzählungen. Man nennt das Autofiktion."
Wenn später einmal jemand den Nachlass von Pedro Almodóvar aufarbeitet, wer weiß, vielleicht findet sich dann sogar ein unerwarteter Text, den man als eine Art Roman lesen kann. Bis dahin möge er aber noch viele Filmsets betreten und sich dort problemlos Gehör verschaffen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2024Warum die Wirklichkeit der Fiktion bedarf
Ein Schriftsteller von Jugend an: Pedro Almodóvar versammelt in "Der letzte Traum" zwölf eigene Erzählungen aus fünf Jahrzehnten
Pedro Almodóvar hat noch keine Autobiographie geschrieben. Am mangelnden Lebensstoff kann es nicht gelegen haben: Was hätte es da nicht alles zu erzählen gegeben, von der Kindheit in der Provinz von Ciudad Real in La Mancha, zur Erfahrung der Klosterschule in Cáceres, seinem Umzug nach Madrid im Jahr 1967 und dem dortigen Kontakt mit der experimentellen Film- und Theaterszene, der Movida der Siebzigerjahre, bis zum spektakulären Erfolg von "Alles über meine Mutter" (1999) oder etwa seiner spannungsvollen Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Antonio Banderas? Auch an der mangelnden Befähigung zum Schreiben lag es ganz sicher nicht. Es ist also sympathisch und souverän, dass Almodóvar statt Memoiren nun eine Sammlung von zwölf Erzählungen vorgelegt hat, die, wie der Autor im Vorwort schreibt, "einer fragmentierten, unvollständigen und etwas kryptischen Autobiographie denkbar nahe" kommen.
Der mittlerweile vierundsiebzigjährige, international gefeierte Filmregisseur hat sich nicht erst auf seine alten Tage als Literat versucht, sondern die "Der letzte Traum" versammelten Texte sind in dem langen Zeitrahmen von 1967 bis 2022 entstanden. Für ihre jetzige Veröffentlichung macht Almodóvar vor allem das Betreiben seiner langjährigen Assistentin Lola García verantwortlich, die seine Texte über die Jahre hinweg archiviert hatte und der er nun das resultierende Buch gewidmet hat. Es handelt sich also um ein intensives privates Schreibbedürfnis ("Von klein auf sah ich mich als Schriftsteller"), das gleichzeitig erstaunlich formbewusst ist und uns einen Almodóvar vor Augen führt, für den Kino, Leben und Literatur untrennbar verbunden sind. Dessen "literarische Berufung" hier selbst immer wieder zum Thema wird.
Der erste Text des Bandes, "Der Besuch", offenbar 1967, also noch vor dem Beginn der Filmkarriere entstanden, erzählt vom Besuch einer extravagant gekleideten Dame in einer Schule des Salesianerordens, mit dessen Direktor sie eine alte Rechnung zu begleichen hat. Die Erzählung ist atmosphärisch dicht, zeichnet sich durch einen präzise entwickelten Dialog aus, von der Dramaturgie her ist es eine geradezu klassisch komponierte Kurzgeschichte. Für Kenner von Almodóvar ist ersichtlich, dass sie auf seinen späteren Film "Schlechte Erziehung" (2004) vorausdeutet, in dem just eine Erzählung namens "Der Besuch" eine zentrale Rolle spielt.
In der folgenden Geschichte berichtet ein Theaterregisseur in eher persönlich-anekdotischem Stil von seiner Liebesbeziehung zu einem Schauspieler namens León, dessen "unbändiger postmoderner Geist" und "grenzüberschreitender Charakter" ihn dazu ermutigen, sich mit ihm gemeinsam die Werke von Tennessee Williams ("Endstation Sehnsucht"), Jean Cocteau ("Die menschliche Stimme") und John Cassavetes ("Opening Night") neu, und das heißt natürlich aus queerer Perspektive, anzueignen. Dass die ansonsten hervorragende Übersetzung von Angelica Ammar diese Erzählung mit dem Titel "Zu viele Geschlechtsumwandlungen" (im Original: "Demasiados cambios de género") versieht, ist unglücklich, da die darin geschilderte Ersetzung der Rolle der Blanche du Bois aus Williams' Stück durch einen männlichen Part ("Blanco del Bosque") einen Geschlechtswechsel, aber eben keine Geschlechtsumwandlung darstellt. Außerdem bezeichnet das spanische Wort für Geschlecht, "género", auch "Genre" - und diese osmotische Beziehung zwischen Film und Theater ist hier mitgemeint.
Weitere Erzählungen versuchen sich an von Camp infizierten Pastiches literarischer Genres: In "Die Spiegelzeremonie" ist das der Vampir- und Schauerroman, mit einer expliziten Reverenz an Matthew Lewis' "Der Mönch" (1796), in "Johanna, das Wahnröschen" ist es die Form des historischen Märchens, in "Die Erlösung" eine blasphemische Umdeutung der Figur des Barrabas aus den Evangelien - hier erzählt aus der Perspektive des Kerkermeisters.
Das titelgebende kurze Stück "Der letzte Traum" ist eine bewegende Hommage an Almodóvars Mutter, geschrieben anlässlich ihres Todes. Die Mutter hatte einst auf dem Land den analphabetischen Nachbarn aus Briefen vorgelesen und diese dabei freimütig "ergänzt" - eine Lektion für Almodóvar, der auf diese Weise lernte, "dass die Wirklichkeit der Fiktion bedarf, um vollständiger, angenehmer, lebenswerter zu sein". Eine weitere Hommage ("Adieu, Vulkan") gilt der 2012 verstorbenen mexikanischen Sängerin Chavela Vargas, mit der Almodóvar befreundet war und deren Lieder sich auf den Soundtracks mehrerer seiner Filme finden.
Die Erzählung "Leben und Tod des Miguel" (laut Almodóvar der einzige Text, den er nachträglich einer "leichten Überarbeitung" unterzogen hat) schildert das Leben eines Schriftstellers in umgekehrter Chronologie, vom Tod bis zur Geburt. Das wirkt manchmal etwas forciert, aber hier zeigt sich eine erstaunliche literarische Experimentierfreudigkeit, und in der paradoxen Verschränkung von Zeit, Leben und Tod gelingen pointierte Sätze, etwa wenn am Schluss der "Tod" von Miguel dem Moment seines Heranwachsens im Mutterleib entspricht: "Während der nächsten neun Monate wird Miguel nach und nach in ihr erlöschen. Danach wird niemand mehr an ihn denken." Der letzte und jüngste Text des Bandes ("Ein schlechter Roman") ist eine essayistische Reflexion über das Schreiben, über das Verhältnis von Drehbuch und Roman, die Wahlverwandtschaft des Autors mit den Verfassern "literarischer" Drehbücher (Rohmer, Bergman). Bei Emmanuel Carrère findet er ein Zitat von Ludwig Börne, über die "Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden": "Schreibt [...] alles nieder, was Euch durch den Kopf geht." Auf die Kunst, zu schreiben, "was ihn das Herz gelehrt" (Börne), mal durchkomponiert, mal improvisiert, hat Almodóvar ein ganzes Künstlerleben verwandt. JOBST WELGE
Pedro Almodóvar: "Der letzte Traum". Zwölf Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2024.
400 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Schriftsteller von Jugend an: Pedro Almodóvar versammelt in "Der letzte Traum" zwölf eigene Erzählungen aus fünf Jahrzehnten
Pedro Almodóvar hat noch keine Autobiographie geschrieben. Am mangelnden Lebensstoff kann es nicht gelegen haben: Was hätte es da nicht alles zu erzählen gegeben, von der Kindheit in der Provinz von Ciudad Real in La Mancha, zur Erfahrung der Klosterschule in Cáceres, seinem Umzug nach Madrid im Jahr 1967 und dem dortigen Kontakt mit der experimentellen Film- und Theaterszene, der Movida der Siebzigerjahre, bis zum spektakulären Erfolg von "Alles über meine Mutter" (1999) oder etwa seiner spannungsvollen Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Antonio Banderas? Auch an der mangelnden Befähigung zum Schreiben lag es ganz sicher nicht. Es ist also sympathisch und souverän, dass Almodóvar statt Memoiren nun eine Sammlung von zwölf Erzählungen vorgelegt hat, die, wie der Autor im Vorwort schreibt, "einer fragmentierten, unvollständigen und etwas kryptischen Autobiographie denkbar nahe" kommen.
Der mittlerweile vierundsiebzigjährige, international gefeierte Filmregisseur hat sich nicht erst auf seine alten Tage als Literat versucht, sondern die "Der letzte Traum" versammelten Texte sind in dem langen Zeitrahmen von 1967 bis 2022 entstanden. Für ihre jetzige Veröffentlichung macht Almodóvar vor allem das Betreiben seiner langjährigen Assistentin Lola García verantwortlich, die seine Texte über die Jahre hinweg archiviert hatte und der er nun das resultierende Buch gewidmet hat. Es handelt sich also um ein intensives privates Schreibbedürfnis ("Von klein auf sah ich mich als Schriftsteller"), das gleichzeitig erstaunlich formbewusst ist und uns einen Almodóvar vor Augen führt, für den Kino, Leben und Literatur untrennbar verbunden sind. Dessen "literarische Berufung" hier selbst immer wieder zum Thema wird.
Der erste Text des Bandes, "Der Besuch", offenbar 1967, also noch vor dem Beginn der Filmkarriere entstanden, erzählt vom Besuch einer extravagant gekleideten Dame in einer Schule des Salesianerordens, mit dessen Direktor sie eine alte Rechnung zu begleichen hat. Die Erzählung ist atmosphärisch dicht, zeichnet sich durch einen präzise entwickelten Dialog aus, von der Dramaturgie her ist es eine geradezu klassisch komponierte Kurzgeschichte. Für Kenner von Almodóvar ist ersichtlich, dass sie auf seinen späteren Film "Schlechte Erziehung" (2004) vorausdeutet, in dem just eine Erzählung namens "Der Besuch" eine zentrale Rolle spielt.
In der folgenden Geschichte berichtet ein Theaterregisseur in eher persönlich-anekdotischem Stil von seiner Liebesbeziehung zu einem Schauspieler namens León, dessen "unbändiger postmoderner Geist" und "grenzüberschreitender Charakter" ihn dazu ermutigen, sich mit ihm gemeinsam die Werke von Tennessee Williams ("Endstation Sehnsucht"), Jean Cocteau ("Die menschliche Stimme") und John Cassavetes ("Opening Night") neu, und das heißt natürlich aus queerer Perspektive, anzueignen. Dass die ansonsten hervorragende Übersetzung von Angelica Ammar diese Erzählung mit dem Titel "Zu viele Geschlechtsumwandlungen" (im Original: "Demasiados cambios de género") versieht, ist unglücklich, da die darin geschilderte Ersetzung der Rolle der Blanche du Bois aus Williams' Stück durch einen männlichen Part ("Blanco del Bosque") einen Geschlechtswechsel, aber eben keine Geschlechtsumwandlung darstellt. Außerdem bezeichnet das spanische Wort für Geschlecht, "género", auch "Genre" - und diese osmotische Beziehung zwischen Film und Theater ist hier mitgemeint.
Weitere Erzählungen versuchen sich an von Camp infizierten Pastiches literarischer Genres: In "Die Spiegelzeremonie" ist das der Vampir- und Schauerroman, mit einer expliziten Reverenz an Matthew Lewis' "Der Mönch" (1796), in "Johanna, das Wahnröschen" ist es die Form des historischen Märchens, in "Die Erlösung" eine blasphemische Umdeutung der Figur des Barrabas aus den Evangelien - hier erzählt aus der Perspektive des Kerkermeisters.
Das titelgebende kurze Stück "Der letzte Traum" ist eine bewegende Hommage an Almodóvars Mutter, geschrieben anlässlich ihres Todes. Die Mutter hatte einst auf dem Land den analphabetischen Nachbarn aus Briefen vorgelesen und diese dabei freimütig "ergänzt" - eine Lektion für Almodóvar, der auf diese Weise lernte, "dass die Wirklichkeit der Fiktion bedarf, um vollständiger, angenehmer, lebenswerter zu sein". Eine weitere Hommage ("Adieu, Vulkan") gilt der 2012 verstorbenen mexikanischen Sängerin Chavela Vargas, mit der Almodóvar befreundet war und deren Lieder sich auf den Soundtracks mehrerer seiner Filme finden.
Die Erzählung "Leben und Tod des Miguel" (laut Almodóvar der einzige Text, den er nachträglich einer "leichten Überarbeitung" unterzogen hat) schildert das Leben eines Schriftstellers in umgekehrter Chronologie, vom Tod bis zur Geburt. Das wirkt manchmal etwas forciert, aber hier zeigt sich eine erstaunliche literarische Experimentierfreudigkeit, und in der paradoxen Verschränkung von Zeit, Leben und Tod gelingen pointierte Sätze, etwa wenn am Schluss der "Tod" von Miguel dem Moment seines Heranwachsens im Mutterleib entspricht: "Während der nächsten neun Monate wird Miguel nach und nach in ihr erlöschen. Danach wird niemand mehr an ihn denken." Der letzte und jüngste Text des Bandes ("Ein schlechter Roman") ist eine essayistische Reflexion über das Schreiben, über das Verhältnis von Drehbuch und Roman, die Wahlverwandtschaft des Autors mit den Verfassern "literarischer" Drehbücher (Rohmer, Bergman). Bei Emmanuel Carrère findet er ein Zitat von Ludwig Börne, über die "Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden": "Schreibt [...] alles nieder, was Euch durch den Kopf geht." Auf die Kunst, zu schreiben, "was ihn das Herz gelehrt" (Börne), mal durchkomponiert, mal improvisiert, hat Almodóvar ein ganzes Künstlerleben verwandt. JOBST WELGE
Pedro Almodóvar: "Der letzte Traum". Zwölf Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2024.
400 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Man lernt viel über den Menschen Pedro Almodóvar in diesem Buch, findet Rezensent Dirk Fuhrig. Der Regisseur, der ursprünglich Schriftsteller werden wollte, legt nun einen Erzählband vor, der teils deutlich auf sein filmisches Werk verweist, in erster Linie aber, wie Fuhrig darlegt, auf Almodóvars biographische Prägungen Bezug nimmt. Eine Hommage an seine Mutter bringt der Autor ebenso in dem Buch unter wie eine Thematisierung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, führt der Rezensent aus. Zentral geht es außerdem immer wieder um den Wunsch danach, zu schreiben, schließt Fuhrig, der sich in der Zukunft auch über einen Almodóvar-Roman freuen würde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.04.2024Das Tier in
meinem Bett
In den Erzählungen des Regisseurs Pedro Almodóvar begegnet man
sämtlichen Leitmotiven seines Werks:
Pornos, Faschismus und der katholischen Kirche.
VON TOBIAS KNIEBE
Blut quillt plötzlich aus den Wunden der Christusfigur. Der dunkle Graf erhebt sich vom Altar, legt seine Lippen an das Holz und saugt es begierig auf. In seinen Augen leuchtet „die Glut eines erloschenen Feuers“. Und Pater Benito, der die Szene heimlich beobachtet, spürt ein ganz neues Verlangen: die blutig verschmierten Lippen des Grafen zu küssen – und zu werden wie er.
Was für eine gewaltige Filmszene, denkt man in diesem Moment, voll fließender, ja überquellender symbolischer Bezüge. Graf Dracula, der Vampir, hat den Jungfrauen abgeschworen und ist ins Kloster Athos gekommen. Dort sind mystische Blutwunder seine neue Nahrungsquelle, die wörtlich genommene christliche Eucharistie. Was wiederum im fastenden, sich selbst kasteienden Abt von Athos homoerotische Qual entfacht, gipfelnd in vier flehentlich gehauchten Worten: „Macht mich zum Vampir.“
Solche und ähnlich unvergessliche Visionen findet man in „Der letzte Traum“, einem neuen Band mit Erzählungen des spanischen Filmemachers Pedro Almodóvar. Sie reichen vom noch leicht ungelenken, vor Fantasie aber nur so strotzenden Jugendwerk bis hin zur melancholischen, tagebuchartigen Altersreflexion, und gesammelt zeigen sie einen Mann, der sich auch in seinen Filmen immer schon offenbart und entblößt hat. Vieles erkennt man wieder – aber vieles ist auch ganz neu.
Neu ist zum Beispiel Almodóvar, der Schöpfer von aufwendigen Fantasy-Epen, die verfilmt jede Menge Spezialeffekte brauchen würden. Als Regisseur gibt es ihn in dieser Ausprägung nicht, wohl aber, wie man jetzt merkt, als Autor.
Glaubt man etwa Almodóvars einordnenden Vorwort, hat er etwa seine Dracula-Fantasie auf dem Berg Athos schon in den frühen Siebzigerjahren geschrieben, heimlich nachts in den Büros des Telefónica-Konzerns, wo er zu jener Zeit angestellt war. Hätte er damals schon die nötigen Mittel gehabt, schreibt er, wäre, wer weiß?, aus der Kurzgeschichte „Die Spiegelzeremonie“ womöglich sein Regiedebüt geworden.
Es kam anders, und es ist auch gut, dass es anders kam. Weil an die Millionen nicht zu denken war, die zur Entfesselung solcher Visionen nötig gewesen wären, begann Almodóvar mit seinen Freunden aus dem queeren Underground der Madrider Movida kleine Filme wie „Labyrinth der Leidenschaften“ zu drehen, viel unaufwendiger und näher dran an seinem eigenen Leben. So wurde er eine entscheidende Stimme seiner Generation, gab einer wilden Epoche der spanischen Geschichte ihre filmische Gestalt und rückte erst im Lauf einer langen und fruchtbaren Karriere näher an die zeitlosen Mythen der Film- und Literaturgeschichte heran.
Das Buch zu lesen ist deshalb auch wie ein Spiel mit dem Titel „Was wäre, wenn“. Da erinnert Almodóvar sich an sich selbst als 17- oder 18-Jährigen mit schriftstellerischen Ambitionen, der im Hof des Elternhauses in Madrigalejo in der Extremadura auf eine Olivetti-Schreibmaschine hackt, „unter einem Dach aus wildem Wein, neben mir ein gehäutetes Kaninchen an einem Strick baumelnd“.
So entstand die Geschichte „Leben und Tod von Miguel“, die folgendermaßen beginnt: „Ein paar Familienangehörige und künftige Freunde wohnen Miguels Geburt bei, alle beobachten aufmerksam den Totengräber, der ohne Hast seiner Arbeit nachgeht. In den Mienen seiner Nächsten sind die natürliche Resignation und der Schmerz zu lesen, den solch ein trauriges Ereignis mit sich bringt. Miguel, alle kennen seinen Namen, wird unter tragischen Umständen zur Welt kommen.“
Die ziemlich jugendlich unerschrockene Idee ist es, ein Leben komplett in umgekehrter Reihenfolge zu erzählen – die Geburt ist die Exhumierung des Sarges. Anschließend liegt der Neugeborene ein paar Stunden als sehr erwachsene Leiche herum, dann beginnt seine Schusswunde zu bluten, magisch gesteuert tragen ihn die Helfer zu dem Ort, an dem er erschossen wurde, dort erwacht er schließlich, seine Wunde ist verschwunden und ein Leben beginnt, in dem allerdings alles schon vorgezeichnet ist. Auch das wäre ein faszinierender Film. „Jahrzehnte später hatte ich das Gefühl, dass Benjamin Button mir die Idee geklaut hat“, schreibt Almodóvar und klingt reumütig.
Ebenfalls in jungen Jahren entstand „Der Besuch“, eine Konfrontationsfantasie, in dem ein von Salesianer-Patern missbrauchter Schüler als Erwachsener in Frauenkleidern in das Internat seiner Qualen zurückkehrt und den Direktor zur Rede stellt. Erst Jahrzehnte später hat Almodóvar diese autobiografischen Schrecken in seinem Film „Schlechte Erziehung“ thematisiert und jene Traumata öffentlich gemacht, die er heute die „düstereren Zonen meiner späteren Kindheit“ nennt.
So mischt sich Biografisches, skizzenhaft Genialisches und wildes Herumfantasieren hier zu einer bunten Mischung. Nicht nur wird ein geläuterter Dracula ins Kloster geschickt; Christus verliebt sich in der Nacht vor der Kreuzigung in seinen Zellengenossen, den Verbrecher Barabbas; und auch Dornröschen lebt hier wieder auf und wird samt ihrem Wachküsser-Prinzen ohne Umschweife in die spanische Königsfolge integriert, als Juana I. von Kastilien, genannt „die Wahnsinnige“. Manche Storys wiederum lesen sich wie fiktionalisierte Erinnerungen an Affären und Partnerschaften mit Almodóvars Alter Egos.
Da erscheint er einmal fast wie der echte Regisseur, der sich von einem Schauspieler-Lover künstlerisch benutzt und ausgesaugt fühlt; einmal als Frau, die von dem „prachtvollen schlafenden Tier neben mir“ schwärmt, gemeint ist ein jüngerer Liebhaber; einmal aber auch als jetsettende Pornoqueen Patty Diphusa, deren Erfindung in die wilden Jahre der Movida-Zeit fällt und die von Männern erwartet, ihren „drei wichtigsten Körperöffnungen Tribut zu erweisen“. Verglichen mit den Almodóvar-Filmen jener Zeit wirkt aber schon diese Formulierung seltsam umständlich.
Am nächsten meint man dem Regisseur in seiner gegenwärtigen, sehr viel stilleren Inkarnation zu kommen, wenn er schließlich einfach als er selbst schreibt. Da gibt es fünf bewegende Seiten, die am Tag nach dem Tod seiner Mutter entstanden; eine sehr persönliche Hommage an die von ihm geförderte und gefeierte mexikanische Sängerin Chavela Vargas, die „aus Verlassenheit und Trostlosigkeit eine Kathedrale errichtet hat, in der wir alle Raum fanden“.
Und schließlich „Erinnerung an einen leeren Tag“, wo der Ich-Erzähler sich fragt, warum er eigentlich nun einsam ist, warum die Freunde wegbrachen und verschwunden sind, und wo jetzt noch der Stoff für seine Geschichten herkommen soll. Solchen Pessimismus zu vertreiben, dafür ist dieser ein ganzes Leben umspannende Band allerdings perfekt. Die Geschichten werden dem Mann nie ausgehen. Und die Sache mit Dracula und dem Abt müsste ja bitteschön auch noch verfilmt werden.
Eine bunte Mischung aus
Biografischem, Genialem
und wildem Fantasieren
Pedro Almodóvar:
Der letzte Traum.
Erzählungen. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. S. Fischer,
Frankfurt am Main 2024. 224 Seiten, 24 Euro.
Der spanische Filmemacher Pedro Almodóvar. Eine der ersten Geschichte des Bands schrieb er in den Siebzigerjahren heimlich in den Büros des Telefónica-Konzerns, wo er damals arbeitete.
Foto: AFP
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meinem Bett
In den Erzählungen des Regisseurs Pedro Almodóvar begegnet man
sämtlichen Leitmotiven seines Werks:
Pornos, Faschismus und der katholischen Kirche.
VON TOBIAS KNIEBE
Blut quillt plötzlich aus den Wunden der Christusfigur. Der dunkle Graf erhebt sich vom Altar, legt seine Lippen an das Holz und saugt es begierig auf. In seinen Augen leuchtet „die Glut eines erloschenen Feuers“. Und Pater Benito, der die Szene heimlich beobachtet, spürt ein ganz neues Verlangen: die blutig verschmierten Lippen des Grafen zu küssen – und zu werden wie er.
Was für eine gewaltige Filmszene, denkt man in diesem Moment, voll fließender, ja überquellender symbolischer Bezüge. Graf Dracula, der Vampir, hat den Jungfrauen abgeschworen und ist ins Kloster Athos gekommen. Dort sind mystische Blutwunder seine neue Nahrungsquelle, die wörtlich genommene christliche Eucharistie. Was wiederum im fastenden, sich selbst kasteienden Abt von Athos homoerotische Qual entfacht, gipfelnd in vier flehentlich gehauchten Worten: „Macht mich zum Vampir.“
Solche und ähnlich unvergessliche Visionen findet man in „Der letzte Traum“, einem neuen Band mit Erzählungen des spanischen Filmemachers Pedro Almodóvar. Sie reichen vom noch leicht ungelenken, vor Fantasie aber nur so strotzenden Jugendwerk bis hin zur melancholischen, tagebuchartigen Altersreflexion, und gesammelt zeigen sie einen Mann, der sich auch in seinen Filmen immer schon offenbart und entblößt hat. Vieles erkennt man wieder – aber vieles ist auch ganz neu.
Neu ist zum Beispiel Almodóvar, der Schöpfer von aufwendigen Fantasy-Epen, die verfilmt jede Menge Spezialeffekte brauchen würden. Als Regisseur gibt es ihn in dieser Ausprägung nicht, wohl aber, wie man jetzt merkt, als Autor.
Glaubt man etwa Almodóvars einordnenden Vorwort, hat er etwa seine Dracula-Fantasie auf dem Berg Athos schon in den frühen Siebzigerjahren geschrieben, heimlich nachts in den Büros des Telefónica-Konzerns, wo er zu jener Zeit angestellt war. Hätte er damals schon die nötigen Mittel gehabt, schreibt er, wäre, wer weiß?, aus der Kurzgeschichte „Die Spiegelzeremonie“ womöglich sein Regiedebüt geworden.
Es kam anders, und es ist auch gut, dass es anders kam. Weil an die Millionen nicht zu denken war, die zur Entfesselung solcher Visionen nötig gewesen wären, begann Almodóvar mit seinen Freunden aus dem queeren Underground der Madrider Movida kleine Filme wie „Labyrinth der Leidenschaften“ zu drehen, viel unaufwendiger und näher dran an seinem eigenen Leben. So wurde er eine entscheidende Stimme seiner Generation, gab einer wilden Epoche der spanischen Geschichte ihre filmische Gestalt und rückte erst im Lauf einer langen und fruchtbaren Karriere näher an die zeitlosen Mythen der Film- und Literaturgeschichte heran.
Das Buch zu lesen ist deshalb auch wie ein Spiel mit dem Titel „Was wäre, wenn“. Da erinnert Almodóvar sich an sich selbst als 17- oder 18-Jährigen mit schriftstellerischen Ambitionen, der im Hof des Elternhauses in Madrigalejo in der Extremadura auf eine Olivetti-Schreibmaschine hackt, „unter einem Dach aus wildem Wein, neben mir ein gehäutetes Kaninchen an einem Strick baumelnd“.
So entstand die Geschichte „Leben und Tod von Miguel“, die folgendermaßen beginnt: „Ein paar Familienangehörige und künftige Freunde wohnen Miguels Geburt bei, alle beobachten aufmerksam den Totengräber, der ohne Hast seiner Arbeit nachgeht. In den Mienen seiner Nächsten sind die natürliche Resignation und der Schmerz zu lesen, den solch ein trauriges Ereignis mit sich bringt. Miguel, alle kennen seinen Namen, wird unter tragischen Umständen zur Welt kommen.“
Die ziemlich jugendlich unerschrockene Idee ist es, ein Leben komplett in umgekehrter Reihenfolge zu erzählen – die Geburt ist die Exhumierung des Sarges. Anschließend liegt der Neugeborene ein paar Stunden als sehr erwachsene Leiche herum, dann beginnt seine Schusswunde zu bluten, magisch gesteuert tragen ihn die Helfer zu dem Ort, an dem er erschossen wurde, dort erwacht er schließlich, seine Wunde ist verschwunden und ein Leben beginnt, in dem allerdings alles schon vorgezeichnet ist. Auch das wäre ein faszinierender Film. „Jahrzehnte später hatte ich das Gefühl, dass Benjamin Button mir die Idee geklaut hat“, schreibt Almodóvar und klingt reumütig.
Ebenfalls in jungen Jahren entstand „Der Besuch“, eine Konfrontationsfantasie, in dem ein von Salesianer-Patern missbrauchter Schüler als Erwachsener in Frauenkleidern in das Internat seiner Qualen zurückkehrt und den Direktor zur Rede stellt. Erst Jahrzehnte später hat Almodóvar diese autobiografischen Schrecken in seinem Film „Schlechte Erziehung“ thematisiert und jene Traumata öffentlich gemacht, die er heute die „düstereren Zonen meiner späteren Kindheit“ nennt.
So mischt sich Biografisches, skizzenhaft Genialisches und wildes Herumfantasieren hier zu einer bunten Mischung. Nicht nur wird ein geläuterter Dracula ins Kloster geschickt; Christus verliebt sich in der Nacht vor der Kreuzigung in seinen Zellengenossen, den Verbrecher Barabbas; und auch Dornröschen lebt hier wieder auf und wird samt ihrem Wachküsser-Prinzen ohne Umschweife in die spanische Königsfolge integriert, als Juana I. von Kastilien, genannt „die Wahnsinnige“. Manche Storys wiederum lesen sich wie fiktionalisierte Erinnerungen an Affären und Partnerschaften mit Almodóvars Alter Egos.
Da erscheint er einmal fast wie der echte Regisseur, der sich von einem Schauspieler-Lover künstlerisch benutzt und ausgesaugt fühlt; einmal als Frau, die von dem „prachtvollen schlafenden Tier neben mir“ schwärmt, gemeint ist ein jüngerer Liebhaber; einmal aber auch als jetsettende Pornoqueen Patty Diphusa, deren Erfindung in die wilden Jahre der Movida-Zeit fällt und die von Männern erwartet, ihren „drei wichtigsten Körperöffnungen Tribut zu erweisen“. Verglichen mit den Almodóvar-Filmen jener Zeit wirkt aber schon diese Formulierung seltsam umständlich.
Am nächsten meint man dem Regisseur in seiner gegenwärtigen, sehr viel stilleren Inkarnation zu kommen, wenn er schließlich einfach als er selbst schreibt. Da gibt es fünf bewegende Seiten, die am Tag nach dem Tod seiner Mutter entstanden; eine sehr persönliche Hommage an die von ihm geförderte und gefeierte mexikanische Sängerin Chavela Vargas, die „aus Verlassenheit und Trostlosigkeit eine Kathedrale errichtet hat, in der wir alle Raum fanden“.
Und schließlich „Erinnerung an einen leeren Tag“, wo der Ich-Erzähler sich fragt, warum er eigentlich nun einsam ist, warum die Freunde wegbrachen und verschwunden sind, und wo jetzt noch der Stoff für seine Geschichten herkommen soll. Solchen Pessimismus zu vertreiben, dafür ist dieser ein ganzes Leben umspannende Band allerdings perfekt. Die Geschichten werden dem Mann nie ausgehen. Und die Sache mit Dracula und dem Abt müsste ja bitteschön auch noch verfilmt werden.
Eine bunte Mischung aus
Biografischem, Genialem
und wildem Fantasieren
Pedro Almodóvar:
Der letzte Traum.
Erzählungen. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. S. Fischer,
Frankfurt am Main 2024. 224 Seiten, 24 Euro.
Der spanische Filmemacher Pedro Almodóvar. Eine der ersten Geschichte des Bands schrieb er in den Siebzigerjahren heimlich in den Büros des Telefónica-Konzerns, wo er damals arbeitete.
Foto: AFP
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[...] eine eindrucksvolle Lektion über den Mut gegen Konventionen zu verstoßen. Christel Wester WDR3 Gutenbergs Welt 20240824