Hat der Liberalismus noch eine Zukunft?
Die Demokratien stecken weltweit in der Krise. Militärischen Drohgebärden und der Spaltung der Gesellschaft haben sie scheinbar nichts entgegenzusetzen. Francis Fukuyama unterzieht unser System einem Stresstest: Sind die Prinzipien des Liberalismus als Grundlage unseres Handelns noch zeitgemäß?
Corona-Einschränkungen, Hetze und Falschinformationen in den sozialen Medien, die aggressive Politik von Russland und China, populistische Führer im Westen: Der westliche Liberalismus erscheint heutzutage schwach und nicht in der Lage, unsere drängenden Probleme zu lösen. Dass er Menschen- und Bürgerrechte nicht ohne langwierige Prozesse einschränken mag, scheint heutzutage ein Nachteil zu sein.
Man könne nicht alle Menschen gleich behandeln, heißt es dieser Tage von links wie von rechts, allerdings mit unterschiedichen Vorzeichen. Francis Fukuyama untersucht in seinem so kurzen wie prägnanten Buch, welche Werte ein echter Liberalismus vertreten muss, inwiefern der Neoliberalismus seinem Ansehen geschadet hat, und wie wir auf die Herausforderungen der Gegenwart antworten müssen, wenn wir unsere Freiheit nicht verlieren wollen.
Die Demokratien stecken weltweit in der Krise. Militärischen Drohgebärden und der Spaltung der Gesellschaft haben sie scheinbar nichts entgegenzusetzen. Francis Fukuyama unterzieht unser System einem Stresstest: Sind die Prinzipien des Liberalismus als Grundlage unseres Handelns noch zeitgemäß?
Corona-Einschränkungen, Hetze und Falschinformationen in den sozialen Medien, die aggressive Politik von Russland und China, populistische Führer im Westen: Der westliche Liberalismus erscheint heutzutage schwach und nicht in der Lage, unsere drängenden Probleme zu lösen. Dass er Menschen- und Bürgerrechte nicht ohne langwierige Prozesse einschränken mag, scheint heutzutage ein Nachteil zu sein.
Man könne nicht alle Menschen gleich behandeln, heißt es dieser Tage von links wie von rechts, allerdings mit unterschiedichen Vorzeichen. Francis Fukuyama untersucht in seinem so kurzen wie prägnanten Buch, welche Werte ein echter Liberalismus vertreten muss, inwiefern der Neoliberalismus seinem Ansehen geschadet hat, und wie wir auf die Herausforderungen der Gegenwart antworten müssen, wenn wir unsere Freiheit nicht verlieren wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2022Sollte der Liberalismus denn Probleme haben?
Schlafwandlerisch: Francis Fukuyama kehrt zu seinem alten Thema zurück und hat dabei kaum Neues zu sagen
Was tut der Intellektuelle, der durch eine These weltberühmt wurde, die sich anschließend als spektakulär falsch erwiesen hat? Natürlich schreibt er weiter. Francis Fukuyama gewann im Alter von vierzig Jahren für seine Vermutung Weltruhm, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ende der globale politische Konflikt und damit die Geschichte. Natürlich gefiel diese These dem amerikanischen Publikum, aber auch Franzosen und Deutsche konnten sich an ihr erfreuen, verhalf er damit doch einer kontinentaleuropäischen Form der Geschichtsphilosophie zu ihrem zeitgenössischen Recht. In zwei berühmten Fußnoten seines Hegel-Kommentars hatte Alexandre Kojève als Erster die Formulierung vom "Ende der Geschichte" verwendet, freilich ironisch gebrochen. Der Aufsatz, aus dem Fukuyamas gleichnamiges Buch 1992 hervorging, war bereits im Sommer 1989, vor dem Fall der Mauer also, in einer Zeitschrift veröffentlicht worden. Für einen kurzen Moment schien die Philosophie der Freiheit ihre prophetische Kraft beweisen zu können. Seine Behauptung der liberalen westlichen Demokratie als "final form of human government" wurde plausibel.
Doch schon bald wurde klar, dass es damit nichts würde. Fukuyama schrieb weitere Bücher, zur Geschichte der politischen Ordnung, zum Ende der menschlichen Natur oder zur Kritik der Identitätspolitik, deren Erfolg sich aber dem andauernden Ruhm dieses einen Buches verdanken dürfte. Folgerichtig steht auch unter dem Titel seines neuesten Werks das Versprechen des alten: "Vom Autor von 'Das Ende der Geschichte'." Wenn er nun wieder direkt zum Thema der Zukunft der liberalen Ordnung zurückkehrt, so hätte man auch eine Auseinandersetzung mit dem Schicksal der eigenen These erwartet, die Fukuyama in Interviews immer mal wieder, aber offenbar nie so recht systematisch angegangen ist. Dass diese Auseinandersetzung unterbleibt. Dass das alte Buch noch nicht einmal im Literaturverzeichnis erscheint, ist nicht die einzige Enttäuschung, die das neue bereitet.
Fukuyama versucht sich an einer Apologie des "klassischen Liberalismus", der sich in seiner Lesart vor allem durch den Schutz individueller Rechte, eine handlungsfähige Staatsgewalt und einen Primat dezentraler Politik auszeichnet. Die Krise des zeitgenössischen Liberalismus ist für Fukuyama namentlich durch den Neoliberalismus verursacht, von dem er sich pflichtschuldig distanziert. Das Problem liegt aber nicht an liberalen Modellen, sondern daran, wie diese von Ökonomen und Marktverehrern "ins Extrem" oder "auf die Spitze getrieben" wurden. Beide Formulierungen finden sich in dem - von Karlheinz Dürr vorzüglich übersetzten - Buch immer wieder, und sie beschreiben eigentlich schon dessen ganze Theorie. Fukuyama liefert nicht mehr als ein schlichtes Modell liberaler Mäßigung, in dem die als richtig erkannten Grundsätze nur richtig angewandt werden müssten, um sich durchzusetzen.
Nach diesem Schema werden im Buch auch andere Herausforderungen des und Kritiken am Liberalismus beschrieben und entschärft: gruppenbezogene Identitätspolitiken aller Art, die Philosophie von John Rawls - dem Fukuyama vorwirft, sich zu wenig für individuelles Verdienst zu interessieren und mit seinem Konzept von Neutralität den Liberalismus wehrlos zu machen - oder die post-koloniale Kritik, für deren Abfertigung er gerade einmal eine Dreiviertelseite braucht.
Diese Antikritiken werden durchgehend lustlos und schnell vorgetragen, ohne Sinn dafür, den Gegner stark zu machen, mit mitunter unsinnigen Formulierungen ("Die Selfcare- und Wellness-Trends sind einfach nur moderne Manifestationen der Rousseauschen Version vom 'Reichtum' des innerem Selbst.") und mit manifesten historischen Fehlern, etwa wenn Fukuyama Liberalismus und Nationalismus im neunzehnten Jahrhundert als politische Antipoden darstellt.
So wird bei der Lektüre des Buches auch langsam klar, warum Fukuyama sein berühmtes Vorgängerwerk nicht noch einmal kritisch würdigt. Es hat sich für ihn noch nicht erledigt. Fukuyama glaubt weiterhin an den Sieg der liberalen Weltordnung. Das zeigte sich zuletzt auch in schnellen und optimistischen Interviewäußerungen zu Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine: Mit diesem komme nicht nur Putin an ein Ende, auch die europäischen Autokraten und Autoritären würden an Einfluss verlieren. Namentlich erwähnte er Matteo Salvini, der Ende September zwar mit seiner Partei bei den italienischen Parlamentswahlen Stimmen verlor, aber nunmehr mit einer gewiss wenig liberalen Mehrheit wieder in die Regierung eintritt. Fukuyama kann es nicht lassen.
Natürlich gibt es nach wie vor gute Gründe, an den Bestand liberal-demokratischer Ordnungen zu glauben, auch wenn sich diese heute vor allem aus der Instabilität der autoritären Alternativen ergeben. Das Problem von Fukuyamas Ansatz liegt dann auch weniger in seinen Ausblicken als im fehlenden Interesse an den politischen und theoretischen Herausforderungen, die sich liberalen Modellen entgegenstellen. Beispielhaft: Weder spielt das Phänomen sozialer Ungleichheit in diesem Buch eine nennenswerte Rolle, noch macht sein Autor irgendwelche Anstalten, die von ihm irreführenderweise als "klassisch" bezeichnete Variante des Liberalismus weiterzuentwickeln oder auch nur Theorien zur Kenntnis zu nehmen, die sich einer solchen Weiterentwicklung verschreiben.
Das mag auch an der dezidiert angelsächsischen Provinzialität des ganzen Projekts liegen. Dass liberale Traditionen außerhalb der angelsächsischen Welt hier völlig fehlen, selbst wenn sie zum Mainstream gehören - wie die aus Frankreich, dem eigentlichen Mutterland des Liberalismus - und auch englischsprachig gut aufgearbeitet sind, war bei einem Autor zu befürchten, der den aus der katholischen Soziallehre kommenden Begriff der Subsidiarität für "EU-Speak" hält.
Bezeichnenderweise sind die paar Nichtangelsachsen, die im Literaturverzeichnis auftauchen, allesamt Antiliberale: Fanon, Foucault, Marcuse, Schmitt. Fataler für den eigenen Anspruch ist, dass auch neuere Helden des amerikanischen liberalen Denkens wie John Dewey oder Judith Shklar fehlen. Beide hätten sich über die umstandslose Gleichsetzung von Liberalismus mit Individualrechtsschutz gewundert. Beide wussten, dass liberale Ideen - nach der Weltwirtschaftskrise bei Dewey, nach der Erfahrung des Totalitarismus bei Shklar - nicht mehr so umstandslos fortgeschrieben werden können. Fukuyamas Desinteresse an ihnen wirkt angesichts der krisengeschüttelten Gegenwart nachgerade schlafwandlerisch. Sein Buch ist von geradezu brutaler Pointenfreiheit und zeugt von einem erschreckenden Mangel an Neugierde. Ohne sich weiterzuentwickeln, wird es für den Liberalismus nicht reichen. Nur mit Fukuyama gewappnet, dürfte das Ende des Liberalismus dem Ende der Geschichte zuvorkommen. CHRISTOPH MÖLLERS
Francis Fukuyama: "Der Liberalismus und seine Feinde".
Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2022. 224 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schlafwandlerisch: Francis Fukuyama kehrt zu seinem alten Thema zurück und hat dabei kaum Neues zu sagen
Was tut der Intellektuelle, der durch eine These weltberühmt wurde, die sich anschließend als spektakulär falsch erwiesen hat? Natürlich schreibt er weiter. Francis Fukuyama gewann im Alter von vierzig Jahren für seine Vermutung Weltruhm, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ende der globale politische Konflikt und damit die Geschichte. Natürlich gefiel diese These dem amerikanischen Publikum, aber auch Franzosen und Deutsche konnten sich an ihr erfreuen, verhalf er damit doch einer kontinentaleuropäischen Form der Geschichtsphilosophie zu ihrem zeitgenössischen Recht. In zwei berühmten Fußnoten seines Hegel-Kommentars hatte Alexandre Kojève als Erster die Formulierung vom "Ende der Geschichte" verwendet, freilich ironisch gebrochen. Der Aufsatz, aus dem Fukuyamas gleichnamiges Buch 1992 hervorging, war bereits im Sommer 1989, vor dem Fall der Mauer also, in einer Zeitschrift veröffentlicht worden. Für einen kurzen Moment schien die Philosophie der Freiheit ihre prophetische Kraft beweisen zu können. Seine Behauptung der liberalen westlichen Demokratie als "final form of human government" wurde plausibel.
Doch schon bald wurde klar, dass es damit nichts würde. Fukuyama schrieb weitere Bücher, zur Geschichte der politischen Ordnung, zum Ende der menschlichen Natur oder zur Kritik der Identitätspolitik, deren Erfolg sich aber dem andauernden Ruhm dieses einen Buches verdanken dürfte. Folgerichtig steht auch unter dem Titel seines neuesten Werks das Versprechen des alten: "Vom Autor von 'Das Ende der Geschichte'." Wenn er nun wieder direkt zum Thema der Zukunft der liberalen Ordnung zurückkehrt, so hätte man auch eine Auseinandersetzung mit dem Schicksal der eigenen These erwartet, die Fukuyama in Interviews immer mal wieder, aber offenbar nie so recht systematisch angegangen ist. Dass diese Auseinandersetzung unterbleibt. Dass das alte Buch noch nicht einmal im Literaturverzeichnis erscheint, ist nicht die einzige Enttäuschung, die das neue bereitet.
Fukuyama versucht sich an einer Apologie des "klassischen Liberalismus", der sich in seiner Lesart vor allem durch den Schutz individueller Rechte, eine handlungsfähige Staatsgewalt und einen Primat dezentraler Politik auszeichnet. Die Krise des zeitgenössischen Liberalismus ist für Fukuyama namentlich durch den Neoliberalismus verursacht, von dem er sich pflichtschuldig distanziert. Das Problem liegt aber nicht an liberalen Modellen, sondern daran, wie diese von Ökonomen und Marktverehrern "ins Extrem" oder "auf die Spitze getrieben" wurden. Beide Formulierungen finden sich in dem - von Karlheinz Dürr vorzüglich übersetzten - Buch immer wieder, und sie beschreiben eigentlich schon dessen ganze Theorie. Fukuyama liefert nicht mehr als ein schlichtes Modell liberaler Mäßigung, in dem die als richtig erkannten Grundsätze nur richtig angewandt werden müssten, um sich durchzusetzen.
Nach diesem Schema werden im Buch auch andere Herausforderungen des und Kritiken am Liberalismus beschrieben und entschärft: gruppenbezogene Identitätspolitiken aller Art, die Philosophie von John Rawls - dem Fukuyama vorwirft, sich zu wenig für individuelles Verdienst zu interessieren und mit seinem Konzept von Neutralität den Liberalismus wehrlos zu machen - oder die post-koloniale Kritik, für deren Abfertigung er gerade einmal eine Dreiviertelseite braucht.
Diese Antikritiken werden durchgehend lustlos und schnell vorgetragen, ohne Sinn dafür, den Gegner stark zu machen, mit mitunter unsinnigen Formulierungen ("Die Selfcare- und Wellness-Trends sind einfach nur moderne Manifestationen der Rousseauschen Version vom 'Reichtum' des innerem Selbst.") und mit manifesten historischen Fehlern, etwa wenn Fukuyama Liberalismus und Nationalismus im neunzehnten Jahrhundert als politische Antipoden darstellt.
So wird bei der Lektüre des Buches auch langsam klar, warum Fukuyama sein berühmtes Vorgängerwerk nicht noch einmal kritisch würdigt. Es hat sich für ihn noch nicht erledigt. Fukuyama glaubt weiterhin an den Sieg der liberalen Weltordnung. Das zeigte sich zuletzt auch in schnellen und optimistischen Interviewäußerungen zu Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine: Mit diesem komme nicht nur Putin an ein Ende, auch die europäischen Autokraten und Autoritären würden an Einfluss verlieren. Namentlich erwähnte er Matteo Salvini, der Ende September zwar mit seiner Partei bei den italienischen Parlamentswahlen Stimmen verlor, aber nunmehr mit einer gewiss wenig liberalen Mehrheit wieder in die Regierung eintritt. Fukuyama kann es nicht lassen.
Natürlich gibt es nach wie vor gute Gründe, an den Bestand liberal-demokratischer Ordnungen zu glauben, auch wenn sich diese heute vor allem aus der Instabilität der autoritären Alternativen ergeben. Das Problem von Fukuyamas Ansatz liegt dann auch weniger in seinen Ausblicken als im fehlenden Interesse an den politischen und theoretischen Herausforderungen, die sich liberalen Modellen entgegenstellen. Beispielhaft: Weder spielt das Phänomen sozialer Ungleichheit in diesem Buch eine nennenswerte Rolle, noch macht sein Autor irgendwelche Anstalten, die von ihm irreführenderweise als "klassisch" bezeichnete Variante des Liberalismus weiterzuentwickeln oder auch nur Theorien zur Kenntnis zu nehmen, die sich einer solchen Weiterentwicklung verschreiben.
Das mag auch an der dezidiert angelsächsischen Provinzialität des ganzen Projekts liegen. Dass liberale Traditionen außerhalb der angelsächsischen Welt hier völlig fehlen, selbst wenn sie zum Mainstream gehören - wie die aus Frankreich, dem eigentlichen Mutterland des Liberalismus - und auch englischsprachig gut aufgearbeitet sind, war bei einem Autor zu befürchten, der den aus der katholischen Soziallehre kommenden Begriff der Subsidiarität für "EU-Speak" hält.
Bezeichnenderweise sind die paar Nichtangelsachsen, die im Literaturverzeichnis auftauchen, allesamt Antiliberale: Fanon, Foucault, Marcuse, Schmitt. Fataler für den eigenen Anspruch ist, dass auch neuere Helden des amerikanischen liberalen Denkens wie John Dewey oder Judith Shklar fehlen. Beide hätten sich über die umstandslose Gleichsetzung von Liberalismus mit Individualrechtsschutz gewundert. Beide wussten, dass liberale Ideen - nach der Weltwirtschaftskrise bei Dewey, nach der Erfahrung des Totalitarismus bei Shklar - nicht mehr so umstandslos fortgeschrieben werden können. Fukuyamas Desinteresse an ihnen wirkt angesichts der krisengeschüttelten Gegenwart nachgerade schlafwandlerisch. Sein Buch ist von geradezu brutaler Pointenfreiheit und zeugt von einem erschreckenden Mangel an Neugierde. Ohne sich weiterzuentwickeln, wird es für den Liberalismus nicht reichen. Nur mit Fukuyama gewappnet, dürfte das Ende des Liberalismus dem Ende der Geschichte zuvorkommen. CHRISTOPH MÖLLERS
Francis Fukuyama: "Der Liberalismus und seine Feinde".
Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2022. 224 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Die Zahl der Menschen, die in einer Demokratie leben, sinkt. Umso drängender tritt Francis Fukuyama in seinem Plädoyer für den Liberalismus auf, schreibt Rezensentin Nina Apin, die dies allerdings überhaupt nicht überzeugt: Dass nur freier Handel Wohlstand hervorbringe, sieht die Kritikern unter Verweis auf Chinas Aufstieg schon widerlegt. Im wesentlichen wiederhole Fukuyama lediglich seine nach dem Ende des Ostblocks verfasste und seitdem schwer gescholtene These vom "Ende der Geschichte". Immerhin ist auch Fukuyama nicht immer ganz begeistert: Den Neoliberalismus hält auch er für eine Fehlentwicklung, die dem nach seiner Ansicht mit dem Sozialstaatswesen problemlos vereinbaren Liberalismus viele Sympathien gekostet habe. Für Apin geht diese Kritik allerdings nicht weit genug. Für sie scheitert der Autor an einer Erklärung dafür, warum selbst mustergültige liberale Demokratien wie Schweden zuletzt vom Gespenst des Rechtspopulismus heimgesucht wurden. Auch dass Fukuyama progressiven gesellschaftspolitischen Bewegungen eine Absage erteilt und am Ende den Liberalismus nur durch die Flucht in "abstrakte Prinzpien" verteidigen kann, enttäuscht die Kritikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.10.2022Das andere Ende
der Geschichte
Sogar Fukuyama zweifelt an der Universalität des
Liberalismus. Oder missversteht er sie nur?
Es ist längst ein Gemeinplatz, Francis Fukuyamas berühmte These vom „Ende der Geschichte“ für widerlegt zu halten. Als 1989/90 der Eiserne Vorhang fiel, sah der amerikanische Politikwissenschaftler die Auflösung jeder systematischen Alternative zum westlichen Liberalismus gekommen und damit auch die Universalisierung der liberalen Demokratie als endgültige Regierungsform der Menschheit auf Erden vorherbestimmt.
Danach kam allerdings noch der 11. September. Die Irak-Invasion und Guantanamo. Eine populistische Welle infolge der Finanzkrise von 2007/08, die schließlich Donald Trump ins Weiße Haus spülte. Und viele Debatten über andere autoritäre Gefahren, von der „Cancel Culture“ bis zum Aufstieg von Russland und China. Ist angesichts dessen nicht seinerseits das „Ende der Geschichte“ unweigerlich vorüber?
Fukuyama jedenfalls ist schon defensiver geworden: Im Interview mit der SZ bemerkte er jüngst, dass „der Liberalismus (…) sicher nicht universell“ sei, weil er „offensichtlich (…) ja nicht überall auf der Welt angenommen“ wurde. Und doch liefert sein neues Buch „Der Liberalismus und seine Feinde“ Anhaltspunkte, um gerade heute die Universalität des Liberalismus fortbestehen zu sehen. Nur anders, als Fukuyama sie sich einst vorgestellt hat.
Was aber – das will zunächst geklärt sein – versteht Fukuyama unter Liberalismus? Ist er eine Ideologie, eine Staatsform, ein weltumspannendes Herrschaftssystem oder doch nur die FDP? Letztlich gibt Fukuyama eine Antwort, die schon viele Liberale vor ihm gegeben haben, und setzt den Liberalismus mit einer Reihe von Prinzipien gleich, vor allem mit der Freiheit, gleichen individuellen Rechten und Rechtsstaatlichkeit, die vielleicht nicht auf der gesamten Welt gelten, aber doch einen universalistischen Anspruch haben. Dieses Manöver erlaubt es ihm, eine lange Geschichte des Liberalismus als Geschichte der Einhegung zwischenmenschlicher Gewalt und staatlicher Herrschaft zu konstruieren, die vor die Bildung des Begriffs im frühen 19. Jahrhundert zurückreicht.
Und wer sind die Feinde des Liberalismus? Auch wenn zu seiner Begriffsgeschichte von Anfang an die antagonistische Abgrenzung vom Illiberalen – von Royalismus, Despotismus, Totalitarismus oder Autoritarismus – gehört, spricht Fukuyama selbst nie von Feinden. Der Titel der deutschen Ausgabe mag also schmissig sein. Er ist aber irreführend. Denn das zentrale Argument Fukuyamas lautet, dass die rechten Populisten wie die linken Progressiven der Gegenwart nicht mit der liberalen Doktrin grundsätzlich unzufrieden seien, sondern damit, wie „sich der Liberalismus im Verlauf der letzten Generationen veränderte“. Wenngleich Fukuyama in ihren extremen Ausprägungen „illiberale Alternativen“ erkennt, versucht er ihre Entstehung doch aus dem Liberalismus selbst heraus zu erklären.
Damit folgt Fukuyama einer argumentativen Choreografie, die sich seit Mitte der 1870er für Diagnosen einer „Krise des Liberalismus“ eingebürgert hat. Nachdem damals viele, Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ nicht unähnlich, den Liberalismus in den europäischen Ländern als universellen Fortschrittstrend hatten triumphieren sehen, kam es zu einer globalen Wirtschaftskrise – und die daraus erwachsende politische Dynamik versuchten die Liberalen, gemäß ihren universalistischen Ambitionen, als immanente Dynamiken des Liberalismus zu erfassen.
Im deutschen Kaiserreich etwa machte Eugen Richter 1874 eine Gegenbewegung gegen die freiheitliche Wirtschaftsgesetzgebung der Einigungsjahre aus – mit einem anderen Liberalen, Eduard Lasker, an der Spitze. In Belgien sprach der Ökonom Émile de Laveleye 1888 von einer „Krise des Liberalismus“, weil sich eine radikale Fraktion, in Verkennung der Tatsache, dass sich die westliche Welt inzwischen in einer Periode des Rücktritts befände, von der liberalen Partei abzuspalten und damit den katholischen Gegner zu stärken drohte. Für den französischen Soziologen Célestine Bouglé bestand die „Krise des Liberalismus“ 1901 darin, dass sich selbst Radikale und Klerikale zu Verteidigern der Meinungsfreiheit stilisierten, während allenthalben Debatten über notwendige Einschränkungen liberaler Freiheiten geführt werden mussten, weil ihre konfliktive Ausübung tatsächlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterminierte.
Für unsere Gegenwart bietet Fukuyama eine Variante dieser Diagnose: Seit den späten Siebzigern hätten sich zwei Extremformen des Liberalismus entwickelt, die die individuelle Autonomie verabsolutierten – als wirtschaftliche Freiheit der Neoliberalismus, mit desaströsen sozialen Folgen, und als moralische Selbstbestimmung die Identitätspolitik, die hitzige Kulturkämpfe provozierte. Als Reaktion darauf hätten dann die rechten Populisten und die linken Progressiven der Gegenwart ihren Aufstieg erlebt. Inwiefern diese dann „illiberale Alternativen“ darstellen, bleibt zumindest am Beispiel der Progressiven unklar.
Statt sie als Teilnehmer der Debatte um die Grenzen der Meinungsfreiheit anzuerkennen, stempelt Fukuyama sie als Debattenunterdrücker ab (ohne „Cancel Culture“ zu sagen). Vor allem widmet er sich aber einer tendenziösen Darstellung ihrer vermeintlichen Vordenker. Nicht konsequent zur Kenntnis nimmt er dabei, dass die Kritik des jamaikanischen Philosophen Charles W. Mills an der rassistischen Grundierung des Liberalismus auf die Einlösung seiner universalistischen Ansprüche hinauslief. Und Michel Foucault präsentiert er gleich als latenten Verschwörungstheoretiker, der nicht nur die Linke Misstrauen gegenüber der Wissenschaft und ein Verständnis von Sprache als Machtinstrument gelehrt habe, sondern auch noch die neue Rechte.
Man kann Fukuyama also in diesem Buch dabei zusehen, wie er von der Höhe geschichtsphilosophischer Spekulationen in die unübersichtlichen Auseinandersetzungen der Gegenwart gerät. Doch statt durch deren genaue Anschauung wieder zu analytischer Distanz zu gelangen, macht er sich zu oft einzelne Polemiken zu eigen. Und auch wenn man ihm zugutehalten kann, einen erweiterten Liberalismusbegriff zu vertreten, der auch die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe anerkennt, erlaubt ihm dessen Identifizierung mit vagen Prinzipien die doch stark angreifbare Behauptung, der Rassismus, der Kolonialismus und die patriarchalen Machtverhältnisse liberaler Gesellschaften seien keine notwendigen Phänomene, weil sie ja keine Wesenszüge der liberalen Doktrin seien.
Während Fukuyama den inneren Konflikten des Westens sein Hauptaugenmerk widmet und zu allseitiger Mäßigung aufruft, weil er nur so im Wettbewerb mit den autoritären Systemen in China und Russland bestehen könne, ist über jene Systeme im Buch wenig Detailliertes zu lesen (eswurde vor dem Ukraine-Krieg fertiggestellt). Was aber ist etwa aus Russland zum Thema zu hören? In seinen Kriegsreden hält Putin dem Westen nicht nur die Meinungsfreiheit vor, wenn er dessen Weltbeherrschungsprogramm als „totalitären Liberalismus“ beschreibt, der Sprechverbote erteile. Er traktiert ihn auch mit einer Mischung aus progressiver Kritik („rassistisch“, „kolonialistisch“) und rechter Anti-Gender-Rhetorik. Der bei einem Attentat nur knapp dem Tode entronnene russische Hetzer Aleksandr Dugin wiederum wollte in seinem Alt-Right-Klassiker „The Great Awakening vs. The Great Reset“ einer antiliberalen Theoriebildung den Weg weisen, aber trieb dafür Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ noch weiter – selbst die rechten Populisten im Westen seien als Verteidiger von Meinungsfreiheit und Kapitalismus Liberale, während China und Russland noch immer keine ideologische Alternative zu bieten hätten.
Wenn aber selbst die schärfste Abgrenzung vom Liberalismus diesen zum zentralen Schauplatz der Auseinandersetzung macht und wir offenkundig der Entstehung einer integrierten Weltöffentlichkeit beiwohnen, in der überall dieselben Kritikformen zirkulieren, dann muss vielleicht Fukuyamas Lesart von dem Liberalismus immanenten Konfliktlagen wirklich nur ausgeweitet werden. Seine Prinzipien sind weiterhin eigentümlich universell, weil sie von allen Seiten – auch von Querdenkern oder Putin – für Zwecke zum Einsatz gebracht werden, die andere mit guten Gründen für illiberal halten können.
Stets in der Krise, ist die Form des Liberalismus die Debatte über Grenzen und (unzulässige oder notwendige) Einschränkungen von Freiheiten, die sich Rechten wie Linken aufzwingt. Und auch wenn das Geschehen genauso strategisch wie widersprüchlich ist, geht mit ihm stets die Möglichkeit einher, dass den Prinzipien des Liberalismus überall auf der Welt neues Leben eingehaucht wird. Deswegen bleibt es aber auch eine offene Frage, ob auf Grundlage dieser Prinzipien der Kollaps der Welt betrieben wird – oder er sich mit ihnen noch verhindern lässt.
GEORG SIMMERL
Seit den späten Siebzigern
gibt es zwei Extremformen
des Liberalismus
Putin traktiert den Westen mit
progressiver Kritik und
rechter Anti-Gender-Rhetorik
Francis Fukuyama lehrt Politik an der Stanford University.Foto: imago
Francis Fukuyama:
Der Liberalismus
und seine Feinde.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2022.
224 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Geschichte
Sogar Fukuyama zweifelt an der Universalität des
Liberalismus. Oder missversteht er sie nur?
Es ist längst ein Gemeinplatz, Francis Fukuyamas berühmte These vom „Ende der Geschichte“ für widerlegt zu halten. Als 1989/90 der Eiserne Vorhang fiel, sah der amerikanische Politikwissenschaftler die Auflösung jeder systematischen Alternative zum westlichen Liberalismus gekommen und damit auch die Universalisierung der liberalen Demokratie als endgültige Regierungsform der Menschheit auf Erden vorherbestimmt.
Danach kam allerdings noch der 11. September. Die Irak-Invasion und Guantanamo. Eine populistische Welle infolge der Finanzkrise von 2007/08, die schließlich Donald Trump ins Weiße Haus spülte. Und viele Debatten über andere autoritäre Gefahren, von der „Cancel Culture“ bis zum Aufstieg von Russland und China. Ist angesichts dessen nicht seinerseits das „Ende der Geschichte“ unweigerlich vorüber?
Fukuyama jedenfalls ist schon defensiver geworden: Im Interview mit der SZ bemerkte er jüngst, dass „der Liberalismus (…) sicher nicht universell“ sei, weil er „offensichtlich (…) ja nicht überall auf der Welt angenommen“ wurde. Und doch liefert sein neues Buch „Der Liberalismus und seine Feinde“ Anhaltspunkte, um gerade heute die Universalität des Liberalismus fortbestehen zu sehen. Nur anders, als Fukuyama sie sich einst vorgestellt hat.
Was aber – das will zunächst geklärt sein – versteht Fukuyama unter Liberalismus? Ist er eine Ideologie, eine Staatsform, ein weltumspannendes Herrschaftssystem oder doch nur die FDP? Letztlich gibt Fukuyama eine Antwort, die schon viele Liberale vor ihm gegeben haben, und setzt den Liberalismus mit einer Reihe von Prinzipien gleich, vor allem mit der Freiheit, gleichen individuellen Rechten und Rechtsstaatlichkeit, die vielleicht nicht auf der gesamten Welt gelten, aber doch einen universalistischen Anspruch haben. Dieses Manöver erlaubt es ihm, eine lange Geschichte des Liberalismus als Geschichte der Einhegung zwischenmenschlicher Gewalt und staatlicher Herrschaft zu konstruieren, die vor die Bildung des Begriffs im frühen 19. Jahrhundert zurückreicht.
Und wer sind die Feinde des Liberalismus? Auch wenn zu seiner Begriffsgeschichte von Anfang an die antagonistische Abgrenzung vom Illiberalen – von Royalismus, Despotismus, Totalitarismus oder Autoritarismus – gehört, spricht Fukuyama selbst nie von Feinden. Der Titel der deutschen Ausgabe mag also schmissig sein. Er ist aber irreführend. Denn das zentrale Argument Fukuyamas lautet, dass die rechten Populisten wie die linken Progressiven der Gegenwart nicht mit der liberalen Doktrin grundsätzlich unzufrieden seien, sondern damit, wie „sich der Liberalismus im Verlauf der letzten Generationen veränderte“. Wenngleich Fukuyama in ihren extremen Ausprägungen „illiberale Alternativen“ erkennt, versucht er ihre Entstehung doch aus dem Liberalismus selbst heraus zu erklären.
Damit folgt Fukuyama einer argumentativen Choreografie, die sich seit Mitte der 1870er für Diagnosen einer „Krise des Liberalismus“ eingebürgert hat. Nachdem damals viele, Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ nicht unähnlich, den Liberalismus in den europäischen Ländern als universellen Fortschrittstrend hatten triumphieren sehen, kam es zu einer globalen Wirtschaftskrise – und die daraus erwachsende politische Dynamik versuchten die Liberalen, gemäß ihren universalistischen Ambitionen, als immanente Dynamiken des Liberalismus zu erfassen.
Im deutschen Kaiserreich etwa machte Eugen Richter 1874 eine Gegenbewegung gegen die freiheitliche Wirtschaftsgesetzgebung der Einigungsjahre aus – mit einem anderen Liberalen, Eduard Lasker, an der Spitze. In Belgien sprach der Ökonom Émile de Laveleye 1888 von einer „Krise des Liberalismus“, weil sich eine radikale Fraktion, in Verkennung der Tatsache, dass sich die westliche Welt inzwischen in einer Periode des Rücktritts befände, von der liberalen Partei abzuspalten und damit den katholischen Gegner zu stärken drohte. Für den französischen Soziologen Célestine Bouglé bestand die „Krise des Liberalismus“ 1901 darin, dass sich selbst Radikale und Klerikale zu Verteidigern der Meinungsfreiheit stilisierten, während allenthalben Debatten über notwendige Einschränkungen liberaler Freiheiten geführt werden mussten, weil ihre konfliktive Ausübung tatsächlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterminierte.
Für unsere Gegenwart bietet Fukuyama eine Variante dieser Diagnose: Seit den späten Siebzigern hätten sich zwei Extremformen des Liberalismus entwickelt, die die individuelle Autonomie verabsolutierten – als wirtschaftliche Freiheit der Neoliberalismus, mit desaströsen sozialen Folgen, und als moralische Selbstbestimmung die Identitätspolitik, die hitzige Kulturkämpfe provozierte. Als Reaktion darauf hätten dann die rechten Populisten und die linken Progressiven der Gegenwart ihren Aufstieg erlebt. Inwiefern diese dann „illiberale Alternativen“ darstellen, bleibt zumindest am Beispiel der Progressiven unklar.
Statt sie als Teilnehmer der Debatte um die Grenzen der Meinungsfreiheit anzuerkennen, stempelt Fukuyama sie als Debattenunterdrücker ab (ohne „Cancel Culture“ zu sagen). Vor allem widmet er sich aber einer tendenziösen Darstellung ihrer vermeintlichen Vordenker. Nicht konsequent zur Kenntnis nimmt er dabei, dass die Kritik des jamaikanischen Philosophen Charles W. Mills an der rassistischen Grundierung des Liberalismus auf die Einlösung seiner universalistischen Ansprüche hinauslief. Und Michel Foucault präsentiert er gleich als latenten Verschwörungstheoretiker, der nicht nur die Linke Misstrauen gegenüber der Wissenschaft und ein Verständnis von Sprache als Machtinstrument gelehrt habe, sondern auch noch die neue Rechte.
Man kann Fukuyama also in diesem Buch dabei zusehen, wie er von der Höhe geschichtsphilosophischer Spekulationen in die unübersichtlichen Auseinandersetzungen der Gegenwart gerät. Doch statt durch deren genaue Anschauung wieder zu analytischer Distanz zu gelangen, macht er sich zu oft einzelne Polemiken zu eigen. Und auch wenn man ihm zugutehalten kann, einen erweiterten Liberalismusbegriff zu vertreten, der auch die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe anerkennt, erlaubt ihm dessen Identifizierung mit vagen Prinzipien die doch stark angreifbare Behauptung, der Rassismus, der Kolonialismus und die patriarchalen Machtverhältnisse liberaler Gesellschaften seien keine notwendigen Phänomene, weil sie ja keine Wesenszüge der liberalen Doktrin seien.
Während Fukuyama den inneren Konflikten des Westens sein Hauptaugenmerk widmet und zu allseitiger Mäßigung aufruft, weil er nur so im Wettbewerb mit den autoritären Systemen in China und Russland bestehen könne, ist über jene Systeme im Buch wenig Detailliertes zu lesen (eswurde vor dem Ukraine-Krieg fertiggestellt). Was aber ist etwa aus Russland zum Thema zu hören? In seinen Kriegsreden hält Putin dem Westen nicht nur die Meinungsfreiheit vor, wenn er dessen Weltbeherrschungsprogramm als „totalitären Liberalismus“ beschreibt, der Sprechverbote erteile. Er traktiert ihn auch mit einer Mischung aus progressiver Kritik („rassistisch“, „kolonialistisch“) und rechter Anti-Gender-Rhetorik. Der bei einem Attentat nur knapp dem Tode entronnene russische Hetzer Aleksandr Dugin wiederum wollte in seinem Alt-Right-Klassiker „The Great Awakening vs. The Great Reset“ einer antiliberalen Theoriebildung den Weg weisen, aber trieb dafür Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ noch weiter – selbst die rechten Populisten im Westen seien als Verteidiger von Meinungsfreiheit und Kapitalismus Liberale, während China und Russland noch immer keine ideologische Alternative zu bieten hätten.
Wenn aber selbst die schärfste Abgrenzung vom Liberalismus diesen zum zentralen Schauplatz der Auseinandersetzung macht und wir offenkundig der Entstehung einer integrierten Weltöffentlichkeit beiwohnen, in der überall dieselben Kritikformen zirkulieren, dann muss vielleicht Fukuyamas Lesart von dem Liberalismus immanenten Konfliktlagen wirklich nur ausgeweitet werden. Seine Prinzipien sind weiterhin eigentümlich universell, weil sie von allen Seiten – auch von Querdenkern oder Putin – für Zwecke zum Einsatz gebracht werden, die andere mit guten Gründen für illiberal halten können.
Stets in der Krise, ist die Form des Liberalismus die Debatte über Grenzen und (unzulässige oder notwendige) Einschränkungen von Freiheiten, die sich Rechten wie Linken aufzwingt. Und auch wenn das Geschehen genauso strategisch wie widersprüchlich ist, geht mit ihm stets die Möglichkeit einher, dass den Prinzipien des Liberalismus überall auf der Welt neues Leben eingehaucht wird. Deswegen bleibt es aber auch eine offene Frage, ob auf Grundlage dieser Prinzipien der Kollaps der Welt betrieben wird – oder er sich mit ihnen noch verhindern lässt.
GEORG SIMMERL
Seit den späten Siebzigern
gibt es zwei Extremformen
des Liberalismus
Putin traktiert den Westen mit
progressiver Kritik und
rechter Anti-Gender-Rhetorik
Francis Fukuyama lehrt Politik an der Stanford University.Foto: imago
Francis Fukuyama:
Der Liberalismus
und seine Feinde.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2022.
224 Seiten, 25 Euro.
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»Heutzutage schreibt [...] jeder [...] über den Liberalismus und darüber, wie er zu retten sei. Wenn nun aber selbst Francis Fukuyama das tut, muss die Lage wirklich ernst sein.« Lukas Leuzinger NZZ Online 20221101